Mit allen oder keinem
Ende November 2022 ging eine Schockwelle durch den belarusischen Medienraum. Außenminister Uladsimir Makei war im Alter von 64 Jahren völlig unerwartet verstorben. Bis heute ranken sich Legenden um seinen plötzlichen Tod, etwa, dass sich Lukaschenkas ehemaliger Stabschef selbst das Leben genommen hat. Klar ist: Makei stand vor den Trümmern seines außenpolitischen Lebenswerks. Zwar hatte er bis zuletzt systemloyal alle Repressionen mitgetragen, doch galt er auch als Architekt und wichtigstes Gesicht der Minsker „multivektoralen“ Außenpolitik, eines Konzepts, das auch viele Regimegegner über lange Zeit de facto anerkannten.
Dessen Kernidee ist, dass Belarus als größter Binnenstaat Europas, der nur über begrenzte Bodenschätze verfügt, möglichst diverse Partnerschaften schließen muss, um sich wirtschaftlichen und politischen Handlungsspielraum zu bewahren. Historisch hat das Land sowohl mit den westlichen als auch östlichen und südlichen Nachbarn enge Verbindungen. Vom Mittelalter bis zur Renaissance bildete es einen gemeinsamen Staat mit dem heutigen Litauen und Polen sowie Teilen der Ukraine. Von 1795 bis 1991 war es mit einer kurzen Ausnahme der Herrschaft Russlands bzw. der Sowjetunion unterworfen. Die unabhängige Verfassung von 1994 schrieb jedoch das Ziel außenpolitischer Neutralität fest und Umfragen zeigen seit Jahrzehnten, dass sich eine Mehrheit der Belarusen nicht einseitig „geopolitisch“ festlegen will. Bei der Frage, ob sie eine Mitgliedschaft im westlichen oder östlichen Bündnis bevorzugen würden, stimmen die meisten für keine oder beide der Varianten.
Ende der Schaukelpolitik
Für Lukaschenka war die sogenannte Schaukelpolitik zwischen West und Ost stets vor allem eine Frage des eigenen Machterhalts. Während der Westen sein Regime „herausforderte“, indem die reisefreudigen Belarusen dort ein demokratisches Gesellschaftsmodell kennenlernen konnten und Washington und Brüssel zuverlässig Sanktionen verhängten, wenn der Minsker Machthaber einem Wahlergebnis mit Fälschungen und Schlagstöcken „nachhalf“, war die Bedrohung von Osten her stets eine existenzielle. Das postsowjetische Russland hatte seine imperialen Ambitionen nie überwunden und akzeptierte Belarus kaum als eigenen Staat geschweige denn eine eigenständige Kulturnation. Die Krimannexion war auch für Belarus ein Schock und in den Jahren 2015-2019 setzte auch das Regime immer mehr auf eine – vor allem wirtschaftlich getriebene – Annäherung mit dem Westen.
Doch als im Sommer 2020 hunderttausende Menschen in den Straßen von Belarus einen demokratischen Machtwechsel forderten, reagierte Lukaschenka mit harten Repression und begab sich reflexartig in die Arme Moskaus. Dem Westen warf er vor, nicht nur die Proteste organisiert zu haben, sondern eine militärische Invasion seines Landes zu planen.
Zichanouskaja trifft die Großen der Welt
Während zwischen dem offiziellen Minsk und dem Westen eine Abwärtsspirale aus Vorwürfen und Sanktionen einsetzte, erfuhr das demokratische Belarus eine nie dagewesene Aufmerksamkeit und Anerkennung. Swjatlana Zichanouskaja, unabhängigen Erhebungen zufolge die eigentliche Gewinnerin der Wahlen, baute mit ihrem Team intensive Beziehungen zu Regierungen und Parlamenten auf, vor allem in der westlichen Welt. Ein Report des Medienportals Zerkalo vom Juli 2021 zeigt – Zichanouskaja hatte seit den Wahlen 31 Präsidenten und Regierungschefs getroffen, von Biden über Merkel, Macron bis Duda und Sanchez, während Lukaschenka lediglich in Russland, Aserbaidschan und Kirgistan empfangen wurde.
