Estland ist seit 2004 Mitglied der Europäischen Union und eines der Vorbilder der gelungenen Digitalisierung der Verwaltung eines Staates. Das Land bezeichnet sich gerne selbst als “e-Estonia”. Viele Verfahren, wie das Ausstellen von ärztlichen Rezepten, Tickets für den öffentlichen Nahverkehr und ein digitales Schulsystem laufen in dem nördlichsten der drei baltischen Staaten wie selbstverständlich digital ab. So auch seit dem Jahr 2005 das elektronische Wählen, als in Estland als bisher weltweit einziges Land ein E-Voting-System über Computer über alle Ebenen hinweg eingeführt wurde. Nun will Estland den nächsten Schritt der Digitalisierung gehen: das Wählen per Smartphone.
Bisher kann in Estland traditionell in der Wahlkabine oder per e-Voting die Stimme abgeben werden. Als das sogenannte e-Voting wird in Estland die elektronische Stimmabgabe über das Internet mit privaten Geräten bezeichnet. Dabei können die Wählerinnen und Wähler über das e-Voting nicht nur am Wahltag selbst, sondern bereits mehrere Tage zuvor ihre Stimme elektronisch abgeben. In den meisten Fällen ist die elektronische Stimmabgabe eine Woche vor dem offiziellen Wahltag möglich. Bis zur Schließung der Wahllokale kann diese auch beliebig oft geändert werden. Die 1,2 Millionen estnischen Wahlberechtigten können so von der ganzen Welt aus mit einem Internetzugang ihre Stimme für die Wahl abgeben. Dabei wird die Anonymität der Stimme gewährleistet. Das elektronische Wählen in Estland wird über ein mehrstufiges Sicherheitsverfahren abgewickelt. So soll sichergestellt werden, dass es sich tatsächlich um die wahlberechtigte Person handelt und die Stimme geheim und verschlüsselt übermittelt wird. Die Grundlage für dieses Verfahren ist der estnische Personalausweis, der mit einer digitalen Signatur versehen ist.
Mehrstufiges Sicherheitsverfahren im e-Voting
Die digitale Signatur erlaubt einen Login mithilfe eines speziellen Lesegeräts und ermöglicht die Identifizierung durch einen persönlichen Nummerncode (PIN) eines jeden estnischen Wahlberechtigten. Stimmen diese Daten überein, kann der oder die Wählende auf die Kandidatenliste zugreifen. Für die Stimmabgabe wird ein zweiter Code generiert, der als digitale Unterschrift dient, anschließend wird die Stimme verschlüsselt weitergeleitet. Wie bereits erwähnt, kann die Stimme nachträglich noch mehrmals geändert werden und nur die zuletzt abgegebene elektronische Stimme wird für die Wahl gezählt. Am Ende der Wahl wird der elektronische Datenpool bereinigt und zur Auszählung entschlüsselt. Die traditionelle Stimmabgabe ist in Estland jedoch nach wie vor möglich. In diesem Fall zählt nur die “offline-Stimme” in der Wahlkabine für das Wahlergebnis. Erst nach Ende der Wahl werden die online mit den traditionell abgegebenen Stimmen verglichen, um eine Doppelwahl zu vermeiden. Eine personenbezogene Rückverfolgung ist aber nicht möglich. Das Verfahren steht unter regelmäßiger strenger Überprüfung, daher ist eine Wahlmanipulation in Estland weitgehend auszuschließen.
Parlamentswahl 2023: erstmals mehr Stimmen online als offline
Bereits seit 2005 (zur Orientierung: damals trat Angela Merkel ihre erste Amtszeit als Bundeskanzlerin an und es sollte noch zwei Jahre dauern, bis das erste iPhone auf den Markt kam) können die Wahlberechtigten in Estland e-Voting nutzen. Damals stimmten lediglich zwei Prozent der Wahlberechtigten online ab. Über den Lauf der Jahre fühlten sich die Estinnen und Esten aber immer wohler mit der elektronischen Stimmabgabe. Im Wahljahr 2019 waren es rund 28 Prozent der Wahlberechtigten, welche das e-Voting nutzten. Der Anteil der e-Voting-Nutzenden stieg mit jeder Wahl an und mit einer Online-Wahlbeteiligung von 51 Prozent aller abgegebenen Stimmen war das e-Voting für die Parlamentswahl 2023 auf einem Rekordhoch. Damit wurden 18 Jahre nach der Einführung des e-Votings erstmals mehr Stimmen online als physisch abgegeben.
