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- Da sind zunächst die Altpazifisten, die uns einzureden versuchen, man brauche für ein wirksames Bündnis eine Bedrohung, einen konkreten Feind. Die naive These vom Verlust des Feindbildes wird leider auch aus der Gedankenlosigkeit benutzt, nach dem Motto: Es hat so lange nicht gebrannt, schaffen wir die Feuerwehr ab.
- Dann gibt es natürlich die Gruppe der Neo-Isolationisten und Neo-Nationalisten. Man leitet z.B. aus der lange vorherrschenden mangelhaften Einigkeit des Westens im Falle Ex-Jugoslawiens die Notwendigkeit einer Renationalisierung der Außen- und Sicherheitspolitik ab. Das Gegenteil ist richtig. Gerade die vielfältigen, einseitigen nationalen Partei-nahmen verlängern den Konflikt und machen eine Lösung schwieriger. Die Rolle der NATO als ein Instrument der Staatengemeinschaft hat die Bedeutung der Integration des Wollens der Mitgliedstaaten deutlich gemacht. Der Einsatz in Bosnien hat bewiesen, daß erst die Einigkeit der Mitglieder die volle Entfaltung des Bündnisses möglich macht.
- Die Priorität der Innenpolitik führt bei vielen Politikern und Bürgern zu einer allgemeinen Erlahmung des Interesses und der Diskussion von Prioritäten in Fragen der Sicherheitspolitik. Sicherheitsvorkehrungen wie Streitkräfte, Nachrichtendienste und Entwicklungshilfe sind aufwendig. Deshalb blickt mancher Politiker auf sie als Entnahmequelle für Ressourcen, die dem Nahbereich zugute kommen könnten.
- Vielfach ist auch eine intellektuelle Überforderung durch die hohe Komplexität heutiger internationaler Beziehungen zu beobachten. Das Denken in den bipolaren Kategorien schwarz/weiß oder gut/böse ist einfacher, aber heute nicht mehr hinreichend. Medien und politische Bildung schaffen den Transfer nicht, deshalb wenden sich viele Bürger ab oder lassen sich von den "Terribles Simplificateurs" die einfache, aber leider meist falsche Lösung verkaufen.
- Es ist erstaunlich, wie viele Kritiker der NATO den Vertrag von Washington noch nicht einmal oder lange nicht mehr gelesen haben. Das Urteil aus zweiter oder dritter Hand ist weitverbreitet.
- Das Studium der Geschichte des Bündnisses ist das Studium der ge-meisterten Krisen. Es gab derer viele. Eine neuere Studie der Stiftung Wis-senschaft und Politik trägt bezeichnenderweise den Titel: "NATO at the Crossroads, Once again!"
- Viele haben die Reformprozesse, die seit 1989 in die Wege geleitet wurden, noch nicht zur Kenntnis genommen. Die etwas künstliche Einteilung der Bündnisse in solche "kollektiver Sicherheit" und "kollektiver Verteidigung" durch die Politikwissenschaft reduziert nach wie vor die Wahrnehmung der NATO als Institution zur reinen Verteidigung des Territoriums der Bündnispartner.
Der Vertrag von Washington
Ein Blick in den Vertrag von Washington zeigt interessante Zielsetzungen des Bündnisses seit seiner Gründungszeit auf. Die Präambel lautet:
"Die Parteien dieses Vertrags bekräftigen erneut ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben. Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten. Sie sind bestrebt, die innere Festigkeit und das Wohlergehen im nordatlantischen Gebiet zu fördern. Sie sind entschlossen, ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen. Sie vereinbaren daher diesen Nordatlantikvertrag:"
Die NATO wurde mit der ausdrücklichen Betonung der Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen gegründet. Die Bezugnahme auf die wenige Monate vorher verabschiedete "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" ist eindeutig. Der Hinweis auf das gemeinsame Erbe und die darauf beruhende Zivilisation zeigt das Bündnis als eine Allianz der westlichen Kultur und Zivilisation. Die Erwähnung von Stabilität und Wohlergehen spielt an auf die in Artikel 2 genannte wirtschaftliche Zusammenarbeit. Das Ziel "gemeinsame Verteidigung" wird verbunden mit "Erhaltung von Freiheit und Sicherheit", klassische Ziele der "kollektiven Sicherheit".