Mit dem Rücken zur Kremlwand
Es war bereits ein Novum, dass der Westen Lukaschenka ab 2020 nicht mehr als Präsident anerkannte. Doch seine Mittäterschaft am Überfall auf die Ukraine isolierte das Regime so gut wie komplett gegenüber vier seiner fünf Nachbarn – Litauen, Lettland, Polen und die Ukraine - und ließ die Abhängigkeit von Moskau noch einmal steigen. Obwohl eine Mehrheit der belarusischen Bevölkerung eine Beteiligung am Krieg ablehnt, unterstützt Minsk den Aggressor mit Logistik, Infrastruktur, Ausbildung, Propaganda und Stimmen in der UN. Die angekündigte Stationierung von Atomwaffen in Belarus, womöglich schon im Juli 2023, ist das wohl sichtbarste Zeichen von Moskaus Herrschaftsanspruch über den kleinen Nachbarn. Doch auch die strukturelle Integration beider Länder im Rahmen der sogenannten Unionsprogramme in Bereichen wie Finanzen, Energie, Wirtschaft, Zoll, Agrar-, Arbeits- und Steuerrecht schreitet voran. Faktisch bedeutet dies oft die Unterordnung von Belarus unter Russlands Interessen und auch der Medienraum ist immer stärker durchdrungen von Narrativen der „russischen Welt“. Die belarusische Sprache und Kultur werden hingegen sichtbar aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Im Außenhandel stieg Russlands Anteil zwischen 2019 und 2022 von unter 50 auf über 60 Prozent während der der EU von 22 auf gut zwölf Prozent zusammenbrach. Auch wenn das Regime all dies in offiziellen Verlautbarungen gutheißt, ist offenkundig, dass diese Entwicklungen die Grundlagen der belarusischen Souveränität sukzessive untergraben. Es ist daher mehr als symbolisch, dass Lukaschenka auch den Passus der Neutralität im Februar 2022 aus der Verfassung streichen ließ.
Gleichwohl versucht das Regime seine außenpolitischen Optionen wieder zu erweitern. In der Vergangenheit hatte es nach Repressionen und Sanktionen stets eine Wiederannäherung mit dem Westen gegeben. Doch seit 2020 gingen derartige Avancen aus Minsk, etwa die Freilassung einzelner politischer Gefangener oder angebotene „Vermittlung“ im Ukrainekrieg, ebenso ins Leere wie die versuchte Erpressung in Form einer künstlichen Flüchtlingskrise 2021. Dies dürfte sowohl an der öffentlichen Empörung über Repressionen und Komplizenschaft im Krieg sowie erfolgreicher Lobbyarbeit der demokratischen Kräfte für eine harte Linie liegen wie an der schlichten Tatsache, dass Lukaschenka kaum etwas „anbieten“ kann. Westliche Hauptstädte hätten etwa ein Interesse an regionalen Sicherheitsgarantien, doch sind überzeugt, dass Lukaschenka dies weder kontrolliert noch dass man seinen Versprechen Vertrauen schenken kann.[1]
Wenngleich seine Rolle als „erfolgreicher Vermittler“ während des Aufstands der Wagnerarmee am 24. Juni für die meisten Beobachter völlig unerwartet kam und seine Propaganda ihn seither wieder als genialen Friedensstifter porträtiert, dürfte auch dies für westliche Partner kaum eine positive Wendung bedeuten. Einerseits ist seine tatsächliche Rolle bei den Verhandlungen umstritten und sie diente dem Verhindern eines Blutvergießens zwischen der russischen Armee, die die Ukraine überfallen hat und einer Söldnertruppe, die im selben Krieg besonders heftiger Kriegsverbrechen angeklagt wird. Andererseits scheint der Deal zu beinhalten, dass nun nicht nur Prigoschin, sondern auch bis zu 8.000 geschasste Wagnersöldner nach Belarus verlegt werden, mit unklarem Auftrag. Jüngste Äußerungen der Außenminister Litauens und Lettlands aber auch von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, zeigen klar, dass man dies auch als eine Bedrohung für die NATO empfindet.
Daher bemüht sich Minsk verstärkt um neue Partnerschaften im „östlichen Vektor“ – in Asien, Nahost oder dem Globalen Süden.
