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Jahrestage – Zeitgeschichte in der Literatur

от Jade-Yasmin Tänzler

13. Literarisch-politisches Symposium der Konrad-Adenauer-Stiftung

2009 ist ein Gedenkjahr: Vor 60 Jahren, wer weiß es, wurde in der Bundesrepublik das Fundament für eine demokratische deutsche Verfassung und einen Rechtsstaat gelegt. Und was war vor 20 Jahren? Richtig, die Deutschen brachten im Osten mit dem Ruf nach Freiheit die Mauer zu Fall. Inzwischen gibt es zahlreiche Geschichtsbücher und Dokumentarfilme, unzählige Zeitungs-, Radio- und TV-Beiträge. Bei der Zahlenkombination 60-20 sollte jeder Deutsche im Schlaf die Worte „Grundgesetz“ und „Mauer“ ausrufen. Eigentlich. Die historischen Zahlen, die Fakten, wurden gelernt. Note 1, setzen.

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Doch wem gehören diese Jahrestage? Zukünftige Generationen haben ein Recht auf unverfälschte Fakten. Gehen durch die reine Überlieferung von Fakten nicht wichtige Gefühle verloren? Kann die Geschichtsschreibung allein ein vollständiges Bild des Zeitgeschehens liefern? Warum brauchen wir die Literatur, die Erfahrung mit literarischer Imagination anreichert? So im Falle der diesjährigen Nobelpreisträgerin (und Literaturpreisträgerin der Konrad-Adenauer-Stiftung 2004) Herta Müller und ihres Romans „Atemschaukel“ über die rumäniendeutsche Deportation nach 1945. Über diese Fragen diskutierten die Teilnehmer – darunter zahlreiche Studierende – des 13. Literarisch-Politischen Symposiums, das die Konrad-Adenauer-Stiftung mit dem Institut für Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin ebendort am 10. Dezember 2009 veranstaltete.

Die Brisanz der Zeitgeschichte dürfe sich nicht, so gab der Germanist Erhard Schütz (Humboldt-Universität) zu bedenken, in „historischen Gedenkeinkaufmalls und erinnerungspolitischen Fußgängerzonen“ verflüchtigen. Die Insistenz auf Zeitgeschichte bedeute eher, „sich als Straßenverkehrsteilnehmer zu verstehen, Teilnehmer und Beobachter zugleich“. So sollte auch die Zeitgeschichte für die Literatur weniger ein Magazin approbierter Stoffe sein, sondern vielmehr das Material zur „Arbeit an der eigenen Verantwortlichkeit“ liefern. Michael Braun, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung, der gemeinsam mit Erhard Schütz das Symposium eröffnete, sagte: „Die Gegenwartsliteratur hat das 20. Jahrhundert verlassen, aber das 20. Jahrhundert nicht die Gegenwartsliteratur“. Die Zukunft der Erinnerung werde auch durch die Literatur bestimmt: „Literatur bedeutet immer auch Umgang mit Geschichte, sie erinnert Geschichte, sie dokumentiert und fiktionalisiert.“

„Lange Zeit wurde ignoriert, dass der Raum der Erfindung und der eigenen Erfahrung für einen Autor sehr relevant sein kann“, sagte die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann (Universität Konstanz). „Heute gelten die Phantasie und die eigene Erfahrung als Triebkräfte der Literatur.“ Die Grenzen zwischen Lebenserfahrung und literarischer Fiktion seien durchlässiger geworden. „Historisches steht im Mittelpunkt“, betonte Assmann. „Die zerstörerische Wucht historischer Ereignisse wird durch Literatur heruntergebrochen auf individuelle Schicksale, die bisher weder in historische Darstellungen noch ins kollektive Geschichtsgedächtnis eingegangen sind.“ Assmann betonte, das Schreiben werde zu einer Form des Widerstands, mit der man den Opfern eine Stimme gebe. Fantasie und Imagination können Leerstellen auffüllen, denn das Erinnern verlaufe selten gradlinig, lückenlos und rational. „Das autobiographisch Erlebte wird durch Erfundenes ergänzt. Die Romanform bietet die Freiheit zur Erfindung, die sonst unzulänglich oder gar verboten wäre. Zudem wird durch Fiktion Vergangenes erfahrbar“, sagte Assmann.