Neue Herausforderungen
Die große, umfassende militärische Bedrohung der Vergangenheit ist extrem unwahrscheinlich geworden. Neue, teils globale Interdependenzen und Herausforderungen treten in unser Bewußtsein. Natürlich gibt es die klassischen Konfliktursachen noch. Das Streben nach Hegemonie, der Grenzkonflikt, der Kampf um Ressourcen sind nicht plötzlich ausgestorben. Jedoch treten andere Kriegs- und Bürgerkriegsursachen hervor: Das Streben nach Menschenrechten und Selbstbestimmung steht im Spannungs-feld mit dem Gebot der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und dem Bestreben, den zerfallenden Staat zusammenzuhalten. Große Wohlstandsgefälle, soziale Konfliktursachen, Verlust der Lebensbedingungen durch Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion und Armutswanderungen sind teilweise in unheilvoller Kombination mit religiösem Eifer und ideologischem Fundamentalismus zur explosiven Mischung geworden. Internationale organisierte Kriminalität und Mißachtung des Völkerrechts, z.B. bei der Waffenproliferation, verstärken die Unfriedlichkeit. Die Welt ist grundsätzlich auch nach dem Ende des kommunistischen Imperiums nicht friedlicher geworden. Dimension und Wahrscheinlichkeit des Konfliktes haben sich nur umgekehrt.
An die Stelle der Weltkriegsgefahr mit relativ geringer sind viele kleinere und mittlere Konflikte mit relativ hoher Eintrittswahrscheinlichkeit getreten. Das internationale System und das Völkerrecht sind auf den Wandel nur unzureichend vorbereitet. Zwei Problembereiche sind besonders hervorgetreten. Der Zerfall starker, meist diktatorischer Regime in den ehemaligen Bundesstaaten Sowjetunion und Jugoslawien wirft die Frage nach dem Charakter und den Voraussetzungen der Bildung oderWiedererstehung von Nationalstaaten auf, nach den Problemen oft künstlicher Grenzziehungen, nach der Legitimität von Sezessionen und läßt neue oder alte Minderheitenprobleme zutagetreten. Darüber hinaus provozieren unhaltbare Zustände im Inneren von Staa-ten eine erneute Diskussion über die Rechte und Pflichten der Staatengemeinschaft, wenn Völkermord begangen wird, wenn Menschen- oder Minderheitenrechte hemmungslos und massenhaft mit Füßen getreten werden, wenn Diktatoren mit Massenvernichtungswaffen spielen und wenn Staaten ohne Regierung in Tribalismus und existentieller Not für Hunderttausende untergehen.
Auch die Unsicherheit über den Ausgang laufender Reformprozesse, manche sind noch nicht einmal irreversibel, verlangt kluge, auch vorsichtige Politik. Neue Herausforderungen verlangen nach Antworten, internationale Strukturen müssen angepaßt werden. Die Staatengemeinschaft, besonders die Vereinten Nationen, müssen reagieren, ihre Instrumente, auch die NATO, müssen adaptiert und scharf gehalten werden.
Die Entwicklung des Bündnisses hat sich seit der großen Wende in einigen wichtigen Etappen vollzogen. Die Anpassung der NATO hat nach außen sichtbar mit der Erklärung von
London, Juli 1990, begonnen: Es ist erstmalig von dem "ganzen und freien Europa" die Rede. Das Bündnis bezeichnet sich als "Motor der Veränderung" und reicht den Antagonisten des Kalten Krieges "die Hand der Freundschaft". Die Zielsetzungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) werden voll unterstützt. Diese schlagen sich wenige Wochen später in der Unterzeichnung von Rüstungskontrollabkommen und vor allem in der Charta von Paris nieder.
Entwicklung des Bündnisses
Das Neue Strategische Konzept des Bündnisses wird von den Staats- und Regierungschefs beim Gipfel in Rom, November 1991, beschlossen. Es betont die unveränderten Kernaufgaben und fügt neue Elemente hinzu:
- Die unverzichtbaren Grundlagen stabiler Sicherheit sollen gelegt werden, so daß kein Staat in der Lage ist, einen europäischen Staat einzuschüchtern oder Hegemonie durch die Androhung von Gewalt auszuüben.
