Отделно заглавие
Diese Debatte ist, natürlich, nicht neu. Ihre Wurzeln
reichen zurück in das 19. Jahrhundert, in die Zeit der Entstehung der
Geisteswissenschaften im Zuge der Humboldtschen Bildungsreform.
Joachim A. Ritter und Helmut Schelsky nahmen die Diskussion in den 1960er-Jahren neu auf und machten sie zu einer öffentlichen Angelegenheit. Sie
fragten nach den Aufgaben der Philologien in der modernen Gesellschaft und
nach den Grundlagen für eine Reform der deutschen Universität im Zeichen der
Einheit der Wissenschaften. Danach verbindet sich die Diskussion darüber mit
Namen wie Odo Marquard, Wolfgang Frühwald und Jürgen Mittelstraß; dennoch
blieb sie allzu lange ein Gespräch unter Insidern.
Das ist heute anders. Die gegenwärtige Debatte spielt sich In den
Feullietons ab und erreicht eine große wissenschaftlich interessierte
Öffentlichkeit. Damit fordert sie auch die Politik zu Stellungnahmen heraus.
Geisteswissenschaften haben Konjunktur, jedenfalls wenn man von ihrer
öffentlichen Wahrnehmung ausgeht. Doch auch das mediale Interesse kann die
Ursachen der Probleme der Geisteswissenschaften nicht beheben. Die größten
Schwierigkeiten bereitet nach wie vor der Stellenabbau an den Universitäten.
Betroffen sind davon vor allem die Geisteswissenschaften. Der Präsident des
Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, rechnete kürzlich vor, dass die
geisteswissenschaftlichen Fakultäten zwischen 1995 und 2005 663 Professuren
bei gleichzeitig ansteigenden Studentenzahlen verloren haben. Am stärksten
betroffen von diesem Stellenabbau ist die klassische Philologie, die 35
Prozent ihrer Professuren abgeben musste. Aber auch die
Erziehungswissenschaften und die Theologie haben erhebliche Einbrüche zu
verzeichnen. Diese Entwicklung steht einer notwendigen Qualitätsverbesserung
der Lehre an den Universitäten und Technischen Hochschulen dort entgegen, wo
dies zu einer weiteren Verschlechterung der Betreuungsrelation zwischen
immer mehr Studierenden und immer weniger Hochschullehrern führt.
Die mangelnde Berücksichtigung der Geisteswissenschaften bei der
Exzellenzinitiative, die politisch erhobene Forderung nach ihrem
"Relevanznachweis", die jedenfalls so empfundene geringere Berücksichtigung
bei öffentlichen Drittmitteln schwächen die Selbstbehauptungskräfte der
Geisteswissenschaften. Die unsere Gesellschaft immer stärker prägenden
technischen Disziplinen und Naturwissenschaften erhöhen, weil sie "Produkte"
verheißen, die unserer Wirtschaftskraft zugute kommen, den Druck auf die
Geisteswissenschaften.
Dazu tragen auch der drohende Abbau der traditionellen Universitätsidee und
die Imitation angloamerikanischer Studienorganisation bei. In beiden Fällen
werden Auswirkungen auf die fachwissenschaftliche Qualität
geisteswissenschaftlicher Bildung befürchtet. Die Liste der echten oder
zumindest gefühlten Lasten ließe sich weiter verlängern. Wie kommt es zu
diesem Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften in der politischen und
gesellschaftlichen Debatte? Hat er etwas zu tun mit dem Verschwinden oder
Verdrängen der traditionellen deutschen, im Wesentlichen
geisteswissenschaftlich orientierten Bildungsidee und damit eines
"bildungsbürgerlichen Resonanzbodens" für ihre Themen?
Liegt darin auch die tiefere Ursache für die wachsende Ökonomisierung von
Bildung und Kultur, das Denken in "Markt" und ”Kunden", in Quantität statt
in Qualität, das schon in der Schulpolitik einsetzt? Retten sie
Legitimationsformen wie Odo Marquards "Kompensationsthese", nach der die
Geisteswissenschaften Modernisierungsverluste ausgleichen sollen, oder der
vielbeschworene "Dialog" mit den Naturwissenschaften? Welche Bedeutung haben
sie für das Selbstverständnis und den kulturellen Standard unserer
Gesellschaft?
Oder drehen wir die Frage einmal um: Was wäre, wenn die
Geisteswissenschaften fehlen würden und dadurch die kommunikativ-symbolische
Reproduktion der Gesellschaft kollabierte? Es fällt auf, dass die deutschen
Geisteswissenschaften weltweit höchste Anerkennung genießen. Wie der
Wissenschaftsrat 2006 bescheinigte, bringen sie international anerkannte
Spitzenleistungen hervor. Sie tragen entscheidend zum Ansehen deutscher
Universitäten bei!
