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Denn nach der Wahl ist vor der Wahl: Bereits in sechs Wochen finden in Frankreich die Parlamentswahlen statt. Diese werden dann entscheiden, ob Emmanuel Macron eine stabile Mehrheit im Parlament haben wird oder zumindest eine regierungsfähige Kohabitation eingehen kann. Die kommenden sechs Wochen werden von Debatten begleitet sein, die das bisherige französische Wahl- und Parteiensystem der Fünften Republik grundlegend verändern könnten.
Warum nun eine Debatte über das Wahlrecht geführt wird?
Das französische Wahlrecht für die Parlamentswahlen ist komplex und wurde bereits in der Vergangenheit von verschiedenen Seiten scharf kritisiert. Die 577 Abgeordneten der Nationalversammlung werden nach dem Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen gewählt. Um zum Abgeordneten gewählt zu werden, muss der Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreichen und die Gesamtstimmzahl 25% der im Wahlkreis eingetragenen Wähler entsprechen. Im zweiten Wahlgang reicht dann die relative Mehrheit.
Meistens ziehen zwei Kandidaten in den zweiten Wahlgang ein, ein Kandidat kann aber am Wahlgang teilnehmen, wenn er eine Stimmzahl erreicht, die mindestens 12,5% der eingetragenen Wähler entspricht. Dieses Wahlsystem führt dazu, dass die Chancen auf Mandate durch Wahlabsprachen zwischen Parteien steigen. Parteien, die bündnisunfähig sind, haben dementsprechend kaum Chancen auf Sitze in der Assemblée Nationale.
Gerade für den rechten und linken Rand mit seinen bündnisunfähigen Anti-System-Parteien stellt dies ein Problem dar. So war zum Beispiel der Front National in der zu Ende gehenden Legislaturperiode (2012-2017) mit nur zwei Abgeordneten in der Nationalversammlung vertreten, obwohl die Partei im ersten Wahlgang 2012 rund 13 Prozent der Stimmen gewonnen hatte und am zweiten Wahlgang in 61 Wahlkreisen teilnehmen konnte. Aus den Europawahlen 2014, bei denen das Verhältniswahlreicht gilt, ging der Front National als französische Partei mit den meisten Stimmen hervor und stellt seither die größte Delegation französischer Europaabgeordneter.
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die Partei nun angesichts des Ergebnisses, das sie bei den Präsidentschaftswahlen erringen konnte, eine dem Wahlergebnis entsprechende Mandatsanzahl im Parlament einfordern wird.
Die Einführung eines Verhältniswahlrechts oder zumindest einer partiellen Proportionalität ist in Frankreich keine neue Debatte. Sie war unter anderem ein Wahlversprechen von François Hollande im Wahljahr 2012, wurde aber 2015 zurückgenommen, da es – so die offizielle Erklärung – einen enormen administrativen Aufwand, zum Beispiel eine Neuzuordnung der Wahlkreise, zur Folge gehabt hätte. Die inoffizielle Erklärung dürfte jedoch eine andere gewesen sein, denn bereits zu dieser Zeit war die Regierung sich des Risikos eines starken Front National in der Assemblée Nationale bewusst. 1986, als François Mitterrand für eine Legislaturperiode das Verhältniswahlrecht einführte, konnte sich der rechtsextreme Front 35 Sitze sichern. Auch der neue Präsident Emmanuel Macron will eine „Dosis Verhältniswahlrecht“ einführen, um den Wählerstimmen gerecht zu werden. Was dies für die Legislaturperiode 2022-2027 bedeuten wird, bleibt abzuwarten.
Eine zweite Option für den Front National könnte es sein, der Strategie und den Erfahrungen der französischen Kommunisten zu folgen, die dank ihrer Wahlabsprachen mit der Parti socialiste im Jahr 2012 neun Sitze im Parlament erhielten. Als einziger Verbündeter der Rechtspopulisten bietet sich derzeit jedoch nur die nationalkonservative Bewegung „Debout la France“ unter Nicolas Dupont-Aignan an, die während der Legislaturperiode 2012-2017 ebenfalls mit zwei Sitzen vertreten war. Dupont-Aignan erhielt im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 4,7% der Stimmen und kam damit auf Platz 6.
