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Seit den frühen Morgenstunden des 16. November gilt in Caracas der partielle Ausnahmezustand. Die Regierung Chávez hat die legale Führung „Policia Metropolitana“ (PM), dies ist die 11.000 Personen starke Polizei des Bundesdistrikts Caracas, abgelöst und dem Oberbürgermeister, vergleichbar einem Gouverneur/Regierenden Bürgermeister, die Befehlsgewalt über seine Polizeitruppe entzogen. Die „PM“ wurde von Guardia Nacional und Heer interveniert und die örtlichen Kommandostellen der „PM“ besetzt. Heer und Guardia Nacional haben dabei Panzer und reguläre Truppen eingesetzt und dazu mit scharfer Munition ausgestattet. Auch die Bordkanonen der Schützenpanzer waren durchgeladen.
Bereits am 14. November hatte der Stadtkommandant von Caracas, Armeegeneral García Carneiro, einseitig „gemischte Patrouillen“ zwischen Heer und regulärer Polizei angeordnet und damit die in der Verfassung festgelegte Autonomie der Kommunen verletzt. Die ausschließliche Zuständigkeit des Oberbürgermeisters für die PM und die Sicherheitsfragen in Caracas hatte zuletzt das Oberste Gericht im Dezember 2001 eindeutig bestätigt.
Die Gesamtentwicklung scheint einem von der Regierung geschriebenen Drehbuch zu folgen. Seit Anfang Oktober streiken einige Angehörige der PM. Sie fordern ausstehende Gehaltszahlungen ein und fordern soziale Verbesserungen. Die Zahlungen waren bislang nicht möglich gewesen, da laut Oberbürgermeister Peña die Regierung fällige Zuwendungen zurückhält. Die streikenden Polizeikräfte hatten sich zuletzt in der PM-Befehlszentrale „Cotiza“ verschanzt. Von dort hatten sie immer wieder zum Teil gewaltsame Ausfälle mit Schußwaffengebrauch vorgenommen. Aktive Unterstützung erhielten sie mehrfach von Chávez-Anhängern.
Die Lage eskalierte am 12. und 13. November, als der Oberbürgermeister, der Gouverneur des Bundesstaates Miranda (Bundesstaat der Caracas umschließt), Bezirksbürgermeister sowie Parlamentsabgeordnete über Stunden im Amtssitz des Oberbürgermeisters eingeschlossen wurden bis sie schließlich durch Polizei und Guardia Nacional befreit werden konnten. Der politische Vandalismus tobte anschließend durch die Innenstadt. Zwei Tote und mehr als 20 Verletzte waren das Ergebnis der von Chávez-Anhängern provozierten Unruhen. Die schwierige Sicherheitslage hatte Auswirkungen auf Geschäfte und Tourismus in der Innenstadt. Eine internationale Veranstaltung zum Thema „Stärkung des Parlaments in Krisenzeiten“ von dem 1. Parlamentsvizepräsidenten und der KAS am 13. November im Parlamentsgebäude mußte vorzeitig beendet werden, weil sich die Lage weiter zuzuspitzen drohte.
Erinnert werden muss an die bereits am 4. November begonnenen Angriffe von Sympathisanten auf den friedlichen Demonstrationszug der Opposition, mit dem Ziel, die 2 Mio. Unterschriften der Obersten Wahlbehörde zu übergeben. Folge der Angriffe waren ca. 200 Schwer- und Leichtverletzte. In die Reihe der politischen Gewalt gehören auch die Sprengstoffanschläge gegen die Residenz des Kardinals von Caracas sowie gegen die Zentralen des Nationalen Gewerkschaftsverbandes CTV und des venezolanischen Unternehmerverbandes FEDECAMERAS binnen Wochenfrist.
Die eindeutig von Chávez-Anhängern angezettelten Angriffe und die stundenlangen Straßenschlachten des 13. November waren offizieller Grund für die Installierung gemischter Patrouillen (Armee und Polizei) und vor allem für den Eingriff in die kommunale Autonomie und Polizeiverantwortung.
Pikanterweise just im von den streikenden Polizisten besetzen Befehlszentrale und umringt von den Aufständischen verkündete am 16.11. gegen drei Uhr früh der Vizeinnenminister, Oberst Rondón, die Absetzung des Polizeichefs Henry Vivas sowie den Entzug der Befehlsgewalt des Oberbürgermeisters über die regionale Polizei. Der sogleich neu installierte Polizeichef allerdings gestand bereits am Mittag seinen Irrtum ein. Er erkannte per TV Henry Vivas als einzigen und legitimen Polizeichef an und quittierte den Polizeidienst. Alsbald übertrug die Regierung das Polizeikommando dem bisherigen Pressechef, Gonzalo Sánchez Delgado. Er ist ein enger Vertrauter des Bezirksbürgermeisters Bernal, einem der schärfsten Verfechter der „Bolivarianischen Revolution“. Bernal hatte bereits kurz nach dem Coup im Morgengrauen erklärt, welche Schritte zur Säuberung der PM unternommen werden müssten und dass dies keine Frage weniger Tage sei.