Vor allem aber: Sie erbringen Orientierungsleistungen für Gegenwart und
Zukunft, indem sie Fragen stellen und vermeintliche Gewissheiten in Zweifel
ziehen. "Der menschliche Intellekt wird nicht ablassen, Fragen zu stellen,
welche die Naturwissenschaft für illegitim oder unbeantwortbar erklärt hat
... Naturwissenschaftliches und technologisches Denken ist kumulativ ... Was
stellt im Gegensatz hierzu einen Fortschritt gegenüber Platon oder Dante
dar? .. Die Fragen, die Platon oder Kant behandelt haben, sind heute ebenso
relevant, wie sie es am Anfang waren. Nur die Gewissheit altert", schreibt
der Philosoph George Steiner.
Für die Stabilität und die Zukunft unserer Gesellschaft ist es sicher
entscheidend, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen und
"Wohlstand für alle" garantieren. Nur so ist langfristig eine breite
Zustimmung für unsere demokratische Gesellschaftsordnung zu sichern. Nicht
minder entscheidend bleibt aber der Hinweis darauf, dass eine Gesellschaft
ihre geistige Stabilität und ihr kulturelles Selbstverständnis nicht "vom
Brot allein" bezieht. Der 11. September 2001 hat eindrücklich ins Gedächtnis
gerufen, wie fragil die modernen, komplexen Gesellschaften der westlichen
Welt geworden sind.
Die aktuelle Debatte um eine deutsche "Leitkultur" verweist darauf, wie
wichtig auch oder gerade in der säkularisierten Gesellschaft die
Selbstverständigung über ihre Grundlagen und gemeinsamen Orientierungen ist,
wie Norbert Lammert betont hat: "Dabei spielen Geschichte, historische
Erfahrungen, Sprache, Traditionen, religiöse und weltanschauliche
Überzeugungen eine unverzichtbare Rolle."
Unbestreitbar ist, dass eine Gesellschaft auf geistige Ressourcen angewiesen
ist, die ihre innere Stabilität auch dann stützen, wenn wirtschaftliche
Erfolge einmal einbrechen sollten. Die freie Entfaltung der Marktkräfte
gehört zu den wesentlichen Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Erfolgs.
Dennoch sind Kultur und Wissenschaft nicht über den Markt allein zu regeln.
Vielmehr verdankt sich ihre Existenz auch der Tatsache, dass sie
gesamtgesellschaftlich notwendige Ressourcen darstellen. Denn die Frage, was
unsere Gesellschaft zusammenhält oder zusammenhalten soll, setzt jenes
"Bildungswissen" voraus, das als kulturelles Gedächtnis und Traditionsbezug
sowohl Kommunikation und damit Gemeinsamkeit wie auch individuelle
Entfaltung erst ermöglicht.
Als elementares soziales Bindemittel eröffnet dieses Wissen einen Fundus
gemeinsamer Wertüberzeugungen und ethischer Optionen. So bedürfen etwa die
Prinzipien von Menschenbildern immer wieder der Vermittlung zur Realität,
die nur aus der Universalität des Wissens heraus gelingen kann. Die
geschichtlich gewachsenen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen
Architektur-Prinzipien unseres Gemeinwesens, nämlich die Prinzipien der
politischen Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der
Sozialen Marktwirtschaft, hätten sich ohne Geisteswissenschaften nicht
entwickeln können und müssten ohne sie verloren gehen.
Demokratiewissenschaften können deshalb nur die Geisteswissenschaften sein!
Denn nur sie können diese Prinzipien begründen und so vermitteln, dass sie
zum Maßstab des gesellschaftlichen Urteilens und Handelns werden. Das gilt
auch für die moralische Beurteilung der beiden diktatorischen
Unrechtssysteme in Deutschland nach 1933, den Nationalsozialismus und die
SED-Diktatur.
Nicht minder groß sind die Herausforderungen der Zukunft.
Geisteswissenschaftler werden gebraucht für Diskussionen über
Bürgergesellschaft und Demokratie, über Freiheit und Gerechtigkeit, über die
Integration und das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen, über
Geschichtspolitik und Kritik an Geschichtsbildern, über Erinnerungskultur
und über die Bedeutung der Bildung für die Zukunft unserer Gesellschaft.
Fragen wie "Was ist der Westen?", ”Warum ist Europa eine
Kulturgemeinschaft?", "Was ist nationale, was europäische Identität?" und
"Wie können wir gemeinsam aus unserer Geschichte lernen und die Zukunft
meistern?" markieren Problemstellungen, die ohne den
geisteswissenschaftlichen Diskurs und den Pluralismus der Antworten, die
damit verbunden sind, nicht sinnvoll behandelt werden können. Die
Geisteswissenschaften sind ganz offensichtlich ein unverzichtbarer und daher
selbstverständlicher Teil unserer modernen Kultur, die ohne sie nicht
auskommen kann.
Der ganze Aufsatz erscheint in dem von Prof. Jörg-Dieter Gauger und Prof. Günther Rüther herausgegebenen Band "Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben! Ein Beitrag zum Wissenschaftsjahr 2007" welcher ab November im Handel ist.