Warum Cohabitationen den Franzosen Angst machen?
Umfragen der letzten Tage sehen eine Mehrheit der „En Marche“-Bewegung, die in eine traditionelle Partei übergehen dürfte, voraus. So würde die Bewegung aktuell zwischen 249 und 286 Sitze in der Assemblée Nationale erhalten. Diese Berechnungen beziehen sich lediglich auf die Wahlintentionen in Kontinentalfrankreich. Die Wahlintentio-nen der Auslandsfranzosen und in den Überseegebieten könnten eine absolute Mehrheit, also den Gewinn von 289 der insgesamt 577 Mandate möglich machen. Nach den aktuellen Umfrageergebnissen würde der rechtspopulistische Front National zwischen 15 und 25 Mandate erhalten, die Linksfront rund um den bei den Präsidentschaftswahlen Viertplatzierten Jean-Luc Mélenchon kann mit 6 bis 9 Sitzen rechnen. Die Sozialisten, deren Präsidentschaftswahlkandidat Benoît Hamon nur auf Platz 5 landete, erhält nach aktuellen Prognosen 28 bis 43 Sitze, was dennoch eine herbe Niederlage darstellt, da die Partei 2012 noch die absolute Mehrheit stellte. Das bürgerlich-konservative Lager (Les Républicains und UDI) kann derzeit mit 200-210 Mandaten rechnen.
Sollte die En-Marche-Bewegung keine Mehrheit erlangen, könnte eine Cohabitation notwendig werden und Emmanuel Macron gezwungen sein, einen Premierminister aus einem anderen politischen Lager zu ernennen, was die französische „doppelköpfige“ Exekutive schwächen könnte. Von vielen politischen Akteuren wird die Teilung der Exekutive als Lähmung wahrgenommen, da zwischen Staatspräsident und Premierminister statt eines Vertrauens- dann ein Konkurrenzverhältnis besteht. Der Staatspräsident führt dennoch den Ministerrat, kommentiert die Tagespolitik und gibt die wichtigsten Impulse für die Sicherheits- und Außenpolitik. Gleichzeitig wird das Präsidentenamt eher zu einer repräsentativen Funktion herabgestuft.
Die drei bisherigen Cohabitationen, die es in der Fünften Republik gab, sind den Franzosen eher in schlechter Erinnerung geblieben und unter anderem Grund für die Verfassungsänderung des Jahres 2000, bei der auf Grundlage einer Volksabstimmung die Amtszeit des Staatspräsidenten von sieben auf fünf Jahre verkürzt wurde und somit stabilere Mehrheiten im Parlament erlangt werden sollen.
1986 regierte der sozialistische François Mitterrand zwei Jahre lang mit einer gaullistischen Regierung, die Jacques Chirac unterstand; zwischen 1993 und 1995 kam es zu einer Cohabitation mit dem bürgerlichen Edouard Balladur. Die längste Cohabitation fand zwischen Jacques Chirac und dem Sozialisten Lionel Jospin statt und dauerte von 1997 bis 2002. Diese fünf Jahre werden von einzelnen Beobachtern jedoch auch durchaus als positiv eingeschätzt, da der parlamentarische Charakter der Fünften Republik gestärkt werden konnte.
Eine weitere Option, die nicht nur als Gerücht abzutun ist, bislang aber von Macon abgelehnt wird, wäre die Schaffung einer großen Koalition nach deutschem Vorbild mit einem Koalitionsvertrag, der Reformen zulässt und zwischen Vertretern der En-Marche-Bewegung, Abgeordneten der Partei „Les Républicains“ und Sozialisten abgeschlossen wird. Der ehemalige Wirtschaftsminister François Baroin, der das bürgerlich-konservative Lager durch den Wahlkampf rund um die Parlamentswahlen führen wird, erklärte unlängst, dass er für den Posten des Premierministers unter Staatspräsident Macron bereit stände. Kritiker warnen da-vor, dass eine französische große Koalition sich nicht auf die deutschen Erfahrungen stützen kann, da sich CDU/CSU und SPD auf eine breite und solide Wählerbasis stützen können, eine Koalition zwischen der En Marche-Bewegung und dem bürgerlich-konservativen Lager jedoch fast die Hälfte der französischen Wähler nicht repräsentiert. Auch würde, so die Kritiker, die Opposition zu großen Teilen den rechten und linken Rändern, also dem rechtsextremen Front National und der Linksfront überlassen.
