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IMAGO / Xinhua

Краінавая справаздача

Gewohnte Gesichter, Neue Prioritäten

Dr. Canan Atilgan, Lukas Wick

Die Regierungsbildung und Prioritätensetzung in Irland nach den Parlamentswahlen 2024

Die schnellsten Koalitionsverhandlungen der jüngeren irischen Geschichte sind abgeschlossen. Ein Prozess, der zuvor noch fast sechs Monate dauerte, konnte nun in sechs Wochen abgeschlossen werden. Fianna Fáil, Fine Gael und unabhängige Abgeordnete haben eine Mitte-rechts-Koalition gebildet, die im Dáil Éireann, dem Unterhaus, die Mehrheit sichert. Micheál Martin (Fianna Fáil) übernimmt zunächst das Amt des Taoiseach (Premierministers) und wird sich mit Simon Harris (Fine Gael) abwechseln. Während in vielen europäischen Ländern Regierungsparteien Verluste hinnehmen mussten, blieb Irlands politische Landschaft stabil. Das Regierungsprogramm „Securing Ireland’s Future“ setzt auf wirtschaftliche Stabilität, Infrastrukturinvestitionen und vorsichtige Reformen. Doch soziale Ungleichheit und steigende Mieten bleiben zwei der vielen ungelösten Probleme. Ob Irlands wirtschaftlicher Erfolg auch die breite Bevölkerung erreicht, wird zur zentralen Herausforderung für die neue Koalition.

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Die neue, alte Regierung

In vielen europäischen Ländern haben die Wählerinnen und Wähler die Regierungsparteien bei den jüngsten Wahlen abgestraft, was zu erheblichen politischen Veränderungen in jeweiligen Ländern führte. In Irland hingegen blieb die Regierungskonstellation nahezu unverändert. Aus einer historisch eher durch die beiden großen Parteien – Fianna Fáil (EU: Renew) und Fine Gael (EU: EPP) - geprägten Parteienlandschaft ist nun ein Drei-Parteiensystem geworden, in das Sinn Féin (EU: The Left) mit wiederholt starkem Wahlergebnis hineingestoßen ist. Mit 39 Sitzen (plus 2 vgl. 2020) ist Sinn Féin sogar zweitstärkste Kraft geworden, hinter Fianna Fáil mit 48 Sitzen (plus 10 vgl. 2020) und vor Fine Gael mit 38 (plus 3 vgl. 2020) Sitzen. Der Wahlgewinner ist damit eindeutig Fianna Fáil. Fine Gael, die einen Monat vor der Wahl noch komfortabel die Umfragen anführten, ging schlussendlich etwas die Luft aus, wenngleich drei Sitze hinzugewonnen werden konnten. Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt ist, dass unabhängige Kandidaten und kleinere Parteien mittlerweile den größten Block im Parlament stellen. Dies ist maßgeblich dem irischen Wahlsystem geschuldet, das auf der Verhältniswahl mit übertragbaren Einzelstimmen (PR-STV) basiert. Dieses System fördert eine enge Verbindung zwischen den Kandidaten und ihrem Wahlkreis, was zu einer stark lokal orientierten Politik führt. Es erklärt auch die Diskrepanz zwischen dem prozentualen Stimmenanteil und der tatsächlichen Sitzverteilung, da die Sitze durch Mehrheiten in den Wahlkreisen und nicht durch landesweite Stimmanteile vergeben werden. Infolgedessen nehmen unabhängige Abgeordnete in Irland eine zunehmend zentrale Rolle ein, da sie nicht an Parteien gebunden sind, flexibel auf politische Entwicklungen reagieren können und vergleichsweise leicht einen Sitz gewinnen. Besonders in Koalitionsverhandlungen sind sie oft entscheidend, da ihre Unterstützung notwendig ist, wenn keine Partei eine absolute Mehrheit erzielt. So sollte es auch dieses Mal kommen, wenn nach den jüngsten Wahlen in Irland die Koalitionsverhandlungen begannen.

