Hoffnung in Zeiten von Corona
Fast wäre die Nachricht von der positiven Entscheidung der 27 Europaminister der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aufgrund der Fokussierung auf die Corona-Krise untergangen. Seitdem am 8. März die ersten Infektionen in Albanien bekannt wurden, hat die Regierung in schnellen Schritten die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Inzwischen gilt, vorerst bis Anfang April, eine allgemeine Ausgangssperre, die nur für einige Stunden am Tag aufgehoben wird und in denen man Lebensmittel oder Arzneimittel einkaufen darf. Die Land- und Seegrenzen sind geschlossen und auch der Flughafen hat, mit ganz wenigen Ausnahmen, den Personenverkehr eingestellt. Das öffentliche Leben ist zum Erliegen gekommen.
Am Dienstagabend hat die albanische Regierung die Covid-19-Epidemie zudem nach dem Gesetz über zivile Notfälle zu einem nationalen Notfall erklärt – eine Maßnahme die der Oppositionsführer Lulzim Basha von der der EVP zugehörigen Demokratischen Partei (DP) bereits vor mehreren Tagen gefordert hatte. Die Regierung ist nun befugt, außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen, darunter die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Auferlegung von Isolation oder Quarantäne für einzelne Personen oder der gesamten Bevölkerung, Hausdurchsuchungen etc. Die Regierung ist außerdem verpflichtet, alle Einzelpersonen und Unternehmen für Schäden oder Verluste zu entschädigen, die sich aus dieser Katastrophe oder den außerordentlichen Maßnahmen der Regierung zur Bewältigung der Krise ergeben.
In diesen schweren Zeiten wurde die Nachricht von der positiven Entscheidung im Rat für Allgemeine Angelegenheiten (RAA) der EU über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen von allen politischen Akteuren in Albanien dennoch begrüßt. Der Premierminister Edi Rama von der regierenden Sozialistischen Partei (SP) sagte, das Land sei „in eine neue Phase der Geschichte eingetreten“:
„Die [EU-]Tür ist endlich offen in einer verfluchten Zeit, in der die Türen unserer Häuser geschlossen sind. Unsere [EU-]Reise geht weiter, es geht bergauf, und die Arbeit, die wir zu tun haben, ist immer noch gewaltig.“
Auch Staatspräsident Ilir Meta begrüßte die Entscheidung und forderte die Regierung auf, keine Zeit zu verschwenden, um die Bedingungen, so schnell wie möglich umzusetzen:
„Ich begrüße die heutige politische Entscheidung des EU-Ministerrates, welche die europäische Perspektive Albaniens durch die Erteilung der Zustimmung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen klar bestätigte. […] Es sollte keine Minute verschwendet werden, um die Bedingungen vor der Beitrittskonferenz so schnell wie möglich umzusetzen!“.
Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei in Albanien, Lulzim Basha, äußerte sich ebenfalls positiv, wies aber auch auf die Verantwortung der Albaner für die Erfüllung der Bedingungen hin.
„Die EU-Mitgliedstaaten haben heute bewiesen, dass sie Albanien und die Albaner unterstützen, indem sie den Willen zum Ausdruck gebracht haben, die Verhandlungen aufzunehmen. Jetzt liegt es in unserer Hand, alle Bedingungen zu erfüllen. Je früher wir unseren Verpflichtungen nachkommen, desto eher werden wir den Traum der Albaner verwirklichen.“
Widerstände ausgeräumt
Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien, über die bereits seit einigen Jahren diskutiert wird (Albanien ist seit 2014 Beitrittskandidat), war im Oktober 2019 noch am Widerstand zuvorderst Frankreichs, aber auch Dänemarks und der Niederlande gescheitert. Neben einigen innenpolitischen Bedenken über die große Anzahl von albanischen Asylbewerbern in Frankreich, forderte der französische Präsident Emmanuel Macron zunächst eine Reform des Aufnahmeverfahrens neuer EU-Mitglieder. In den Niederlanden waren vor allem die Abgeordneten des Nationalparlaments besorgt über die mangelhafte Unabhängigkeit der Medien, die Probleme bei der Wahlrechtsreform, illegale Einwanderung und die mangelhafte Bekämpfung der Finanzkriminalität.