- Das Bündnis dient gem. Artikel 4 des Vertrages als transatlantisches Forum für Konsultationen über lebenswichtige Fragen.
- Abschreckung und Verteidigung gegen Angriffe auf Mitgliedstaaten sollen nach wie vor aufrechterhalten werden.
- Das strategische Gleichgewicht in Europa soll durch andauernde US-Präsenz gesichert werden.
- Dialog und Kooperation wurden als Elemente einer neuen Strategie im Rahmen eines "erweiterten Sicherheitsbegriffs" besonders betont.
- die fortdauernde Rolle des Bündnisses für die Sicherheit seiner Mitglieder,
- die Unterstreichung der Bedeutung des europäischen Einigungsprozesses im Sicherheits- und Verteidigungsbereich,
- die qualitative Verbesserung des Verhältnisses zur Sowjetunion und anderen Staaten Mittel- und Osteuropas und
- die Einladung an diese, dem NATO-Kooperationsrat zur Stärkung der Zusammenarbeit beizutreten;
- die Unterstützung der Arbeiten der KSZE im Zusammenhang mit der Helsinki-Folgekonferenz 1992.
Der NATO-Gipfel in Brüssel, Januar 1994, stellt einen weiteren wichtigen Meilenstein im Wandlungs- und Anpassungsbemühen der NATO dar. Es ging um folgende wichtige Entscheidungen:
- Unterstreichung der fortdauernden Bedeutung der Allianz einschließlich ihrer transatlantischen Bindung und der Wichtigkeit einer substantiellen US-Präsenz in Europa,
- volle Unterstützung für die Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität entsprechend dem Maastrichter Vertrag,
- die Entwicklung der "Combined Joined Task Forces" als einer Methode zur Nutzung von europäischen Mitteln "herausgelöst, aber nicht getrennt" von der NATO,
- die Bereitschaft, von Fall zu Fall auch andere als die traditionellen Aufgaben zu übernehmen. Man will die Mittel der Allianz für UN- oder KSZE-Friedens- oder andere Operationen nach den eigenen Verfahren zur Verfügung stellen.
- Erklärung, daß man zur Erweiterung der Mitgliedschaft nach Artikel 10 des Washingtoner Vertrages durch demokratische Staaten im Osten bereit sei und eine solche begrüßen würde.
- Beschluß des Programms "Partnerschaft für den Frieden", das die praktische Zusammenarbeit drastisch verbessern soll und eine wichtige Rolle bei der Erweiterung der Mitgliedschaft spielen kann.
Der Weg in die Zukunft
Was bleibt noch zu tun? Wo liegen die Aufgaben der Zukunft, damit das Bündnis vital und stark bleibt? Drei eng miteinander verwobene Hauptthemen stehen auf der Tagesordnung:
- Der europäische Pfeiler im Sinne der angestrebten "Gemeinsamen Au-ßen- und Sicherheitspolitik" gemäß des Maastrichter Vertrages, die zukünftige Rolle der Westeuropäischen Union (WEU) und die Rolle der neuen und zukünftigen EU-Mitglieder sind noch vielfach unklar. Das Verhalten der europäischen Mitgliedstaaten über einige Jahre des Konfliktes in und um das frühere Jugoslawien ist kein Musterbeispiel an Einigkeit und wirft ernsthafte Zweifel an der Konsensbereitschaft auf. Die Regierungskonferenz der Jahre 1996/97 ist mit viel Klärungsbedarf in politischen, aber auch strukturellen Fragen konfrontiert. Dabei wird eine Klärung der Frage nach der Rolle der britischen und französischen Nuklearwaffen nicht zu vermeiden sein.
- Die Öffnung der NATO-Mitgliedschaft ist intern, extern und mit Bezug auf die Kandidaten ein schwieriger Prozeß. Innerhalb des Bündnisses wurde bisher die Frage nach der Festlegung auf bestimmte Länder und auf einen absehbaren Zeitplan vermieden. Verschiedene Mitgliedstaaten sehen diese Frage auch mit unterschiedlicher Priorität.