Wie geht es mit den beiden „Volksparteien“ weiter?
Abgeschlagen landete der Kandidat der französischen Sozialisten Benoît Hamon bei den Präsidentschaftswahlen auf Platz 5. In der Wahlnachlese stellten viele Sozialisten, die dem sozialdemokratischen Lager zuzuordnen sind, fest, dass die Partei mit Hamon eigentlich gar nicht bei den Wahlen repräsentiert wurde. Die Partei sei deswegen nun nicht tot, stecke aber durchaus in der Krise. Die ehemalige Regierungspartei muss sich nun neu ordnen, was nicht leicht sein wird angesichts der Tatsache, dass der Kandidat der Linksfront Jean-Luc Mélenchon das sozialistische Lager bei den Präsidentschaftswahlen ohne Probleme überholte.
Aktuell bilden sich bei der Parti socialiste drei Tendenzen ab. Der ehemalige Premierminister Manuel Valls, der für den rechten Flügel der Sozialisten steht, möchte eine progressistische Bewegung gründen, die sich aus den ideologischen Zwängen der PS löst. Der linke Flügel rund um Hamon zielt auf eine Allianz mit den Grünen und den Kommunisten. Viele ehemalige Minister von François Hollande und die Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo sehen nur in der Sozialdemokratie eine Zukunft für die Partei.
Bisher ist auch noch nicht klar, wie sich die Sozialisten gegenüber der En-Marche-Bewegung positionieren werden, an die sie nach derzeitigen Einschätzungen einige Mandate verlieren dürften. Einige Sozialisten, die bereits als Kandidaten für die Parlamentswahlen aufgestellt sind, haben im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen nicht den eigenen Kandidaten sondern Emmanuel Macron unterstützt. In der Parteispitze wird nun debattiert, ob diese Personen aus der Partei auszuschließen sind.
Nach der Wahlniederlage von François Fillon, deren Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen lange Zeit als sicher galt, steckt auch das bürgerlich-konservative Lager in einer Krise. Auch wenn der derzeitige Fokus auf den Parlamentswahlen liegt, aus der die „Républicains“ gestärkt hervorgehen wollen, muss sich die Partei nach Meinung ihres Generalsekretärs Bernard Accoyer neu erfinden, andernfalls würden die „Républicains“ aus der französischen Parteienlandschaft verschwinden. Der Wandel der Partei, so Accoyer, sei auf der einen Seite durch einen Generationenwechsel zu erwirken, müsste aber auch programmatische Änderungen mit sich ziehen.
Derzeit lassen sich zwei politische Linien in der Partei ausmachen. Auf der einen Seite steht der rechte Flügel der Partei, der aktuell durch den Regionalpräsidenten und ehe¬ma¬ligen Hochschulminister Laurent Wauquiez vertreten wird. Auch wenn viele Partei-größen, darunter François Fillon, Alain Juppé und Nicolas Sarkozy direkt nach dem ersten Wahlgang eine Wahlempfehlung für Emmanuel Macron aussprachen, erwirkte dieser Flügel, dass im Kommuniqué der Partei die Empfehlung nicht mit aufgenommen wurde, sondern lediglich vor einer Wahl von Marine Le Pen oder einer Wahlenthaltung gewarnt wurde.
Auf der anderen Seite steht ein moderateres Lager, das einen breiteren Wählerkreis abdecken möchte und sich selbst als Mitte bezeichnet. Diesem Kreis gehören u.a. die ehemalige Ministerin und Präsidentschaftskandidatin Nathalie Kosciusko-Morizet, der ehemalige Premierminister Jean-Pierre Raffarin aber auch der Regionalpräsident und ehemalige Bürgermeister von Nizza Christian Estrosi an, der Nicolas Sarkozy nahesteht. Um das Auseinanderbrechen der Partei zu verhindern, müssen diese beiden Lager einen Kompromiss finden.
