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Als Estland seine politische Unabhängigkeit zurückerlangte, war es noch eingebunden in die Strukturen des RGW, lag bei allen Kennzahlen wirtschaftlich hinter der damals im Ostblock führenden DDR und krankte an jenen Schwierigkeiten, die sozialistischen Ländern eben gemein waren.
Wie die sonstige Infrastruktur, war auch das Telekommunikationsnetz in einem technisch veralteten und sehr schlechten Zustand. Sowohl die flächendeckende Versorgung mit Telefonanschlüssen als auch eine ausreichende Anzahl von internationalen Leitungen waren nicht gegeben. In Estland ist ein Bild aus dem Jahr 1990 unvergessen, das jeder Besucher noch heute auf dem Schreibtisch des Staatspräsidenten Lennard Meri sehen kann. Es hält die technischen Probleme beim Führen eines Ferngesprächs wie in einer Allegorie fest.
Vor nur 10 Jahren musste der damalige Außenminister Lennart Meri mangels internationaler Leitungen z.B. ein Gespräch zwischen Tallinn und den USA mit dem Honorarkonsul Ernst Jaakson über das Büro des estnischen Architekten Hando Kask in Stockholm abwickeln, indem der Telefonhörer des aus Tallinn ankommenden Gespräches in Stockholm mit dem Telefonhörer des von Stockholm in die USA abgehenden Gespräches zusammengehalten wurde. Nur so war damals das Ferngespräch möglich. Aber diese Zeiten sind lange vorbei.
Im November 1999 (neuere Zahlen sind nicht verfügbar) existierten bereits 511.000 analoge und über 15.000 ISDN-Telefonanschlüsse mit über 556.000 daran angeschlossenen Telefonapparaten.
Diese rasante Entwicklung war durch die Teilprivatisierung der AS Eesti Telekom möglich, die internationales, vor allem skandinavisches Kapital und Know-how ins Land zog. 1993 wurde ein achtjähriges Monopol für das Telefonfestnetz vereinbart, um den Investoren Planungssicherheit zu geben. Dieses Monopol endet am 1.1.2001 und führt dann zur Liberalisierung des gesamten Festnetzes. Der Mobilfunkmarkt ist bereits vollständig liberalisiert.
Heute ist aus dem relativ rückständigen Estland ein beispielgebendes Transformationsland geworden, das in der Informationstechnologie einige westeuropäische Länder längst hinsichtlich Marktdichte, Akzeptanz, Nutzung und technischer Anwendbarkeit überholt und hinter sich gelassen hat. In Estland ist vieles schon Realität, worauf man in Deutschland noch wartet. Der Bereich Informationstechnologie ist dafür ein einprägsames Beispiel.
Estland wird im Westen immer noch eher mit Kriminalität und Prostitution in Verbindung gebracht als mit der viel eher zutreffenden Revolution im IT-Bereich, die hier das Leben weitaus stärker prägt als z.B. in Deutschland.
Auch in Estland beginnt der Weg in die Informationsgesellschaft mit dem Besuch der Schule. Seit 1996 ist die "Kompetenz in der Informations- und Kommunikationstechnik" neben Umwelt-, Verkehrs- und Karriereplanung eines der vier verpflichtenden, fächerübergreifend zu behandelnden Unterrichtsthemen. Der Informatikunterricht ist für alle Schüler obligatorisches Unterrichtsfach.
Aber der fächerübergreifende Unterricht soll den Schüler in Estland befähigen, Informationen mittels verschiedener Medien und Techniken zu finden, zu erzeugen, zu bearbeiten, zu analysieren und zu präsentieren. Die Lehrer werden dabei in ihrer anspruchsvollen Aufgabe von einem durch die Universität Tartu als Teacher´s NetGate geschaffenem Portal unterstützt. Hier sind die Internetdienstleistungen für Lehrer zusammengestellt.
Von wesentlicher Bedeutung für die Nutzung des Internet an den Schulen war das 1997 gestartete Programm "Tigersprung", das mit Millionenbeträgen aus staatlichen, privaten und EU Fördermitteln die Entwicklung von Lernsoftware, Lehrerfortbildungen und den Kauf von Computern gefördert hat.