Die Regierung versucht mit augenfälliger Absicht, die sozialen Probleme der Polizei zu lösen. Plötzlich sind Gelder des Finanzministeriums verfügbar, um ausstehende Gehaltszahlungen und Sozialabgaben einzulösen und ein Wohnungsbauprogramm für Polizisten zu realisieren. Gonzalo Sánchez Delgado verspricht alles und man merkt die Absicht überdeutlich.
Die Mehrzahl der Polizeikommandos aber verweigert noch Gonzalo Sánchez Delgado den Gehorsam und befolgt nur Anweisungen von Henry Vivas. Die Regierung hat demgegenüber eindeutig erklärt, dass sie dieses nicht hinnehmen wird. Alle Polizeioffiziere, die sich nicht dem neuen Oberbefehl unterstellen, werden die harten Konsequenzen ihres Handelns zu spüren bekommen. Dass die Regierung ihre Ankündigung durchaus ernst meint, zeigt sich an der gewaltsamen Übernahme des Quartiers der „PM-Motorradbrigaden“.
Heereseinheiten und Guardia Civil haben nicht nur den Komplex eingenommen, sondern auch mit Tränengas und Schlagstockeinsatz gewaltsam eine friedliche Demonstration aufgelöst. Nicht genug damit, dem Oberbürgermeister Peña wurde der Zugang in den Polizeikomplex, einer Einrichtung der Distriktregierung, verweigert. Wohl ein Grund für freudestrahlende Umarmung und Küsse zwischen der Koordinatorin der „Circulos Bolivarianos“ des Stadtbezirks Chacao und dem Kommandeur des eingesetzten Bataillons „Ayala“.
Coordinadora Democrática verschärft zivile Proteste
Die Coordinadora hat zusammen mit acht Gouverneuren und 200 Bürgermeistern zum friedlichen Protestmarsch für den kommenden Dienstag (19. November) aufgerufen. Der Protest richtet sich gegen den „kalten Staatsstreich“ vom Samstag. Gleichzeitig haben Gewerkschaften und Unternehmer ihre Bereitschaft bekundet, den unbefristeten Generalausstand bereits für kommende Woche auszurufen.
Den politischen Druck hatte man bereits zuvor erhöht. Am 11. November hatten die tatsächlich einflußreichen Kräfte der Coordinadora, der Unternehmerverband und die Gewerkschaften, begleitet von einem Parteivertreter zusammen mit den protestierenden Militärs auf der „Plaza Francia“ eine „Erklärung zur demokratischen Einheit“ unterzeichnet. Dieses öffentliche Zusammengehen zwischen Coordinadora und den aktiven Militärs in der Situation des „zivilen, verfassungsmäßigen Ungehorsams“, so die Selbstbezeichnung der Militärs, hatte international für Irritationen gesorgt und national der Regierung die Möglichkeit des Protestes gegenüber OAS, UNO und Carterzentrum gegeben.
Aber trotz dieser Verschärfung der politischen Proteste mit friedlichen Formen, will die Coordinadora nicht den OAS-Verhandlungstisch, „Verhandlungen und Übereinkommen“, verlassen. Die Coordinadora will der Regierung nicht den Gefallen tun, die Verhandlungen abzubrechen. Ihr Ziel ist es vielmehr, auch international Chávez und seinen gewaltsam-revolutionären Kurs bloßzustellen.
Chávez selbst erklärt, dass er den Dialog mit der Opposition fortsetzen will, aber „ohne Druck“ von Seiten der Opposition. „Verhandlungen und Übereinkunft“, wie die offizielle OAS-Bezeichnung des Prozesses ist, vermeiden der Präsident wie auch die übrigen Verhandlungsführer. Lediglich ein „Dialog“, am besten zu den Regierungsbedingungen, ist ihre Absicht.
Die Militärs auf der Plaza Francia erinnern das Militär an ihre eigentliche Aufgabe und appellieren an die Kommandeure, keine Waffengewalt gegen die Zivilbevölkerung anzuordnen und der Regierung den Gehorsam zu verweigern, wenn diese den Einsatz anordnet. Bei anhaltenden zivil-friedlichen Protesten der Bürger und gewaltsamer Entgegnung der Militärs, wird eine Situation in der Armee nicht mehr ausgeschlossen, bei der die Armee die tatsächlich Entscheidung über den Fortbestand der Regierung Chávez trifft.
Normalität a la Venezuela
Wie immer zuletzt, haben Regierung und ihr TV-Kanal die Lage in Venezuela als „völlig normal“ bezeichnet. Dies just in dem Augenblick, als Panzer und andere reguläre Militäreinheiten die Polizeistationen in Caracas besetzten und die Zufahrtsstraßen nach Caracas absperrten. Zur Normalität gehören offensichtlich auch die gewaltsamen Angriffe der Chávezanhänger auf friedliche Proteste der Opposition und gegen reguläre und legale Polizeieinheiten. „Alles unter Kontrolle“ – ist die Feststellung von Gonzalo Sánchez Delgado, der zugleich vorsorglich darauf hinweist, dass das Militär noch einige Zeit die Kontrolle behält.