Bereits in den ersten Januarwochen nahm die Dynamik der Koalitionsgespräche deutlich zu. Dabei zeigte sich rasch eine klare Tendenz: Während Labour und die Sozialdemokraten zunächst Teil der Verhandlungen waren, offenbarten sich schnell unüberbrückbare Differenzen zwischen diesen Parteien und den Mitte-Rechts-Parteien Fianna Fáil (FF) und Fine Gael (FG). Diese inhaltlichen Gräben führten schließlich dazu, dass Labour und später auch die Sozialdemokraten die Gespräche verließen. Damit wurde offensichtlich, dass eine regierungsfähige Mehrheit nur mit Unterstützung unabhängiger Abgeordneter zustande kommen würde. Bis zum 15. Januar konnten hier erhebliche Fortschritte erzielt werden, insbesondere durch die Beteiligung der „Regional Independent Group“ einer regionalen Gruppierung unter der Führung des umstrittenen Abgeordneten Michael Lowry, die unabhängig auftritt. Lowry zeigte sich optimistisch, dass eine Koalition mit seinen und weiteren unabhängigen Abgeordneten noch vor der ersten Sitzung des neuen Dáil am 22. Januar zustande kommen würde. Trotz interner Spannungen und Kritik an seiner Person, sowohl innerhalb der Regierung als auch von der Opposition, bestätigte sich seine Prognose: Die Verhandlungen mit der Regional Independent Group und den Healy-Rae-Brüdern verliefen erfolgreich, sodass eine stabile Mehrheit von 95 Sitzen im 174-köpfigen Parlament gesichert werden konnte.

Die neue Koalition setzt sich aus Fianna Fáil, Fine Gael und neun unabhängigen Abgeordneten zusammen. Sieben von ihnen gehören der Regional Independent Group, zwei weitere stellen die beiden Healy-Rae-Brüder aus dem County Kerry im Südwesten Irlands. Micheál Martin von Fianna Fáil übernimmt zunächst das Amt des Taoiseach, bevor es zur Halbzeit der Legislaturperiode an Simon Harris von Fine Gael übergeht – eine in Irland nicht unübliche Rotationsregelung, die bereits in der letzten Legislaturperiode stattfand. Harris wird in der Zwischenzeit als Tánaiste (Vizepremierminister) sowie als Minister für Außenpolitik, Verteidigung und Handel fungieren. Weitere Schlüsselpositionen wurden ebenfalls besetzt: Paschal Donohoe von Fine Gael behält seine Position als Finanzminister bei, die er bereits in der vorherigen Regierung innehatte. Jack Chambers von Fianna Fáil, zuvor Chief Whip, übernimmt das Ressort für öffentliche Ausgaben, Infrastruktur, Reform und Digitalisierung, was für ihn einen Aufstieg in eine bedeutendere Ministerposition darstellt. Peter Burke von Fine Gael, der zuvor als Staatsminister tätig war, wurde zum Minister für Unternehmen, Tourismus und Beschäftigung befördert. Jim O’Callaghan von Fianna Fáil, ein prominenter Rechtsanwalt und bisheriger Hinterbänkler, übernimmt erstmals einen Ministerposten und verantwortet die Bereiche Justiz, Inneres und Migration.

Auch die unabhängigen Abgeordneten wurden mit bedeutenden Posten bedacht, um ihre direkte Einbindung in die Koalition zu gewährleisten. Seán Canney, ein ehemaliger Ingenieur und Abgeordneter aus Galway, wurde zum Minister of State für internationalen und ländlichen Transport, Logistik, Bahn und Häfen ernannt. Noel Grealish, ebenfalls aus Galway und bekannt für seine Verbindungen zur Bau- und Landwirtschaftsbranche, übernahm die Zuständigkeit als Junior Minister für Lebensmittelpromotion, neue Märkte sowie Forschung und Entwicklung. Mary Butler, eine profilierte Politikerin aus Waterford, wurde zur Government Chief Whip und Ministerin of State für psychische Gesundheit berufen. Die Healy-Rae-Brüder, Michael und Danny, einflussreiche Figuren aus Kerry, erhielten in der neuen Regierung Zugang zu wichtigen Verhandlungspositionen, was ihre politische Bedeutung in den südlichen und vor allem ländlich geprägten Regionen unterstreicht.