An den Hochschulen wird sich die Ausbildung von IT-Spezialisten durch die Eröffnung des "Applied Information Technology College" zum Wintersemester 2000 / 2001 deutlich verbessern. Das College wird getragen von der Regierung, den Universitäten Tartu und Tallinn, der Eesti Telekom und dem Verband der estnischen Computerunternehmen, der die Lobbyorganisation von über 40 estnische IT-Firmen ist. Die schwedische Regierung gab Ende Juli 2000 bekannt, dass sie die Gründung des College mit 300.000 US $ unterstützen wird.
Im Westen wenig bekannt ist der bereits erreichte technische Stand in den Informationstechnologien und die Durchdringungsdichte des Marktes. Diese Revolution von oben wird im Wege einer doppelten Strategie der Regierung Mart Laar konsequent umgesetzt:
- Durch die vorbildhafte Förderung der IT-Technologien gerade auch in den öffentlichen Verwaltungen und die Bereitstellung von kostenlosen Internetzugängen für die Bürger und
- durch eine konsequente Liberalisierung der Märkte in Verbindung mit einer beispielhaften Niedrigsteuerpolitik.
Dass mit Hilfe dieser Zukunftstechnologie die Minister auch während der Kabinettssitzungen Informationen aus ihren Häusern abrufen und leitende Beamte mittels Videokonferenz befragt werden können, sind wichtige Nebeneffekte. Wer den Kabinettssaal in Estland einmal gesehen hat, weiß, dass er ein neues Jahrhundert betritt.
Computerflachbildschirme an jedem Ministerarbeitsplatz im Kabinett weisen den Weg ins Zeitalter der Informationstechnologie. Auch können die Minister mit der neuen Technik dank eines obligatorischen Einführungskurses professionell umgehen.
Mit nicht unbegründeter Freude spötteln die Esten darüber, dass die Visitenkarten vieler - sonst freundlich willkommener - Besucher aus Deutschland noch nicht einmal eine E-Mail-Adresse haben, sondern lediglich einen Faxanschluss. In Estland gilt dies als rückständig, denn hier wird mittels E-Mail, SMS oder Handy kommuniziert und selbst offizielle Einladungen oder Grüße werden digitalisiert verschickt.
Das Handy ist wie keine zweite Innovation das sicht- und hörbare Beispiel, um den rasanten Fortschritt in Estland zu verdeutlichen. Esten lieben ihr mobile (Handy) und nutzen es nur dort nicht, wo es streng verboten ist.
Es ist sichtbares Kommunikationsmittel in allen Lebenslagen und wird gerne auch in der Öffentlichkeit und ganz selbstverständlich von allen Alters- und Bevölkerungsschichten genutzt. In Estland, könnte man sagen, klingelt es eigentlich immer. Und die Einwohner haben das Signal wohl verstanden.
Einige Zahlen sprechen für sich. In Estland leben lediglich 1.370500 Einwohner und liegt das Bruttodurchschnittseinkommen immer noch bei ca. 500,- DM im Monat. Dennoch hatten im August 2000 gut 30 % der Bevölkerung ein Mobiltelefon (ca. 450.000).
Das Mobilfunknetz deckte mehr als 99 % der Fläche Estlands ab, obwohl mehr als 1000 Inseln zu Estland gehören, auf denen fast überall auch in guter Qualität mobil telefoniert werden kann.
Ende 1999 (neuere Zahlen sind noch nicht verfügbar) besaßen 100.000 Menschen einen privaten PC. Im Januar 2000 kamen auf 10.000 Privathaushalte 214 Internet-Anschlüsse, im Vergleich zu 200 in Deutschland. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung nutzte das Internet, wobei eine Befragung ergeben hat, dass in der Altersgruppe der 15 - 19jährigen der Anteil mit 58% am höchsten war.
E-banking, E-commerce und andere elektronische Dienstleistungen weisen enorme Zuwachsraten auf. Im letzten Jahr haben bereits mehr als 11.000 Bürger ihre Einkommenssteuererklärung über das Internet abgegeben.
In der Homepagedichte pro Einwohner liegt Estland ungefähr mit Deutschland gleichauf, wobei 50% der Homepages in Estland auf Englisch verfasst sind. Allerdings sind die Steigerungsraten in Estland deutlich höher als in Deutschland, (17 % zu 2% von Juni zu Juli 2000). Im ersten Quartal 2000 gaben 68 % der estnischen Unternehmen an, eine eigene Homepage zu haben.