Der Historiker Andreas Rödder (Universität Mainz), der jüngst eine vielbeachtete Geschichte der Wiedervereinigung publiziert hat (Deutschland einig Vaterland, 2009), sprach über Mauerfall und Wiedervereinigung im deutschen Gedächtnis. Hier seien diese Ereignisse unter dem Begriff ,Wende’ verankert. Das SED-Regime sei zwar zum Einsturz gebracht worden, die Revolution sei aber nicht radikalisiert, sondern in geregelten Bahnen fortgesetzt worden. „Zehn Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung war man optimistisch, doch man hat die Herausforderungen unterschätzt.“ Mehr denn je gelte es, Vorurteile und Probleme zu überwinden. „Das Problem lag darin, dass sich die Deutschen aus dem Osten vom Westen nicht verstanden fühlten: Jahrzehnte ihrer Geschichte sollten einfach gelöscht werden. Die aufkommende Ostalgie war eine Flucht in die Vergangenheit.“ Rödder kritisierte, dass Verständigungsprozesse in der deutschen Öffentlichkeit kaum stattfänden, stattdessen werde der Gedenk-Staatsakt zum Mauerfall zu einem von Massenmedien inszenierten Spektakel. „Der Umgang mit Zeitgeschichte muss entkrampft und entideologisiert werden. Die visualisierende Kanonisierung des politischen Diskurses ist zu wenig vital und spontan, und die Erinnerung zu konstruiert“, so Rödder.

Joachim Gauck, Vorsitzender des Vereines „Gegen Vergessen – für Demokratie e.V.“, fand die Frage, wem die Zeitgeschichte gehöre, sehr merkwürdig: „Zeitgeschichte gehört niemandem, sie ereignet sich.“ Das Publikum klatschte Beifall. Manchmal merke man erst später, dass einen bestimmte zeitgeschichtliche Ereignisse mitnehmen. „Das ist dann wie ein Keulenschlag und man denkt: Ach so ist das!“ Assmann beantwortete die Frage aus literaturwissenschaftlicher Sicht: „Wenn man aus literarischer Perspektive an diese Frage herangeht, dann redet man über Geschichte im Konjunktiv“, sagte Assmann. „Wenn wir retrospektiv Rechenschaft ablegen, dann haben wir Deutungsprozesse schon vollzogen. Was wir mit der eigenen Erfahrung tun, ist gar nicht so abgrundtief verschieden von fiktionalisierender Geschichtsschreibung.“

Rödder kritisierte die Popularisierung des Festaktes zum Mauerfalljubiläum. „Fernsehgerechte Inszenierung des Erinnerns – die Frage ist, ob die Ernsthaftigkeit der Sache dabei abhandenkommt“, so Rödder. Gauck entgegnete, dass die Popularisierung solcher Gedenkereignisse auch Vorteile bringe. „Wir dürfen nicht vor Ehrfurcht erstarren“, sagte Gauck. „Wir wollen die Menschen erreichen.“ Assmann ergänzte, dass die Balance zwischen Zu-Viel und Zu-Wenig schwer zu halten sei. Zwar habe es „Konsens auf offizieller Ebene“ über den Festakt gegeben, Deutschland sei jedoch „weit entfernt von einem inneren Konsens“. Heimo Schwilk, leitender Redakteur der „Welt“ und Moderator des Podiums, fragte, warum die Findung einer geeigneten Form für ein Denkmal so schwer sei, wenn doch alle erinnerungsbereit seien. „Das ist deutsche Tristesse!“, rief Gauck aus, und erhielt Beifall vom Publikum. „Wer Freiheit erlebt und errungen hat, der muss sich nicht fürchten vor Pathos. Wir haben noch nicht begriffen, dass es in bestimmten Situationen eine Gnade ist, die Stimme des Volkes zu hören, und nicht nur die der politischen Elite.“ Assmann sah es pragmatisch: „Denkmäler treten in ein neues Leben, wenn sie da sind. Dann ist es fast egal, was da steht. Denn die Leute bringen ihre Erinnerungen mit. Sie wollen einen Punkt, an dem sie sich wiederfinden können.“

Einen Punkt, an dem sich die Zeitzeugen der Wiedervereinigung und des Mauerfalls wiederfinden können, bot Günter de Bruyn, der das Literarisch-Politische Symposium nach einer kurzen Einführung durch Roland Berbig (Humboldt-Universität) mit einer höchst eindrucksvollen Lesung aus seiner Autobiographie „Vierzig Jahre“ (1996) abrundete. Der Literaturpreisträger der Stiftung 1996 las das Schlusskapitel. Es heißt „Martinstag“ und behandelt den Tag nach dem Mauerfall, den 10. November 1989: der Namenstag des Autors, der Geburtstag von Luther und Schiller. Jahrestage, an die die Literatur erinnert. Prägnanter, unpathetischer als Günter de Bruyn kann man davon kaum erzählen.

Die Autorin ist Stipendiatin der Journalistischen Nachwuchsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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Prof. Dr. Michael Braun

Prof. Dr

Referent Literatur

michael.braun@kas.de +49 30 26996-2544

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