Die Entscheidung, diese unabhängigen Abgeordneten in die Regierung zu integrieren, war vordergründig strategisch motiviert. Zum einen sicherten sie der Koalition die notwendige Mehrheit im Dáil und stabilisierten damit die Regierungsbildung. Zum anderen sorgte ihre Einbindung in Regierungsämter dafür, dass ihre Unterstützung auch langfristig gesichert bleibt. Die konservative Ausrichtung dieser Gruppen, insbesondere in Fragen der Wirtschaft und Infrastruktur, harmoniert mit den politischen Positionen von Fianna Fáil und Fine Gael, was zunächst die Koalitionsverhandlungen erleichterte und schließlich die Zusammenarbeit vereinfachen soll. Darüber hinaus genießt die Regional Independent Group starken Rückhalt in ländlichen Gebieten, insbesondere in den westlichen und südlichen Regionen Irlands. Dies stärkt die geografische Repräsentation und die Akzeptanz der Regierung in diesen traditionell konservativen Wahlkreisen. Michael Lowry wurde bemerkenswerterweise trotz seines Einflusses und seiner engen Beziehungen zu den Regierungsparteien nicht berücksichtigt. Hintergrund hierfür ist seine kontroverse Vergangenheit, darunter frühere Korruptionsvorwürfe und seine umstrittene Rolle in der Telekommunikationsprivatisierung. Diese Vorgeschichte hätte möglicherweise das öffentliche Vertrauen in die neue Regierung gefährdet, sodass seine Einbindung auf informelle Unterstützung im Parlament beschränkt blieb. Die irische Regierung zeigt somit, dass sie in schwierigen Situationen kompromissbereit und lösungsorientiert agieren kann.

 

Das „weiter so“-Programm

Nach den erfolgreichen Koalitionsverhandlungen folgte die Veröffentlichung eines fünfjährigen Regierungsprogramms, das zunächst als Entwurf vorgestellt und den Parteibasen zur Ratifizierung vorgelegt wurde. Das „Programme for Government 2025: Securing Ireland’s Future“ wurde schließlich offiziell verabschiedet und bildet nun die Grundlage für die politischen Prioritäten der kommenden Jahre. Das Programm setzt sich zum Ziel, die drängenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen Irlands zu adressieren und gleichzeitig die sich bietenden Chancen für die Zukunft zu nutzen.

Wirtschaft und Innenpolitik

Irland gehört nunmehr zu den wohlhabendsten Ländern mit einem der höchsten Pro-Kopf-BIP weltweit und verzeichnete kürzlich einen Haushaltsüberschuss von 8 Milliarden Euro. Dennoch spiegelt sich dieser Wohlstand nicht im Leben aller Bürger wider. Viele Konzerne nutzen Irland als Steueroase, während die soziale Ungleichheit wächst, die Mietpreise stark steigen und die Lebenshaltungskosten dramatisch zunehmen. Ein wachsender Teil der Bevölkerung wird als „working poor“ bezeichnet – Menschen, die trotz Arbeit kaum über die Runden kommen.

Die Regierung plant daher einige Maßnahmen, um diese Herausforderungen zu adressieren. Bis 2030 sollen über 300.000 neue Wohnungen gebaut werden, der Fokus liegt auf bezahlbarem Wohnraum und der Bekämpfung von Leerstand. Zudem sollen bürokratische Hürden im Bauwesen abgebaut werden, die bisher vor allem verhindert haben, dass die wirtschaftliche Stärke auch in Substanz umgemünzt werden kann. Der Bau des „teuersten Krankenhauses der Welt“ in Dublin ist hier nur ein Beispiel für ausufernde Planungszeiten und Kostensprünge. Auch die Schaffung von 300.000 neuen Arbeitsplätzen ist vorgesehen, unter anderem durch die Förderung von Start-ups und die Anziehung ausländischer Direktinvestitionen. Diese gezielten Maßnahmen sollen mit Aktionsplan für Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität unterfüttert werden. Dieser zielt darauf ab, Innovation und Investitionen in Schlüsselindustrien wie Halbleiter, Pharma und Finanzdienstleistungen zu fördern. Ob 300.000 Jobs und Wohnungen schlussendlich ein Ende der Wohnraumkrise bedeuten kann, bleibt aber durchaus fraglich.