Neue „Freunde“ im Osten
Der „östliche Vektor“ ist ein politisches Schlagwort, das nicht nur Länder umfasst, die geografisch östlich von Belarus liegen, sondern vor allem auf die Staaten, die weiterhin aktiv mit dem offiziellen Minsk zusammenarbeiten. Dazu gehören neben China vor allem postsowjetische Länder Zentralasiens wie Kasachstan und Usbekistan.
Im außenpolitischen Schlüsseldokument der Republik Belarus neben der Partnerschaft mit Russland, bilateral und im „Unionsstaat“, sind folgende Prioritäten als „die wichtigsten und vielversprechendsten“ herausgestellt:
- eine „Allwetter- und allseitige strategische Partnerschaft“ mit China;
- alle eurasischen post-sowjetischen Regionalorganisationen - die Eurasische Wirtschaftsunion (EAEU), die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und die Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit (OVKS);
- die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ)
- Arbeit mit Ländern des "weiten Bogens" (Asien, Afrika und Lateinamerika).
Die Beziehungen zur EU und zu den USA werden als "harte Konfrontation" beschrieben. Vergleicht man die veränderten Ansätze, so baute die Republik Belarus im Jahr 2017 auf konstruktive, pragmatische Beziehungen zur EU und den USA. Wir sehen also eine dramatische Verschiebung der Prioritäten bei der Suche nach einer "zweiten Säule" in der Außenpolitik als Ausgleich zum russischen Vektor. Wie erfolgreich waren diese Bemühungen in dem fraglichen Zeitraum?
China als "zweite Säule" in Politik und Handel
Schon in den Jahren vor 2020 war Minsk um eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit China interessiert. Peking wollte Belarus zu einer „Perle der Seidenstraße“ machen, da das Land nicht nur über günstige und hochqualifizierte Arbeitskräfte verfügte, sondern ein logistischer Hub für den Handel mit der EU werden sollte. Sichtbarster Ausdruck dessen waren umfassende Investitionen in den „Great Stone“ Industriepark. Auch wenn Minsk diese Rolle nun nicht spielen kann, müht es sich um die Annäherung mit China als Wirtschaftspartner, gleichgesinntem autoritären Staat und einem einflussreichen Machtzentrum, für den wiederum das gegen Belarus „übermächtige“ Russland immer mehr zum Juniorpartner wird.
Auch für China hat eine solche Partnerschaft strategische Vorteile und so verkündete der Generalsekretär der SOZ, Zhang Ming, am 15. Juli 2022 den Beitrittsantrag von Belarus in die Organisation. In den Jahren 2017-2018 hatten die belarusischen Behörden noch mit dieser Entscheidung gezögert. Doch unter den veränderten Umständen versuchte Lukaschenka so, die Aufmerksamkeit Pekings auf sich zu ziehen, um die Kontakte zu intensivieren. Der Zeitpunkt schien nicht ungünstig, hatte Moskau doch gerade eine herbe Niederlage beim versuchten Sturm auf Kiew erlebt und im Folgenden das Gros seiner Truppen aus Belarus Richtung Donbas abgezogen.
Am 15. und 16. September 2022 wurde Lukaschenka zum SOZ-Gipfel in Samarkand (Usbekistan) eingeladen, wo das offizielle Bewerbungsverfahren eingeleitet wurde. Lukaschenka und Xi Jinping trafen bei diesem Gipfel zusammen und verkündeten den Aufbau einer umfassenden und allseitigen strategischen Partnerschaft. Dies formalisierte die Unterstützung Pekings für Minsk auf höchstem Niveau.[2]
Vom 28. Februar bis 2. März 2023 stattete Lukaschenka China einen offiziellen Staatsbesuch ab und wurde erneut von Präsident Xi persönlich empfangen. Die Weltmedien widmeten diesem Ereignis im Zusammenhang mit Chinas „Friedensplan“ für die Ukraine sowie angesichts des Verdachts, dass Peking an möglichen Lieferungen von sanktionierten Dual-Use-Gütern und sogar Waffen beteiligt sein und Belarus ein logistischer „Kanal“ dafür sein könnte, große Aufmerksamkeit. Wie aus offiziellen Quellen hervorgeht, wurden 27 zwischenstaatliche, behördenübergreifende und interregionale Abkommen sowie acht größere Handelsverträge unterzeichnet. Besondere Aufmerksamkeit gilt der industriellen Zusammenarbeit und dem elektronischen Handel.