Erfolgsmodell Estland?
Aber warum ist das Online-Voting eine so große Erfolgsgeschichte in e-Estonia? Zunächst muss man sich vor Augen führen, dass Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern ein kleines Land ist, auch im Vergleich zu anderen EU-Ländern. Lediglich die EU-Mitgliedsstaaten Luxemburg, Malta und Zypern weisen eine niedrigere Bevölkerungszahl auf. Damit einhergehend ist es strukturell einfacher, ein elektronisches Wahlsystem einzuführen und erfolgreich umzusetzen. Zusätzlich ist die Möglichkeit des e-Votings sehr attraktiv, insbesondere für die Estinnen und Esten, die sich im Ausland oder auf Reisen befinden. Jeder kann von jedem Ort der Welt seine Stimme abgeben. Estland konnte zudem erst in dem Jahr 1991 seine Unabhängigkeit wiedererlangen und demokratischen Strukturen entwickeln, daher sind politische Wahlstrukturen noch dynamisch und wandelbar. Grundsätzlich wies Estland bereits früh einen hohen Grad der Vernetzung und eine hohe Internetaffinität auf. Bereits im Jahr 2006 hatten rund 52 Prozent der Bevölkerung einen Internetanschluss.
In Estland werden E-Commerce (alle digitalen Prozesse im Zusammenhang mit dem Verkauf und Kauf von physischen und elektronischen Produkten sowie Dienstleistungen) und E-Government (digitale Dienstleistungen des Staates) seit Jahrzehnten mit einer Selbstverständlichkeit genutzt. Bereits Anfang der 2000er-Jahre wurde die Gesetzesgrundlage für eine digitalisierte Stimmenauszählung verabschiedet und 2002 wurde der elektronische Ausweis eingeführt. In Deutschland existiert der Personalausweis mit Chip erst seit dem Jahr 2010 und wird 13 Jahre später lediglich von knapp acht Prozent der Bevölkerung aktiv genutzt. Auch die hohe Bereitschaft, sensible Daten über das Internet zu übertragen, zeigt das große Vertrauen der Estinnen und Esten in die neuen Technologien: Mit rund 82 Prozent vertrauen die Bürgerinnen und Bürger den digitalen Diensten Estlands und erreichen damit regelmäßig einen der höchsten Werte für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die nationalen Regierungen innerhalb der EU.
Eine öffentliche Kritik durch Sorge vor Missbrauch der persönlichen Daten wurde in Estland nicht geäußert. Stattdessen wurde vor einer entstehenden Kluft zwischen Menschen mit und ohne Internetzugang gewarnt. Darüber hinaus wurden Bedenken hinsichtlich einer Beeinflussung der Wählerinnen und Wähler von außen und damit einer Missachtung des Grundsatzes der geheimen Wahl geäußert. Doch der estnische Staatsgerichtshof (Riigikohus) erklärte, dass elektronische Wahlen den Verfassungsprinzipien Estlands entsprechen würden.
Bald Wählen per Fingerwisch?