Migration

Im Wahlkampf spielte das Thema Migration eine untergeordnete Rolle, obwohl es gesellschaftlich viel diskutiert wurde. Die großen Parteien haben es bewusst vermieden, Migration als Wahlkampfthema zu nutzen, um den Ruf Irlands als Standort für multinationale Tech-Unternehmen nicht zu gefährden. 10% der Erwerbstätigen in Irland arbeiten bei US-Firmen wie Apple, Meta, Google und Amazon. Stattdessen griffen unabhängige Kandidaten das Thema auf, was ihnen messbaren Wahlerfolg brachte. Was im Wahlkampf noch vermieden wurde, soll laut Koalitionsprogramm jedoch längst nicht gemieden oder ignoriert werden. Die Regierung plant ein faires, aber strengeres Migrationssystem. Asylanträge sollen durch den Einsatz moderner IT-Systeme beschleunigt und strengere Rückführungsmaßnahmen für abgelehnte Asylbewerber eingeführt werden. Zudem wird eine nationale Integrationsstrategie angestrebt, mit Schwerpunkten auf Sprachförderung, Arbeitsmarktzugang und sozialer Integration. Durch den Einsatz neuer Technologien und die Zusammenarbeit mit EU-Partnern soll zudem ein effektiveres Management an den Grenzen erreicht werden. Irland richtet sich damit vor allem nach den Vorgaben des EU-Migrationspakts und strebt an, diese auf nationaler Ebene umzusetzen, während es gleichzeitig zur erfolgreichen Implementierung auf EU-Ebene beiträgt. Ein grundlegender Wandel oder gar eine Reform in der irischen Migrationspolitik stellt dies jedoch nicht dar.

Außenpolitik

In seiner Außenpolitik will Irland seinen ausgewogenen Ansatz fortsetzen, der sowohl enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Union als auch die Pflege von Beziehungen zu internationalen Partnern umfasst. Das Land orientiert sich stark an den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der EU, während es gleichzeitig Wert auf die Verbesserung der Beziehungen zum Vereinigten Königreich legt, besonders nach dem Brexit. Auch die engen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten bleiben zentral, wie eine kürzlich angekündigte Handelsinitiative und die Einberufung einer Handelskonferenz durch Außenminister Simon Harris zeigen. Wie dies im Kontext der von Präsident Trump gewählten „Abteilung Attacke“ in nahezu allen Belangen zu erreichen sein wird, kann zurecht hinterfragt werden. Gerade deshalb muss Irland in der traditionellen Frage „Boston oder Berlin“ (sinnbildlich für USA bzw. Europa) zukünftig womöglich vermehrt auf den Blick nach Berlin setzen.

Trotz der starken internationalen Verbindungen bleibt Irland seiner Neutralität verpflichtet, was sich in einer Außenpolitik niederschlägt, die sich für friedliche Lösungen und multilaterale Prinzipien einsetzt – u.a. soll hieraus ein noch stärkeres Engagement in den Vereinten Nationen erwachsen. Doch die zunehmend komplexe globale Sicherheitslage stellt Irland vor neue Herausforderungen, insbesondere im Bereich der Cybersicherheit und der Verteidigung kritischer Infrastruktur. Über 75 % der Unterseekabel, die Nordamerika mit Europa verbinden, verlaufen durch die Irische See, sind jedoch bislang vollständig auf den Schutz der britischen Navy angewiesen. Irland selbst verfügt derzeit nicht über die Kapazitäten, diese Infrastruktur eigenständig zu verteidigen. Auch im Nahostkonflikt setzt sich Irland weiterhin für eine Zwei-Staaten-Lösung ein und möchte unterdrückte Völker weltweit unterstützen. Während die Beziehungen zu Israel wichtig bleiben, insbesondere im Handel und kulturellen Austausch, waren sie zuletzt auch von zahlreichen Auseinandersetzungen geprägt. Irlands Politik wird auch deshalb in Zukunft stärker mit der Haltung und Bewertungen der EU übereinstimmen. In diesem Zusammenhang hat Irland auch die IHRA-Definition von Antisemitismus übernommen, um ein starkes Zeichen gegen Antisemitismus und Judenhass zu setzen. Inwieweit hieraus aber eine weiterreichende und ernstzunehmende Priorität der Regierung erwächst, wird wohl erst noch ermittelt werden müssen.

Innerhalb der EU strebt Irland jedenfalls an, seinen Einfluss zu verstärken, besonders in den Bereichen Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Landwirtschaft. Mit der bevorstehenden EU-Ratspräsidentschaft 2026 plant Irland (gemeinsam mit Griechenland und Litauen), die Gemeinsame Agrarpolitik (EU-GAP) zu reformieren und eine führende Rolle in den Bereichen Künstliche Intelligenz, digitale Transformation und erneuerbare Energien zu übernehmen.