Dieses hohe Niveau wird in der Schüler-Computer-Relation in den öffentlichen Schulen noch nicht erreicht. Anfang 1999 betrug das Verhältnis 28:1. Aber nahezu alle Grundschulen verfügten im Mai 2000 über einen Internetzugang, 50 % der Schulen boten ihren Schülern die Möglichkeit an, E-Mails zu versenden, 25 % verfügten über eine eigene Homepage.
Diese Ergebnisse sind einer Revolution von oben zuzuschreiben, die mit dem estnischen Ministerpräsidenten Mart Laar verbunden ist. So wurde die estnische Verwaltung auf einer von MICROSOFT und COMPAQ veranstalteten Konferenz im Mai 2000 in Tallinn als die IT-freundlichste in den drei baltischen Staaten gelobt.
Der estnischen Ministerpräsident erhielt außerdem die Auszeichnung "Actor of the year" als internetfreundlichste Persönlichkeit. Neben der bereits beschriebenen flächendeckenden Einführung und Nutzung der IT-Technologie für das Kabinett betreibt ein Maßnahmekatalog der Regierung Mart Laar die Nutzung und Durchsetzung der IT-Technologie für das ganze Land. Dieser wird zielstrebig umgesetzt.
So existiert beispielsweise seit 1997/98 ein Computernetzwerk der estnischen Kreisstädte, das über 450 Behörden verbindet. Die Anstrengungen der Regierung aber gelten nicht nur der Verwaltung, sondern zuerst den Bürgern. Dies wird in der estnischen Informationsgesetzgebung deutlich. Ziele sind ein freier Wettbewerb zwischen den Anbietern, die Regelung der Lizenzvergabe sowie ein verstärkter Verbraucherschutz.
Im Jahr 1998 verabschiedete das Parlament die Grundsätze der estnischen Informationsgesellschaftspolitik. Diese regeln, dass die Informationsgesellschaft integraler Bestandteil der öffentlichen Politik ist.
Seine Grundsätze sind die Modernisierung der Gesetzgebung, die Unterstützung der Entwicklung des privaten Sektors, die Gestaltung der Beziehung zwischen Staat und Bürger, die Schärfung des Problembewußtseins in der Informationsgesellschaft.
Mit den Instrumenten Gesetzgebung, Liberalisierung der Märkte und Niedrigsteuerpolitik wird diese Entwicklung vorangetrieben. Dabei hat die Regierung von ihrer Idee, IT-Güter von der Umsatzsteuer zu befreien, aufgrund des EU-Sekundärrechts wieder Abstand nehmen müssen.
Als Maßnahmen für die Jahre 2000 / 2001 sind das Datenübertragungsprogramm für die Landkreise, das Dokumentverwaltungsprogramm für die Regierungsbehörden, die stärkere Nutzung der digitalen Verwaltung durch den Bürger und die IT-Förderung an den Hochschulen geplant. Neben diesen Regierungsmaßnahmen wurden wesentliche Gesetze zur Steuerung und Ermöglichung der IT-Entwicklung verabschiedet oder werden das Parlament in Kürze passieren.
Die wesentlichen Gesetze 1999/2000 waren die Regelung der Verteilung der Kabelnetze, das Gesetz über die Telekommunikation und das Gesetz über die digitale Unterschrift.
In Vorbereitung befindet sich ein Gesetz über die Informationsfreiheit, das den Zugang des Bürgers zu Informationen und Dokumenten der öffentlichen Verwaltung regeln soll und ein Gesetz über die Einführung eines Personalausweises mit integrierter "smartcard" zur sicheren Identifizierung auch im Internet und weiteren Funktionen, sowie ca. 30 Verordnungen zur Umsetzung des Telekommunikationsgesetzes.
Als das für die IT-Entwicklung wesentlichste Gesetz gilt die Regelung über die Verteilung der Kabelnetze, das die Nutzung, die Lizenzvergabe, die Marktaufteilung und den technischen Standard regelt. Denn nach der Einführung von verschiedenen Kabelnetzen ab 1992, über die Fernsehprogramme ausgestrahlt werden, kam es immer wieder zu "Kabelpiraterie" und Problemen bei der Einhaltung der Standards. Im Jahr 2000 konkurrierten 135 Anbieter von Kabelfernsehen und erreichten damit ca. 30 % der Bevölkerung. Davon machte ca. jeder zweite auch Gebrauch (126.000 angeschlossene Haushalte.)