Das wichtigste Dokument, das während des Besuchs unterzeichnet wurde, war die Gemeinsame Erklärung über die Förderung der strategischen Allwetter- und Allround-Partnerschaft zwischen beiden Ländern „in der neuen Ära“. Darin sprechen sich beide Seiten gegen Sanktionen aus, unterstützen Chinas Friedensplan für die Ukraine, heben die wichtigsten Bereiche der Zusammenarbeit hervor und einigen sich auf die Eröffnung eines vierten Generalkonsulats in Hongkong.
Erwartungsgemäß pries die staatliche Propaganda auf beiden Seiten den Besuch und die Ergebnisse über den grünen Klee. Doch es bleiben kritische Rückfragen.
Punkt 4 der Gemeinsamen Erklärung lässt erkennen, dass bereits eine Grundlage für ein gemeinsames Freihandelsabkommen gelegt wurde.[3] Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, das damit Widersprüche gegenüber bestehenden Verpflichtungen von Belarus im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion und des Unionsstaates aufkommen werden, was eine Unterzeichnung des Abkommens verzögern dürfte. Der entscheidende Punkt ist, das Abkommen mit den „Unionsprogrammen“ mit Russland oder dem Zollkodex der EAWU in Einklang zu bringen. Die Reaktionen des Kremls dürften interessant werden.
- Bei den Handelsexporten nach China ist kein Durchbruch zu verzeichnen. Zwar ist eine detaillierte Außenhandelsstatistik von Belarus für 2022 nicht zugänglich, doch es gibt indirekte Hinweise auf schwerwiegende Verluste bei belarusischen Exporten. Laut einer offiziellen Erklärung des Wirtschaftsministeriums ist China im Jahr 2022 der zweitgrößte Partner im Außenhandel. Angesichts der Tatsache, dass China bis 2022 nur an dritter Stelle der Importeure stand, aber nicht zu den drei wichtigsten Außenhandelspartnern von Belarus gehörte, kann man erahnen, wie stark die Exporte zurückgegangen sind. Das Wachstum des Handels in den bilateralen Beziehungen war den verfügbaren Zahlen zufolge ebenfalls bestenfalls moderat.
- Die Rhetorik einer strategischen Allwetter- und Allround-Partnerschaft muss auch angesichts der Äußerungen Putins über die Stationierung taktischer Atomwaffen auf belarusischem Gebiet kritisch reflektiert werden.
Östliche Verbündete: Kasachstan und Usbekistan
Kasachstan ist wie Belarus Mitglied in allen „eurasischen“ Bündnissen, der EAWU, GUS, OVKS. Im Allgemeinen werden die bilateralen Beziehungen als strategische Partnerschaft bezeichnet. In wirtschaftlicher Hinsicht hat Kasachstan jedoch in der Exportpolitik keine Priorität. Obwohl seit einigen Jahren stärkere Handelsbeziehungen geplant waren, konnte das Ziel von 1 Milliarde US-Dollar Handelsvolumen nicht erreicht werden. Die geografische Distanz und das Fehlen einer gemeinsamen Grenze sowie russische Interessen standen einer intensiveren wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Wege.
Nach dem großangelegten Einmarsch Russlands in der Ukraine und der Verhängung harter Sanktionen gegen Belarus und Russland im Frühjahr 2022 geriet Kasachstan in den Fokus der belarusischen Außenwirtschaftsaktivitäten. Der Verlust des ukrainischen Marktes hat die belarusische Regierung dazu veranlasst, jede Gelegenheit zu nutzen, um diesen Schlag abzumildern. Daher wurde Kasachstan zu einem der ersten Länder, in denen belarusische Staatsbetriebe und Unternehmen nach Exportmöglichkeiten suchten, um die Sanktionen zu umgehen.
Auf politischer Ebene gab es keine besonderen Verschiebungen. Alle grundlegenden Dokumente mit bilateralem Charakter stammen aus dem Jahr 2017. Ein Besuch Lukaschenkas in Kasachstan fand im Rahmen der Gipfeltreffen der Staatschefs der GUS und der CICA[4] statt (Oktober 2022). Darüber hinaus gab es einen Besuch einer kasachischen Parlamentsdelegation in Belarus.