 

Kommentar

Abschließend betrachtet bleibt Irland mit seiner Koalitionsbildung und den geplanten Reformen auf Kurs, um wirtschaftliche Prosperität zu sichern, steht jedoch vor erheblichen sozialen und politischen Herausforderungen. Der Fokus auf wirtschaftliche Nachhaltigkeit scheint zwar pragmatisch, doch die sozialen Ungleichgewichte, besonders im Wohnungsmarkt, könnten zu weiterer sozialer Fragmentierung führen – besonders dann, wenn auch weiterhin der wirtschaftliche Erfolg des Landes nicht in die Gesellschaft durchzudringen scheint. Die geplanten Maßnahmen, wie der Bau von 300.000 neuen Wohnungen bis 2030, sind ein erster Schritt, doch bleibt offen, ob sie die Kluft zwischen den sozioökonomischen Schichten schlussendlich überwinden können, denn diese 300.000 neuen Wohnungen müssen am Ende des Tages auch bezahlbar sein und in der Mitte der Gesellschaft ankommen.

Die Zusammenarbeit von Fianna Fáil und Fine Gael, zwei Parteien mit historischer Rivalität, ist an sich schon bemerkenswert: Jahrzehntelang standen sie sich als unversöhnliche Gegenspieler im politischen Wettbewerb gegenüber. Erst 2020, angesichts des Aufstiegs von Sinn Féin und einer zunehmend fragmentierten politischen Landschaft, bildeten sie erstmals eine Koalition. Diese Partnerschaft, geprägt von ihrer pragmatischen Orientierung, konnte zwar Stabilität gewährleisten, doch bleibt fraglich, ob sie den Mut zu strukturellen Reformen aufbringt, um die wachsenden sozialen Spannungen zu entschärfen. Positiv festzuhalten ist hier dennoch auch die Tatsache, wie schnell und geräuschlos die Koalition schlussendlich gebildet wurde. Irland bleibt auch deshalb ein herausragendes Beispiel für demokratische Stabilität und europäische Integration. Das Land weist keine rechtspopulistischen oder linksextremen Parteien auf, die das demokratische System herausfordern. Trotzdem ist Irland nicht völlig gegen globale politische Trends gefeit: Der Aufstieg unabhängiger Kandidaten, darunter einige mit rechtsnationalen und EU-skeptischen Positionen, verdeutlicht, dass auch Irland nicht vollständig immun gegen weltweite Entwicklungen ist.

Gerade der deutliche Zuwachs in der Unterstützung für unabhängige Kandidaten, von 13 % im Jahr 2020 auf 23 % im Jahr 2024, markiert eine bemerkenswerte Verschiebung in der irischen politischen Landschaft. Migration und EU-Kritik haben sich dabei als zentrale Themen herauskristallisiert. Medial wird bereits der Begriff „soft right-wing independents“ geprägt, um die politische Ausrichtung einiger unabhängiger Abgeordneter zu umschreiben. Gleichzeitig offenbart das weiterhin gute Abschneiden von Sinn Féin einen klaren Anti-Establishment-Trend, der besonders bei jungen Wählern deutlich wird: 60 % der 18- bis 34-Jährigen hätten Sinn-Fein-Chefin Mary Lou McDonald als Taoiseach bevorzugt. Im Gegensatz dazu dominieren Fine Gael und Fianna Fáil weiterhin bei älteren Wählern, was eine wachsende Generationenkluft in den politischen Präferenzen verdeutlicht.