In Zukunft werden die Kabelnetze für die Entwicklung von Internet und e-commerce eine immer wichtigere Rolle spielen, Experten gehen sogar davon aus, dass sie zum Rückgrat des Internets werden können. Allerdings sind die zur Zeit in Estland verwendeten Kabel nur teilweise internettauglich.
Da die Kunden neben ihrer Rundfunk- und Fernsehgebühr keine weiteren Gebühren zu zahlen brauchen und die Internetverbindung über Kabel ca. 20 mal schneller als über das Telefonnetz abläuft, wird hier eine deutliche Verlagerung vom Telefonnetz zum Kabelnetz für die Internetnutzung erwartet.
Möglicherweise wird dieser Prozess durch das estnische Gesetz über die Verteilung der Kabel noch beschleunigt. Denn dieses verbietet Firmen, die erhebliche ökonomische Interessen im Festnetzbereich haben, eine Kabelgesellschaft zu betreiben. Mit diesem Prozess der Verlagerung vom Telefonfestnetz auf das Kabel geht auch der Prozess der Marktkonzentration einher, wenngleich neben den drei großen Anbietern zahlreiche lokale Anbieter am Markt bestehen.
Eine für die Bürger ganz praktische Netzanwendung dürfte die Einführung des neuen estnischen Personalausweises mit integrierter "smartcard" werden. Ziel ist hier, die am Jahresanfang 2002 ihre Gültigkeit verlierenden Personalausweise durch ein neues zweigliedriges System mit Reisepass und Personalausweis zu ersetzen.
Das eigentlich Neue besteht darin, dass der Ausweis nicht auf seine Ausweisfunktion beschränkt bleibt, sondern multifunktional einsetzbar wird, weil man ihn auch als Krankenversicherungs- und Sozialkarte sowie als Banken- und Dienstleistungskarte einsetzen kann. Wie in Schweden schon üblich und in Finnland geplant soll auch der estnische Ausweis als smartcard eine elektronische Unterschrift ermöglichen.
Weiterhin baut die Regierung den kostenlosen Zugang zum Internet überall im Lande - vor allem in den Bibliotheken - aus. Sie fördert gleichzeitig den direkten digitalen Kontakt zwischen Bürger und Verwaltung durch eine Reihe von digitalen Dienstleistungen.
Die elektronische Steuerklärung ist in Estland genau so Realität wie die per Internet zu bekommenden Formulare für die Meldebehörde oder die Bezahlung z.B. der KFZ Steuer. Alle estnischen Behörden und Ämter sind per E-Mail erreichbar und verpflichtet auf E-Mail Anfragen zu antworten.
Diese für deutsche Verhältnisse zukunftsweisenden, bürger- und nutzerfreundlichen staatlichen Internet-Angebote werden durch eine Reihe von weiteren Serviceleitungen im Mobilfunkbereich komplettiert. So kann man seit dem 1. Juli 2000 in Tallinn und in Tartu seine Parkgebühren auf öffentlichen Parkplätzen mittels SMS-Nachricht bezahlen. Schon nach weinigen Monaten hatte das System über 6000 Nutzer.
Fast schon selbstverständlich ist die Nutzung der WAP-Technologie beim Telefonanbieter Eesti Mobiltelefon (EMT) und die Bezahlung der Mobilfunkgebühren mittels e-billing (Zustellung der Telefonrechnung auf Wunsch als E-Mail).
Wirklich einmalig und eine Weltneuheit ist das im Mai 2000 eingeführte "Mobile Positioning System". Es ermöglicht den Notfalldiensten die genaue Positionsbestimmung eines Mobilfunkgerätes allein durch die Wahl der Notrufnummer 112 und erleichtert und beschleunigt so den Rettungseinsatz erheblich.
Estland ist wie seine skandinavischen Nachbarn mit rasantem Tempo dabei, den Sprung in die Wissensgesellschaft durchzuführen. Fest steht schon heute, dass die estnische Regierung mit ihrem Modell der Sozialen Marktwirtschaft und einer konsequenten Nutzung der IT- und Gentechnologie zu den Shootingstars unter allen MOE-Staaten zählt und in einigen Bereichen selbst westeuropäische Länder hinter sich gelassen hat.
Der Autor dankt der deutschen Botschaft in Tallinn für den Meinungs- und Informationsaustausch zum Thema.
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