Anfang November 2023 stellte die estnische Regierung nun den nächsten Schritt im e-Voting vor: das Wählen über ein Smartphone oder „mobile-Voting“, kurz “m-Voting”. Es wurde die Absicht erklärt, dass die neue Wahlmethode bereits bis zur nächsten Wahl des Europäischen Parlaments im Juni 2024 nutzbar sein soll. Der estnische Minister für Wirtschaft und Informationstechnologie, Tiit Riisalo, kündigte an, dass Apps für alle gängigen Smartphone-Betriebssysteme entwickelt werden sollen, wobei auf Technologieneutralität geachtet werden soll. Es sollen nur Technologien zum Einsatz kommen, die von der Bevölkerung genutzt werden und sicher sind. Die nationale Wahlkommission soll dies sicherstellen. Dabei soll das neue m-Voting gleichermaßen sicher sein wie das bisherige e-Voting über Computer. Riisalo bekräftigt die Absicht, bereits zu den Europawahlen die neue Art des Wählens implementieren zu wollen. Spätestens zu den nächsten Kommunalwahlen 2025 soll das Wählen über Smartphone möglich sein. Noch im September sendete das Justizministerium Estlands einen Gesetzesentwurf an die Regierung, welcher die Grundvoraussetzungen und einen einheitlichen Rahmen für alle Formen der elektronischen Stimmabgabe legen soll. Dies würde auch für das Wählen über das Smartphone gelten. Dieser Entwurf der Regierung zur Änderung des Wahlgesetzes wurde heftig kritisiert. Der nationale Wahlausschuss war der Ansicht, dass eine schnelle Umsetzung des Wählens per Smartphone nicht möglich sei. Insbesondere die Überprüfung der App in den App-Stores, die Authentizität der Wähleranwendung und die Überprüfung der abgegebenen Stimmen seien nicht sichergestellt.
Nationaler Wahlausschuss: Überstürzte Einführung
Der Vorsitzende des nationalen Wahlausschusses, Oliver Kask, äußerte Sorge vor einer Beeinträchtigung des Wahlgeheimnisses, der Transparenz und der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit von Wahlen bei einer überstürzten Einführung. Zusätzlich wurde in einer Stellungnahme des nationalen Wahlausschusses an das estnische Justizministerium auf die unsichere Vereinbarkeit des Wählens über Smartphone mit der Allgemeinen Datenschutzverordnung der Europäischen Union hingewiesen. Die verwaltenden Unternehmen der App-Stores hätten Zugriff auf Informationen, welche Nutzerinnen und Nutzer eine Wahl-App auf das Smartphone herunterladen hat. Kask sieht aber durchaus Potenzial in der Einführung des Wählens über das Smartphone. Dies müsse aber mit dem Abbau von Risiken und einem gesellschaftlichen und politischen Konsens als Ergebnis von Debatten verbunden sein.
Im November legte das Justizministerium schließlich einen Entwurf für die Identifizierung über sog. smart-devices, und damit die Grundlage des Wählens über Smartphones der Regierung vor. Zusätzlich bereinigt dieser Gesetzesentwurf einige durch den Obersten Gerichtshof aufgezeigten Mängel bei der elektronischen Stimmabgabe und legt das Verfahren der Identifizierung der Wähler beim e-Voting fest. Allerdings unterscheidet sich dieser Entwurf im November wohl in keiner signifikanten Weise von dem im September durch den Wahlausschuss kritisierten Entwurf. Am 9. November 2023 wurde der Öffentlichkeit dieser Entwurf vorgestellt. Der Verfassungsausschuss des estnischen Parlaments unterstützt den von der Regierung initiierten Gesetzentwurf und übergab ihn schließlich am 21. November 2023 zur ersten Lesung dem Parlament von Estland (Riigikogu). Erneut kritisierte der nationale Wahlausschuss den Entwurf der Regierung. Der Stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses erklärte, dass gravierende Schwierigkeiten des m-Votings nicht im Gesetzentwurf berücksichtigt worden seien. Verfahren und Ergebnisse seien nicht transparent oder überprüfbar. Der Gesetzesentwurf lege den Fokus auf rein kosmetische Probleme. Auch nationale Politikerinnen und Politiker kritisierten die geplante Einführung des m-Votings.
Der ehemalige Umweltminister von Estland, Erki Savisaar, von der Estnischen Zentrumspartei (Mitte-links), weist in einem Statement in Postimees, der größten estnischen Tageszeitung, auf das Fehlen von konkreten technischen Lösungsstrategien für das m-Voting hin und äußert sich skeptisch über die notwendige Sicherheit bei dieser Art von Stimmenabgabe. Zusätzliche Kontrollen bei elektronischen Wahlen im Vergleich zu herkömmlichen traditionellen Wahllokalen seien erforderlich. Dabei seien auch der Einsatz von Gesichtskennung, die Aufstockung von Wahlauszählungszentren sowie die Einbeziehung von Universitäten in der Wahlauszählung abzuwägen.