Welche Rolle Sinn-Fein als größte Oppositionspartei einnehmen wird, ist ebenfalls eine spannende Frage. Einen Vorgeschmack lieferte womöglich die konstituierende Sitzung des Dáil: Die Ernennung von Micheál Martin zum Taoiseach verzögerte sich nach chaotischen Szenen im irischen Parlament. Unabhängige Abgeordnete wollten sich Redezeit als Abgeordnete der Opposition sichern, was Sinn Féin und Labour als Täuschung verurteilten, da diese Abgeordneten letztendlich die Regierung stützen und damit nicht Teil der Opposition sein können. Die konstituierende Sitzung wurde daraufhin mehrmals bewusst von Sinn Féin gestört, weshalb sie zunächst mehrmals unter- und schließlich abgebrochen werden musste. Die bewusste und öffentliche Konfrontation ist womöglich ein Indiz für Sinn Féins Bereitschaft, eine härtere Oppositionslinie zu fahren, die Irlands politische und parlamentarische Dynamik in Zukunft prägen könnte. Dies würde eine bereits wachsende politische Polarisierung weiter verstärken. Besonders die hohe Zustimmung unabhängiger Kandidaten, vor allem unter jüngeren Wählern, unterstreicht den dringenden Wunsch nach Veränderung und einem Bruch mit den traditionellen Strukturen. Dieser Trend, der sich auch in anderen westlichen Demokratien beobachten lässt, zeigt, dass die politische Landschaft in Irland in Bewegung ist. Doch dieser Wandel birgt auch Risiken für die Stabilität des politischen Systems, das über Jahrzehnte hinweg von den etablierten Parteien dominiert wurde. Die geplanten Reformen, wie etwa das Ziel eines „faireren, aber strengeren“ Migrationssystems, wirken wie eine Reaktion auf wachsende gesellschaftliche Spannungen. Ob diese Ansätze jedoch tatsächlich die gewünschten positiven Veränderungen bringen oder letztlich die gesellschaftlichen Gräben weiter vertiefen, bleibt fraglich.

Die Zusammensetzung des neuen Kabinetts hat hingegen eine andere Art von Unzufriedenheit ausgelöst. Die geringe Zahl an Frauen in führenden Ministerien – nur drei – wurde scharf kritisiert. Sinn-Féin-Chefin Mary Lou McDonald warf Taoiseach Micheál Martin im Dáil vor, ein gerechtes Geschlechterverhältnis ignoriert zu haben, und auch Jennifer Whitmore von den Sozialdemokraten wies darauf hin, dass es im Kabinett genauso viele Männer namens James gebe wie Frauen insgesamt. Trotz dieser generellen aber auch teils inhaltlich scharfen Kritik aus der Opposition genießt die Koalition eine relativ breite öffentliche Zustimmung. Viele Iren schätzen die Stabilität der Regierung, auch wenn ungelöste strukturelle Probleme weiterhin bestehen.

Richtig ernst wird es für die Koalition aber spätestens, wenn es um die Bewältigung dieser drängenden strukturellen Fragen geht. Die Bereiche Wohnen, Migration und Gesundheitsversorgung könnten in der Koalition nicht nur politisch, sondern auch ideologisch zum Prüfstein werden. Der politische Erfolg oder Misserfolg wird sich letztlich daran messen, wie die Koalition mit diesen Herausforderungen umgeht. Das neue Regierungsprogramm jedenfalls erscheint als zweischneidiges Schwert: Einerseits soll es Stabilität bringen, andererseits mangelt es oft an klaren, langfristigen Visionen für die tiefgreifenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme Irlands. Daher könnte man von außen betrachtet auch schnell zu dem Entschluss gelangen, dass das Koalitionsprogramm nicht mehr als ein „Weiter so“ darstellt. Unterstreichen lässt sich dies auch mit der medialen Kritik, dass das Regierungsprogramm in vielen Teilen vage und unverbindlich erscheint und z.B. Worte wie „prüfen“ oder „bewerten“ insgesamt mehr als 120-mal vorkommen. Es bleibt abzuwarten, ob die Koalition in der Lage ist, den verschiedenen wachsenden gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden und diesen Eindruck zu entkräften.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden geopolitischen Unsicherheiten und der wachsenden Verteidigungsausgaben in Europa wird es für Irland möglicherweise auch notwendig werden, außen- und sicherheitspolitische Themen offener und entschlossener anzugehen. Angesichts der sich verändernden sicherheitspolitischen Landschaft, in der Irland zunehmend Gefahren im Bereich der See- und Cybersicherheit ausgesetzt ist, könnte die Regierung gezwungen sein, die traditionelle Neutralität zu hinterfragen und sicherheitspolitische Herausforderungen stärker in den Fokus zu rücken. Die irische Außenpolitik, die bislang auf Diplomatie und multilaterale Prinzipien gesetzt hat, könnte sich in den kommenden Jahren erweitern, um Irland auf die globalen Sicherheitsherausforderungen besser vorzubereiten. Dabei wird es entscheidend sein, wie Irland seine Neutralität mit den Anforderungen einer zunehmend unsicheren Weltordnung in Einklang bringen kann.

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Dr. Canan Atilgan

Dr. Canan Atilgan

Leiterin Auslandsbüro Vereinigtes Königreich und Irland

canan.atilgan@kas.de +44 (0)20 7834 4119

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