Die französischen Bedenken konnte die EU-Kommission im Februar 2020 durch einen Reformvorschlag für den Beitrittsprozess weitgehend ausräumen.1 Dabei soll der Einfluss der Mitgliedstaaten auf die Beitrittsverhandlungen gestärkt und ein neues System eingeführt werden, das insbesondere im Bereich der Rechtsstaatlichkeit Fortschritte bei der Anpassung an die Standards der EU durch beschleunigte Verhandlungen und zusätzliche Gelder fördert. Gleichzeitig sollen aber Verzögerungen oder Rückschritte beim Reformprozess durch Mittelkürzungen oder eine verschärfte Revisionsklausel sanktioniert werden. Zudem soll sich eine verstärkte Zusammenarbeit mit der EU für die Beitrittskandidaten durch finanzielle Investments aber auch auszahlen.
Neu in dem Vorschlag der Kommission ist weiterhin, dass keines der insgesamt 33 Verhandlungskapitel geschlossen werden kann, wenn im Bereich der Rechtsstaatlichkeit „die Ziele nicht erreicht werden“. Zudem werden künftig die „Verhandlungskapitel in thematischen Gruppen organisiert“ und nicht mehr für sich allein betrachtet. Eine Gruppe mit verschiedenen Verhandlungskapiteln kann nur als Ganzes geschlossen werden. Insgesamt soll es sechs Gruppen geben: wesentliche Elemente; Binnenmarkt; Wettbewerbsfähigkeit und inklusives Wachstum; grüne Agenda und nachhaltige Konnektivität; Ressourcen, Landwirtschaft und Kohäsion; Außenbeziehungen.
Eine weitere Neuerung ist zudem, dass die Mitgliedstaaten künftig auch eigene Experten in die Kandidatenländer schicken können, um vor Ort die Reformanstrengungen zu überwachen. Bisher wurde diese Arbeit den Beamten der Kommission überlassen.
Misstrauen gegenüber der Kommission
Einen Monat nach dem Reformvorschlag zum Beitrittsprozess, stellte die EU-Kommission Anfang März 2020 dann die aktuellen Sachstandsberichte vor. Darin wurde über die Fortschritte, die Albanien und Nordmazedonien bei den Reformen im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit erzielt haben, berichtet. Beiden Ländern wurde dabei bescheinigt, dass sie „greifbare und nachhaltige Ergebnisse erzielt“ hätten, weshalb die Kommission und insbesondere der zuständige EU-Kommissar für Nachbarschaft und Erweiterung, Olivér Várhelyi, Beitrittsverhandlungen uneingeschränkt befürworteten.
Diesem Votum schlossen sich die Europaminister bei ihrer Videokonferenz am 24. März jedoch nicht vollumfänglich an, zumindest im Falle von Albanien. Zu positiv erschien der Bericht der Kommission im Lichte der vielen Probleme, die das Land weiterhin plagen. Zu nennen wären dabei vor allem die seit fast einem Jahr bestehende Handlungsunfähigkeit der obersten Gerichte, die grassierende Korruption und Vetternwirtschaft, Versuche der Regierung die Medienfreiheit einzuschränken und nicht zuletzt die Probleme mit der Organisierten Kriminalität (OK), insbesondere im Bereich des Drogen- und Menschenhandels. Eine Einigung ohne Bedingungen schien daher, auch angesichts der vorherigen Ablehnung von Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Dänemark, unmöglich.
Um eine Brücke zu bauen zwischen den Staaten, die im Herbst 2019 gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen votierte und den anderen EU-Mitgliedsstaaten, die diese befürworteten, hatte der Deutsche Bundestag auf Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD bereits im September 2019 in einem Entschließungsantrag die Erfüllung bestimmter (Vor-)Bedingungen verlangt.2 Diese ursprünglich neun Bedingungen des Bundestages wurden nun in Abstimmung mit den anderen EU-Ländern auf insgesamt 15 Bedingungen erweitert und im Beschluss des RAA festgehalten.