Der Handelsumsatz in den ersten 11 Monaten des Jahres 2022 erreichte 915,6 Millionen Dollar (ein Anstieg von 13,4 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum), wobei die belarussischen Exporte 707 Millionen Dollar erreichten. Traditionell ist ein Überschuss zu verzeichnen. Auch die industrielle Zusammenarbeit ist ein Schwerpunkt der wirtschaftlichen Kooperation. Sieben belarusische Montagewerke wurden in Kasachstan eröffnet.[5] Darüber hinaus wurden weitere Pläne zur Gründung gemeinsamer Industrieunternehmen skizziert, die auch im Kontext der Umgehung von Sanktionen zu sehen sein dürften.
Da Belarus und Kasachstan formell zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum gehören, stellt sich nach dem 24. Februar 2022 das Problem möglicher Sanktionsauswirkungen für Astana. Im Frühjahr 2022 wurden die folgenden Fälle in den kasachischen und belarussischen Medien hervorgehoben:
- Die Umkupplung europäischer Waren für Kasachstan auf dem Territorium von Belarus. Im April 2022 verhängte die EU Sanktionen gegen belarusische und russische Straßentransportunternehmen. Daraufhin verhängte Minsk ein Fahrverbot für europäische Lkw, deren Ladung an bestimmten Punkten umgekuppelt und umgeladen werden könnte. Die kasachischen Behörden lehnten diese Praxis ab, da sie einen direkten Verstoß gegen die Normen des Eurasischen Zollkodex und die nationalen Rechtsvorschriften Kasachstans darstellte. Der Konflikt wurde vorübergehend bis zum 1. Januar 2023 beigelegt. Am 20. Februar 2023 erließ Kasachstan ein Verbot der Registrierung belarussischer und russischer Kraftverkehrsunternehmen. Dies ist jedoch nur eine halbe Maßnahme, die das Problem der Umgehung der Sanktionen nicht löst, da bis zu diesem Zeitpunkt 5.000 Lkw aus Russland und Belarus in Kasachstan registriert waren und Quoten für den Transport europäischer Waren erhielten. Ermöglicht wurde dies durch die Verlagerung oder Eröffnung von Niederlassungen belarusischer und russischer Transportunternehmen. Die bereits registrierten Unternehmen sind von dem Verbot nicht betroffen.
- Am 24. März 2023 tauchten in den Medien Informationen über ein geheimes EU-Dokument auf, in dem die Möglichkeit der Verhängung von Sanktionen u.a. gegen Kasachstan erwogen wird. Solche Maßnahmen könnten aufgrund der Identifizierung von Handelskanälen von der EU nach Russland über Belarus ergriffen werden. Das Volumen der Lieferungen nach Zentralasien ist seit Kriegsbeginn um 60-80% gestiegen.
- Am 3. April 2023 veröffentlichte das Belarusische Ermittlungszentrum Informationen, dass einzelne Privatunternehmen und Staatsbetriebe ihre Ausfuhren nach Europa fortsetzen, indem sie sanktionierte Waren - Sperrholz und Pellets - über Firmen in Kasachstan und Kirgisistan liefern.
- Aufgrund der drohenden EU-Sanktionen hat die kasachische Führung angekündigt, ab dem 1. April 2023 eine Überwachung der ein- und ausgeführten Waren einzuführen, um die Wiederausfuhr sanktionierter Güter zu kontrollieren. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass Kasachstan innerhalb der EAWU auch Verpflichtungen gegenüber Belarus und Russland hat.
Die bilateralen Beziehungen zu Usbekistan haben in den letzten fünf Jahren einen regelrechten Boom erlebt, was auf den Machtwechsel in Taschkent und die Politik der "offenen Tür" der Regierung Mirziyoyev zurückzuführen ist. Auch verabschiedete Taschkent nach Russlands großangelegtem Einmarsch in der Ukraine Taschkent eine Reihe von Gesetzen zur Erleichterung der Arbeit belarussischer IT-Unternehmen, um deren Verlagerung nach Usbekistan zu motivieren.