Front National: nur eine Verschnauf-pause?
Zwei Lesearten ergeben sich aus dem Wahlsieg von Marine Le Pen im ersten Wahlgang und ihrer Niederlage gegen Emmanuel Macron im zweiten Wahlgang. Auf der einen Seite hat die Rechtspopulistin durch ihren seit 10 Jahren vorangetrieben „Entteuflungs-Kurs“ den Front National für viele Franzosen „wählbar“ gemacht. Ein zentraler Schritt war dabei der „Vatermord“ an Jean-Marie Le Pen. Der ehemalige Front National-Vorsitzende wurde von seiner Tochter in Folge seiner wiederholten antisemitischen Äußerungen aus der Partei ausgeschlossen. So wurde Marine Le Pen 2017 von 10,6 Millionen Franzosen gewählt. Ihr Vater hatte 2002 rund 5,5 Millionen Wählerstimmen auf sich vereinen können.
Das sehr aggressive Verhalten von Marine Le Pen gegenüber Emmanuel Macron bei der Fernsehdebatte vor dem zweiten Wahlgang wird von vielen Beobachtern als Indiz dafür gesehen, dass sie sich bereits als mögliche Oppositionsführerin in der Assemblée Nationalen warmläuft. Ziel wäre es, Emmanuel Macron zu schwächen und somit das Terrain für die Präsidentschaftswahlen 2022 vorzubereiten. Der Front National-Funktionär Gilles Lebreton drohte gegen-über der Zeitung „Le Canard enchaîné“ bereits an, gegen die Ergebnisse der Parlamentswahlen angehen zu wollen, sollte die Partei erneut nur wenige Sitze erhalten. Für die demokratischen Parteien könnten also schwere Zeiten anbrechen.
Durchkreuzt werden könnten diese Pläne jedoch durch die Nichte von Marine Le Pen, Marion Maréchal-Le Pen, die seit 2012 als jüngste Abgeordnete in der Assemblée Nationale sitzt. Diese ist mit dem wirtschaftspolitisch linken und gesellschaftspolitisch gemäßigten Kurs, der unter dem stellvertretenden Front National-Vorsitzenden Florian Phillipot vorangetrieben wurde, ganz und gar nicht einverstanden und griff ihre Tante bereits mehrmals öffentlich an.
Auch wenn Marine Le Pen vor allen Dingen durch den „Front Républicain“ gestoppt werden konnte, da sich die meisten Vertreter der demokratischen Partei geschlossen hinter Emmanuel Macron stellten, ist die Niederlage auch hausgemacht. Ihr Wirtschaftsprogramm war wenig kohärent und machte vielen Franzosen gerade auf Grund des geplanten Euro-Austritts Angst. Ihre post-gaullistische politische Linie entsprach kaum den Wünschen der traditionellen Wählerschaft des Front National, die einen populistisch, „christlich-geprägten“ Diskurs suchen. Die junge Marion Maréchal-Le Pen verkörpert jedoch gerade dieses Kandidatenprofil und wird bereits als mögliche neue Präsidentschaftskandidatin gehandelt. Im Wahljahr 2022 wäre sie 33 und somit 6 Jahre jünger als der neue Staatspräsident.
Deutschland muss sich bewusst sein, dass der rechtspopulistische Ruck in Frankreich mit der Wahlniederlage von Marine Le Pen nicht zu Ende ist. Es handelt sich vielmehr um eine Verschnaufpause. Es gilt nunmehr dem neuen französischen Staatspräsidenten zur Seite zu stehen und zu unterstützen. Ein starker deutsch-französischer Motor ist unabdingbar, um Frankreich reformbereit zu machen und aus der Krise zu führen. Es ist zu erwarten, dass Emmanuel Macron das Gespräch auf Augenhöhe suchen wird.
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