Der für Auswärtiges zuständige stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Dr. Johann Wadephul MdB, sah daher den Beschluss der Europaminister auch als eine Art „Misstrauenserklärung an die EU-Kommission“. So erklärte Wadephul:
„[Die EU-Kommission] hatte eine bedingungslose Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien vorgeschlagen. Dass die Mitgliedsstaaten jetzt 15 Vorbedingungen festgeschrieben haben, zeigt: Sie erwarten von der EU-Kommission eine deutlich strengere und sorgfältigere Überwachung der Fortschritte. Dies muss sowohl für die Erfüllung der 15 Vorbedingungen wie auch für den gesamten Verhandlungsprozess gelten.“
Dr. Katja Leikert MdB, ebenfalls stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und zuständig für Europa, betonte die Rolle des Bundestages bei der Erzielung der Einigung unter den EU-Mitgliedsstaaten:
„Wenn auf Seiten der albanischen Regierung der politische Wille für eine ernsthafte und vollständige Umsetzung dieser Vorbedingungen vorhanden ist, wird Deutschland Albanien dabei tatkräftig unterstützen. Der Deutsche Bundestag […] hat mit seinem Beschluss vom 26. September 2019 Albanien die Tür für Verhandlungen geöffnet, zugleich aber das Land verpflichtet, bis dahin noch die größten Mängel zu beseitigen. Mit diesem Ansatz hat der Bundestag für andere EU-Mitgliedstaaten, die bisher einer Eröffnung von Beitrittsverhandlungen negativ gegenüberstanden, einen Weg aufgezeigt, dass sie heute ebenfalls eine bedingte Zustimmung erteilen konnten."
Zweistufiges Verfahren vor Eröffnung der Beitrittsverhandlungen
Der Beginn von Beitrittsverhandlungen für neue Mitglieder sieht u.a. zwei Beitrittskonferenzen vor, nach denen anschließend die verschiedenen Kapitel bzw. Cluster geöffnet werden. Der Beschluss der Europaminister vom 24. März legt nun – wie bereits der Bundestagsbeschluss – ein zweistufiges Verfahren mit Bedingungen vor, die bis zur 1. bzw. 2. Beitrittskonferenz vor Eröffnung des ersten Clusters „Wesentliche Elemente“ (vor allem Rechtsstaatsfragen) erfüllt sein müssen. Diese Liste der Bedingungen, die Albanien vor einer Eröffnung von Verhandlungen erfüllen muss, besteht aus 15 Punkten, darin sind die neun Bedingungen des Bundestags enthalten, sechs sind hinzugekommen.3
Vor Beginn der ersten Beitrittskonferenzen muss Albanien sechs Vorbedingungen erfüllen
- Beschluss einer Wahlrechtsreform.
- Umsetzung der laufenden Justizreform und Sicherstellung eines funktionsfähigen Verfassungsgerichts und Obersten Gerichts. Zudem sollen die dazugehörigen Stellungnahmen der Venedig-Kommission umgesetzt werden.
- Die Einrichtung der Antikorruptions-staatsanwaltschaft (SPAK) und des National Bureau of Investigation (NBI) müssen abgeschlossen sein.
- Neu: Für die Bekämpfung von Korruption und OK sollen die Empfehlungen aus dem Action Plan der Financial Action Task Force umgesetzt werden. Damit soll deutlich mehr Transparenz über Finanzströme geschaffen werden.
- Neu: Albanien muss das Phänomen unbegründeter Asylersuchen in den Griff bekommen und sicherstellen, dass es abgelehnte Asylbewerber zurücknimmt.
- Neu: Korrektur des Mediengesetzes, gemäß den Empfehlungen der Venedig-Kommission.
Vor der zweiten Beitrittskonferenz, bzw. bevor die ersten Cluster/Kapitel geöffnet werden können, muss Albanien neun weitere Bedingungen erfüllen:
- Die Einleitung von Verfahren gegen Richter und Staatsanwälte, denen im sog. Vetting-Prozess strafbares Verhalten vorgeworfen wurde.
- Einleitung von Strafverfahren gegen Personen, denen Stimmenkauf vorgeworfen wird.
- Solide Fortschritte im Kampf gegen Korruption und OK auf allen Ebenen, einschließlich der Einleitung und Abschließung von Verfahren gegen hochrangige Beamte und Politiker.
- Greifbare Fortschritte bei der Verwaltungsreform.
- Umsetzung der Wahlrechtsreform.
- Abschließende Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Lokalwahlen vom 30. Juni 2019 durch das Verfassungsgericht.
- Neu: Implementierung der Gesetzgebung von 2017 (!) zum Schutz nationaler Minderheiten.
- Neu: Annahme eines Gesetzes zur Volkszählung, das den Empfehlungen des Europarates entsprechen muss.
- Neu: Fortschritte im Prozess der Registrierung von Eigentumsrechten.