Der Anstieg des Handelsumsatzes im Jahr 2022 war mit 71 % (530 Mio. USD) jedoch so enorm, dass auch hier davon ausgegangen werden kann, dass sich das Land an der Umgehung von Sanktionen beteiligt. Die Eröffnung von 86 neuen Joint Ventures im selben Zeitraum deutet ebenfalls darauf hin. Ein Blick auf die seit 2022 sprunghaft angestiegenen Umsätze des deutschen Außenhandels mit den Länder Zentralasiens legen ebenfalls nahe, dass Sanktionen umgangen werden.
Der „weite Bogen“ am Beispiel Iran
Zusätzlich zur Stärkung von Partnerschaften im postsowjetischen Raum und mit China gerät für Minsk der sogenannte „weite Bogen“ politisch gleichgesinnter Länder auf der ganzen Welt in den Blick, vor allem im Mittleren Osten, Afrika und Lateinamerika.
Im Januar 2023 bereiste Lukaschenka Zimbabwe. Auch die Beziehungen mit den Vereinten Arabischen Emiraten nahmen zuletzt stärker an Fahrt auf. Von besonderem Interesse ist jedoch der Fall Iran.
Lange waren beide Länder füreinander von untergeordnetem Interesse. Die zu Beginn der 2000er Jahre begonnene Projektzusammenarbeit im Automobil- und Bankensektor blieb erfolglos. Obwohl die Zusammenarbeit angesichts der internationalen Sanktionen gegen den Iran auf ein Minimum reduziert wurde, erreichten die Handelsbeziehungen im Jahr 2017 einen vorläufigen Höhepunkt mit einem Handelsvolumen von 150 Mio. USD. Im Durchschnitt überstieg der Handel im Jahr nicht mehr als 50-70 Mio. USD. Bis 2021 sank das Volumen sogar auf 30 Mio. USD.
Doch wuchs das bilaterale Interesse merklich nach 2020 bzw. dem russischen Angriff. Am 12. und 13. März 2023 stattete Lukaschenka dem Iran nach einer langen Pause (zuletzt 2007) einen offiziellen Besuch ab. Viele Beobachter sahen dabei einen klaren Zusammenhang zur Beteiligung des Irans an Waffenlieferung für Russland. Der bilaterale Handel soll sich im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdreifacht haben. Laut Irans Botschafter in Belarus, Saeed Yari, ist dieser Anstieg auf belarusische Exporte, vor allem von Kalidünger, Holz und synthetische Fäden zurückzuführen.
Während des Besuchs wurde das ehrgeizige Ziel gesetzt, den Handel und andere Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf 1 Milliarde zu erhöhen. Im Anschluss an die Gespräche unterzeichneten Lukaschenka und Präsident Raisi einen Fahrplan für eine umfassende Zusammenarbeit für die Jahre 2023-2026. Der Text des Dokuments wurde als "Nur für den Dienstgebrauch" eingestuft. Nach Angaben des Institute for the Study of War unterzeichneten die beiden Seiten im Rahmen des Fahrplans acht Abkommen, unter anderem in den Bereichen Handel, Verkehr, Landwirtschaft, aber auch Kultur. Als vielversprechende Bereiche wurden der Warentransit (Kalidünger), der Bau von Eisenbahnen als Teil des Nord-Süd-Transportkorridors, der Kauf von Turbinen, Medikamenten und IKT genannt.
Erwartungsgemäß waren die (wenigen) westlichen Reaktionen auf Lukaschenkas Teheranreise negativ. Das US-Außenministerium wertete sie in einem Briefing am 13. März als „eine Fortsetzung der Vertiefung der Beziehungen zwischen dem Iran und Russland“, mit einem Schwerpunkt auf die Umgehung von Sanktionen und die Zusammenarbeit im militärischen und technischen Bereich.
Schlussfolgerungen:
Mit seiner Neuorientierung auf den „östlichen Vektor“ und den „weiten Bogen“ versucht Minsk die Verluste an diplomatischen Kontakten und Handelsbeziehungen im Westen zu kompensieren, die vor allem seit den sektoralen Sanktionen der EU und der USA nach Kriegsausbruch zu Buche schlagen. Doch trotz einiger Erfolge ist der erhoffte Ausgleich nicht eingetreten. Dies liegt unter anderem an Problemen und höheren Kosten im Bereich von Transport und Logistik.