- Das politische Bündnis zwischen Europa und Nordamerika muß deutlicher in Erscheinung treten, ohne seine klassische Verteidigungsrolle dabei zu vernachlässigen. Harmel-Doktrin, aktive Mitwirkung im Helsinki-Prozeß, NATO-Kooperationsrat und "Partnerschaft für den Frieden" sind praktische Belege dafür, daß die NATO nie nur ein Militärbündnis war. Die Bereitschaft, von Fall zu Fall und nach den eigenen Regeln sich den Vereinten Nationen (UN) oder der OSZE zur Verfügung zu stellen und dabei auch außerhalb des NATO-Beistandsgebietes ("Out-of-Area") tätig zu werden spricht auch dafür. Das alles ist möglich, ohne den Vertrag von Washington zu ändern, der ja nur für die Beistandspflicht bindende Grenzen vorschreibt.
Sieben gute Gründe für die NATO
- Die NATO ist die transatlantische Verbindung der Werte auf allwetterfähiger Vertragsbasis. Sie beruht auf dem westlichen Werteverständnis, das aus Christentum und Aufklärung hervorgegangen ist. Europa hat nicht zuletzt wegen deutscher Schuld auf eine sehr belastende Weise gelernt, wie leicht man Freiheit verlieren und wie schwer man sie nur wieder erringen kann. Wir verbinden unsere Interessen an Menschenrechten, Demokratie, der Herrschaft des Rechts und der sozialen Marktwirtschaft, um sie gemeinsam zu schützen und zu mehren.
- Die NATO hat sich in ihrer ganzen Geschichte als arbeitsfähige politische Allianz erwiesen. Sie hat die größten Veränderungen der letzten Jahre angenommen und die notwendigen Änderungen und Anpassungen vorgenommen. Sechzehn souveräne Staaten haben immer wieder auch in scheinbar auswegloser Lage Wege zur Einigkeit und zum Kompromiß gefunden. Kompromiß bededeutet Opfer. Wer würde für geringe Werte Opfer bringen?
- Die NATO verfügt über leistungsfähige militärische Strukturen, die konsequent an neue Herausforderungen z.B. des Krisenmanagements und der Friedensoperationen angepaßt werden. Die militärische Präsenz der USA in Europa und die Sicherung der atlantischen Seeverbindungen sind dafür unverzichtbare Elemente.
- Die NATO bildet den Rahmen der nuklearen Abschreckung, die die USA für Europa zu übernehmen bereit sind. Dieser Nuklearschirm hat neben seiner Primärwirkung der Abschreckung auch die Sekundärwirkung bei denjenigen Verbündeten, die keine Nuklearwaffen haben, auch nicht haben wollen, daß der Wunsch nach eigenen Nuklearwaffen gar nicht erst aufkommt. Das gilt auch für Deutschland. Angesichts der Gefahr der Proliferation von Massenvernichtungswaffen - einschließlich weitreichender Flugkörper - ist der Schutz gegen nukleare Erpressung auch in Zukunft unverzichtbar.
- Die NATO ist der Stabilitätsanker nicht nur für ihre Mitglieder, sondern besonders auch für die Reformdemokratien Ost- und Mitteleuropas. Auch diejenigen europäischen Staaten, die ihr nicht beitreten können oder wollen, profitieren davon.%%Þr NATO-Kooperationsrat und das Programm "Partnerschaft für den Frieden" schaffen Verbindungen, Vernetzung und Vertrauensbildung schon diesseits der formellen Mitgliedschaft.
- Die NATO hat eine bemerkenswerte Lern- und Anpassungsfähigkeit bewiesen. Sie hat auf der Grundlage eines 1949 mit viel Weitsicht verfaßten Vertrages ihrem 1952 und 1955 erweiterten Mitgliederkreis Jahrzehnte der Sicherheit in der Zeit der Ost-West-Konfrontation gewährleistet. Die letzten fünf Jahre haben bewiesen, daß das Bündnis zum Wandel fähig ist.
- Die NATO hat angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage den "erweiterten Sicherheitsbegriff" akzeptiert, der nicht nur das Territorium im Falle eines Angriffs als Schutzobjekt hat, sondern den aufkommenden Konflikt durch vielschichtiges Krisenmanagement rechtzeitig zu erkennen und aufzulösen sucht. Der Wille, die Kraft der Partner zu bündeln, ist gefragt.
Mit Sicherheit ist die letztere Funktion unverzichtbar, aber eine gute und sichere Zukunft ist nicht nur militärisch zu gewährleisten.