Bei der Analyse der (Vor-)Bedingungen des Beschlusses lässt sich feststellen, dass der ursprüngliche Beschluss des Deutschen Bundestages vom September 2019 auf breite Zustimmung bei den anderen EU-Staaten gestoßen ist und vollumfänglich übernommen wurde. Darüber hinaus bot der Bundestagsbeschluss eine goldene Brücke für Länder wie Frankreich und die Niederlande (und auch Griechenland), ihre Zustimmung durch zusätzliche Bedingungen zu erleichtern.
Noch viel Arbeit zu erledigen
Frei nach der alten Fußballer-Weisheit „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“, geht nun die Arbeit aber erst los. Die Überprüfung der Bedingungen und ihre Erfüllung durch die albanische Regierung steht an erster Stelle und muss sehr gewissenhaft erfolgen. Dies darf keinesfalls zum reinen „Abhaken“ der Bedingungen führen, sondern diese müssen ganz im Sinn und Geist der Forderungen umgesetzt und erfüllt werden. Dabei kommt vor allem der EU-Kommission eine wichtige Rolle zu. Entgegen den doch sehr rosigen Aussichten im letzten
Fortschrittsbericht, zu denen die Europaminister mit ihrem Ratsbeschluss eine klare Meinung zeigten, muss in Zukunft eine konstruktiv-kritische Begleitung und genaue Kontrolle der albanischen Regierung bei der Erfüllung der Bedingungen stehen. Auch der Deutsche Bundestag wird sich sicherlich sein parlamentarisches Recht nicht nehmen lassen, die Erfüllung der Bedingungen genau zu verfolgen und ggf. Verbesserungen anzumahnen. Unter Umständen könnte man dazu auch andere EU-Länder mit ins Boot nehmen, insbesondere dort, wo das Parlament ähnlich stark engagiert ist in der Thematik, wie z.B. in den Niederlanden.
Auch in Albanien müssen alle politischen Kräfte an der Erfüllung der Bedingungen mitwirken. Bezeichnend ist, dass die albanische Regierung bei der Kommentierung der Entscheidung kaum oder gar nicht auf die Bedingungen einging, obwohl die Ausformulierung und Zunahme der Bedingungen doch zeigen, dass die Lage in den letzten Monaten und Jahren schwieriger geworden ist. Der albanischen Opposition kommt deshalb eine wichtige Kontrollfunktion zu. Oppositionsführer Lulzim Basha warnte bereits vor allzu überzogenem Optimismus:
„Politiker sind in der Lage, Seife für Käse zu verkaufen. Hier wurde Sieg" gerufen, auch als die Verhandlungen nicht aufgenommen wurden. Es kann nicht mehr gespielt werden. Wir müssen dieses Verhalten aufgeben, da wir so nicht nach Europa gehen können […]“
Einstweilen steht Albanien aber ein viel größerer Kampf bevor: der gegen das Coronavirus. Dazu erhält man auch Unterstützung durch die EU, die gerade in diesen Tagen so wichtig ist für Albanien und den gesamten Westbalkan. So sagte die EU Albanien bis zu 50 Mio. Euro zur Bekämpfung des Virus und seiner Auswirkungen zu. Dies gab der EU-Botschafter in Albanien, Luigi Soreca, ein paar Stunden nach dem Ja zu Beitrittsverhandlungen bekannt. Die Beihilfen umfassen 4 Mio. EUR für medizinische Sofortausrüstung, 11 Mio. EUR für den Sozialschutz und bis zu 35 Mio. EUR als wirtschaftliche Unterstützung. Es bleibt zu hoffen, dass diese Krise alsbald überwunden werden kann, damit sich das Land dann wieder den anderen großen Herausforderungen widmen kann. Nicht allein um die Bedingungen der EU zu erfüllen, sondern um Albanien insgesamt zu einem demokratischeren Rechtsstaat zu entwickeln.
1 “Stärkung des Beitrittsprozesses –Eine glaubwürdige EU-Perspektive für den westlichen Balkan“, EU-Kommission, Brüssel, 5.2.2020. https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/enlargement-methodology_de.pdf
2 Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Drucksache 19/13508, Deutscher Bundestag, 24.09.2019. https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/135/1913508.pdf
3 Die Einrichtung von SPAK und NBI waren im Bundestagsbeschluss vom 26.09.2019 als eigene Bedingung vor der zweiten Beitrittskonferenz aufgeführt wurde. Sie wurde nun im Beschluss der Europaminister vom 24.03.2020 als Vorbedingung zur ersten Konferenz aufgenommen.
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