Ziel der neuen Politik ist vor allem, Sanktionen zu umgehen, sich neue Märkte zu erschließen und Projekte der industriellen Zusammenarbeit anzustoßen, besonders im militärisch-technischen Bereich. Die zentralasiatischen Länder sind hier bislang am ergiebigsten, deuten doch die Zunahme des Handels und die Eröffnung von Niederlassungen großer belarusischer Unternehmen darauf hin, dass Kasachstan und Usbekistan im Schatten des Krieges zu einer Grauzone für die Umgehung von Sanktionen geworden sind.
China als „zweite Säule“ der Außenpolitik bleibt im handels- und wirtschaftspolitischen Sinne hingegen für Belarus absehbar weit hinter Russland zurück. Einem stärkeren Ausbau der Beziehungen über neue Abkommen mit Peking könnte zudem bestehende Abkommen mit Russland rechtlich im Wege stehen.
Letztlich verdeutlicht auch das Beispiel des Irans, dass die polit-propagandistische Darstellung neuer Partnerschaften im östlichen Vektor und „weiten Bogen“ deren tatsächliche, wirtschaftliche Bedeutung für Belarus klar übersteigt.
Den „neuen“ Partnerländern ist gemein, dass sie alle geografisch weit entfernt von Belarus liegen. Das Land verfügt über keinen Meereszugang und ist für Landtransit auf Russland angewiesen. Dementsprechend unterliegt diese Diversifizierung außenpolitischer Partnerschaften de facto dem Wohlwollen Moskaus. Sollte sich dieser Trend fortschreiben, wie es jüngste Prognosen des belarusischen Botschafters in Russland Dmitry Krutoj über die Umorientierung aller Handelsströme auf Russland nahelegen, könnte diese Abhängigkeit vollkommen werden.
Zwar konnte sich Lukaschenka am Abend des abgebrochenen Wagneraufstands mit einigem Recht als einziger „Gewinner des Tages“ sehen und hat seine Position gegenüber Moskau, indem er sich in einer brenzligen Lage als überaus nützlich erwiesen hat, wohl in relativer Hinsicht gestärkt. Doch mit Blick auf die Stabilität seines Regimes ist dies wohl eher ein Pyrrhussieg, da eine Destabilisierung Russlands auch für ihn nichts Gutes verheißt. Um seine politische und wirtschaftliche Souveränität strategisch und nachhaltig abzusichern wäre letztlich eine Wiederöffnung von Handel und Exportrouten sowie diplomatischer Kontakte mit dem Westen, einschließlich der Ukraine, für Belarus signifikant wichtiger. Doch angesichts der fortdauernden außenpolitischen Konfrontation, immer noch anwachsenden Repressionen im Inneren, der konkret angekündigten Verlegung taktischer Atomwaffen nach Belarus und der möglichen Aufnahme tausender Wagner-Söldner, die in erheblichem Umfang an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein sollen und auch von den NATO-Nachbarn als Bedrohung empfunden werden, sind die Voraussetzungen dafür weiterhin in weiter Ferne.
[1] Eine Ausnahme bildet der Besuch des ungarischen Außenministers Szijjarto im Februar 2023, der jedoch auf breite Kritik der demokratischen Kräfte und westlicher Partner stieß.
[2] Es ist anzumerken, dass die Luftangriffe vom belarusischem Territorium aus seit Herbst 2022 seltener geworden sind, was zu dem differenzierten Sanktionsansatz der Europäischen Union gegenüber Minsk im Gegensatz zu Moskau beigetragen hat. Für Peking war dies womöglich ein Anreiz, die Kontakte mit Minsk zu intensivieren.
[3] „Die Parteien haben die Gespräche über die grundlegenden Bestimmungen des Textes des Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen und die Umsetzung von Investitionen abgeschlossen und Verhandlungen über den Marktzugang aufgenommen "
[4] s-cica.org
[5] „Es gibt 7 gemeinsame Montagewerke für belarussische Maschinen und Geräte (OJSC MTZ, OJSC Gomselmash, OJSC MAZ - UKH BELAVTOMAZ, OJSC UKH Bobruiskagromash usw.).“ Quelle: kazakhstan.mfa.gov.by/ru/bilateral_relations/trade_economic