Die Lage in Venezuela scheint sich unabwendbar weiter zuzuspitzen. Die Opposition erhöht den Druck auf die Regierung, weil sie Chávez so einschätzt, dass er nur unter Druck Ergebnissen der OAS-Vermittlung zustimmt. Die Regierung erhöht den Druck auf die Opposition. Der Einsatz der Regierung gegen die „Policia Metropolitana“ zielt exakt gegen die Polizeieinheit, die bisher die friedlichen Massenproteste der Opposition geschützt hat und gegen die gewaltsamen Chávez-Anhänger vorgegangen ist. Die gemischten Polizeipatrouillen mit der Polizei der Stadtpolizei sollen wohl in erster Linie die Polizei in Chaco und Baruta neutralisieren. Beide Bezirke werden von Bürgermeistern der jungen Partei „Primero Justicia“ regiert, die bei der Unterschriftenkampagne ihre politische Schlagkraft bewiesen hatte. Besonderes Augenmerk gilt dem Bezirk und der Polizei von Chacao, weil die „Plaza Francia“ in diesem Stadtteil liegt.
Als mögliche Lösung unter der OAS-Vermittlung werden aber auch Neuwahlen nicht ausgeschlossen, denen Chávez zustimmen könnte, um jetzt noch eine Neubestätigung zu erlangen. Bereits zwei mal hat er selbst Neuwahlen auf allen politischen Ebenen selbst ins Gespräch gebracht, auch wenn er sie aus Verfassungsgründen gleich selbst verworfen hat. Es bleibt aber dabei, dass er selbst mit dieser Variante kokettiert – oder gedroht ? – hat.
Chávez kalkuliert dabei die Uneinigkeit der Opposition und die objektiven Schwierigkeiten der Coordinadora mit 40 völlig unterschiedlichen Parteien und Gruppen der Zivilgesellschaft ein. Immer noch sind um die 30% der Venezolaner bereit, Chávez zu unterstützen. Nur mit einem einzigen Gegenkandidaten scheint Chávez daher aktuell politisch per Wahl zu besiegen zu sein, weil bei der Präsidentschaftswahl die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen für den Erfolg ausreicht.
Würde Chávez die Wahlen verlieren, kann er darauf spekulieren, dass auch eine neue Regierung, von der aktuellen Opposition gestellt, die immensen Probleme des Landes in einer Präsidentschaftsperiode nicht lösen könnte. Dann wäre in relativ kurzer Zeit eine Rückkehr von Chávez möglich. Mit knapp Mitte 50, wäre er immer noch ein relativ junger Präsident, der Zeit hätte, seinen „Bolivarismus“ doch noch umzusetzen. Die Drohung, dass er auch „Megawahlen“ ausrufen könnte, zielt auf einen empfindlichen Nerv der Opposition. Sie müsste nicht nur für das Präsidentenamt, sondern für alle Ebenen, vom nationalen Parlament bis zur kommunalen Bezirkswahl, verläßliche Absprachen für Kandidaturen treffen. Denn, Chávez führt nicht nur als Präsident mit relativer Mehrheit die Umfragen an, auch seine Partei bzw. sein Parteibündnis ist noch relativ die stärkste Gruppierung.
Die diesem Bündnis nachfolgenden Parteien, „Primero Justicia“ und „AD“, erzielen in den Umfragen jeweils knapp die Hälfte des Stimmenanteils des Chávez-Blocks.
Vorgezogene Neuwahlen, wenn auch derzeit beständig von Chávez „aus Verfassungsgründen“ abgelehnt, könnten sich aber zu einer echten Drohung in Richtung Opposition entwickeln, mindestens sie aber in erhebliche Schwierigkeiten bringen. Mit der Modifizierung des Wahlgesetztes hat der Oficialismo diese Woche bereits bewiesen, dass er jede legale Möglichkeit ausnutzen wird, um sich Vorteile zu verschaffen.
Die Lesung um die Novellierung des Wahlgesetztes im Parlament hat aber auch die Schwäche der Opposition offen gelegt. Die Regierung hatte nur 78 ihrer 86 Stimmen zusammen bekommen. Die Opposition demgegenüber aber nicht alle ihre 79 Abgeordneten zur Abstimmung gebracht. Die Opposition hatte einen parlamentarischen Sieg selbst in der Hand. So aber konnte, wieder einmal, die Regierungsseite aus der Koordinationsschwäche der Opposition profitieren. Die augenscheinlichen Schwächen der Opposition könnten die Gründe sein, die doch noch Chávez zum Umschwenken veranlassen.
In jedem Fall aber ist die nächste politische Kraftprobe „auf der Straße“ für den 19. November angesagt. Ob sie unter den derzeitigen Ereignissen friedlich bleibt, ist eine der großen Fragen. Fraglich auch, wie an diesem Tag die „Policia Metropolitana“ agiert, vor allem dann, wenn die Opposition wieder, wie zuletzt am 4. November, von gewaltsamen Chávez-Anhängern angegriffen werden sollte.
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