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Mehr Demokratie wagen in Jordanien

Im Schatten des Gaza-Krieges wählt das Haschemitische Königreich ein neues Parlament

Jordanien bemüht sich engagiert wie lange nicht mehr um die politische Beteiligung seiner Bürger – allerdings wohltemperiert und unter strenger staatlicher Aufsicht. Die Parlamentswahlen am 10. September sind ein erster Meilenstein in der schrittweisen Demokratisierung, die König Abdullah seinem Land verordnet hat – und ein Hoffnungsschimmer.

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Angesichts des Terrors vom 7. Oktober, der Verheerung des Gazastreifens und der steten Sorge vor einer regionalen Gewalteskalation im Nahen Osten ist die Frage nach der inneren Verfasstheit arabischer Staaten in den Hintergrund gerückt. Von Demokratie mag schon lange nicht mehr die Rede sein. Doch die einst im „Arabischen Frühling“ aufgeworfenen Fragen nach einer zukunftsfähigen Art des Regierens und Zusammenlebens bleiben vielerorts offen – und ein potenzieller Unruhefaktor in einer geopolitisch ohnehin unruhigen Region.

Es ist das sonst eher unauffällige Jordanien, das sich gerade an einer Antwort versucht, die dort „politische Modernisierung“ genannt wird und die mit den Parlamentswahlen am 10. September 2024 ihre Feuertaufe zu bestehen hat.

 

Politische Modernisierung „von oben“

Vor drei Jahren hatte König Abdullah ein Reformkomitee einberufen. Es sollte Vorschläge erarbeiten, wie die politische Beteiligung der Bürger erhöht und das Königreich sukzessive in Richtung einer echten parlamentarischen Monarchie entwickelt werden kann. Die 92 Mitglieder waren handverlesen, repräsentierten aber die ganze Breite des politischen Spektrums – und machten ihren Job: Im Mai 2022 traten auf Grundlage ihrer Empfehlungen ein neues Parteien- und Wahlgesetz in Kraft.

Der reformierte Rechtsrahmen holt vor allem die politischen Parteien aus der Schmuddelecke, in die sie in Jordanien jahrzehntelang gedrängt worden waren. So verbietet das neue Parteiengesetz ausdrücklich Diskriminierung aufgrund von Parteimitgliedschaft. Erstmals ist es Parteien erlaubt, an Universitäten aktiv zu werden. Durch eine komplizierte Quotenregelung, die neben landesweiter Mitgliedschaft auch eine Mindestbeteiligung von Frauen, Jugendlichen und Menschen mit Behinderung erfordert, soll die Repräsentationskraft von Parteien verbessert werden.

Auch das neue Wahlgesetz kommt technisch daher, ist aber für das verkrustete politische System in Jordanien eine kleine Revolution. Bisher wählten die Jordanier nur ihren Wahlkreiskandidaten – in der Regel eine einflussreiche Persönlichkeit, der man zutraute, sich in Amman für die eigenen Alltagsbelange einzusetzen. Im Ergebnis ähnelte das Parlament dann eher einer Versammlung von Ombudsleuten. Es war zwar immer auch eine Bühne für öffentliche und teils auch kontroverse politische Debatten, konnte aber seine legislative Rolle und seinen Kontrollauftrag gegenüber der Regierung letztlich nie richtig erfüllen. In der gesamten nun ablaufenden Legislaturperiode kamen aus dem Parlament nur 15 Gesetzesinitiativen, wovon eine tatsächlich umgesetzt wurde. Nach der letzten Wahl vor vier Jahren verfügte nur rund ein Dutzend der Abgeordneten überhaupt über eine Parteimitgliedschaft. Fraktionsarbeit fand praktisch nicht statt.

Das neue Wahlrecht führt nun eine Zweitstimme ein, mit der neben dem Wahlkreiskandidaten auch eine nationale Liste gewählt wird, die jeweils von einer Partei oder einer Koalition von Parteien gestellt wird. Auch hier gibt es eine Quotenregelung. So müssen unter den ersten drei sowie den folgenden drei Listenplätzen jeweils eine Frau und unter den ersten fünf Listenplätzen ein Kandidat unter 35 Jahren sein. Daneben ist für Minderheiten wie die Christen, wie bisher, eine Mindestanzahl an Sitzen garantiert. 41 der insgesamt 138 Parlamentssitze werden an die Kandidaten auf den Parteilisten vergeben. Da diesmal auch rund die Hälfte der Direktkandidaten unter einem Parteibanner antritt, wird das neue Parlament zweifellos das parteipolitischste seit Anfang der 1990er Jahre sein als – nach Jahrzehnten des Kriegsrechts – Parteien wieder zugelassen wurden.

Doch Jordanien, das sich als demographisch vielfältiges, ressourcenarmes und von größeren Mächten und regionalen Konflikten eingezwängtes Land seit hundert Jahren vorsichtig und geschickt durch die Wirren des Nahen Ostens schlängelt, wäre nicht Jordanien, wenn dieser rechtliche Demokratisierungsschritt nicht mit allerlei Sicherheitsnetzen versehen wäre.

 

Partizipation und Kontrolle

Erstens ist der Prozess graduell. Die angestrebte Parteipolitisierung des Parlaments soll sich auf drei Wahlzyklen erstrecken. Die Anzahl der für die Parteilisten vorgesehenen Sitze wird dabei sukzessive erhöht. Zwar ist das bereits gesetzlich festgeschrieben, aber Gesetze können eben auch wieder geändert werden. Zweitens hat man eine gesetzliche Kopplung von Wahlausgang und Regierungsbildung vermieden. Der König ist nach wie vor völlig frei in der Ernennung der Regierung. Er muss also nicht, wie es etwa in Marokko seit 2011 der Fall ist, einen Premierminister derjenigen Partei ernennen, die bei den Wahlen am besten abschneidet. Er könnte es aber – jetzt oder eben eines Tages, wenn er die Zeit dafür reif sieht. Die Regierung braucht zwar ein Vertrauensvotum des Parlaments, im monarchistischen Jordanien ist das aber gemeinhin nur Formsache.

Das dritte Sicherheitsnetz ist ein verfassungsmäßiges. Zeitgleich mit der Reform des Parteien- und Wahlgesetzes wurden – im Übrigen ohne große öffentliche Debatte – mit einer Verfassungsänderung einige Kompetenzen, die zuvor de jure bei der Regierung bzw. dem Premierminister lagen, nun auch formal dem König übertragen. Das betrifft vor allem den Bereich der Außenpolitik und die Ernennung von Spitzenbeamten. Sollte es also irgendwann mal eine parteipolitische Regierung geben, die – aus Sicht des Königshofes und des Establishments – gegen grundlegende nationale Interessen handelt, wird sie sich rechtlich jedenfalls nicht durchsetzen können.

Dieser Ansatz stößt selbst bei so manchen liberalen und demokratieorientierten Jordaniern auf Zustimmung, die andernfalls ein übermäßiges Erstarken von populistischen oder islamistischen Kräften befürchten, welche aus ihrer Sicht dann die Stabilität des Landes gefährden könnten – sei es mit Blick auf den inneren Frieden oder die außenpolitische Orientierung. Denn die den Muslimbrüdern nahestehende Islamische Aktionsfront galt lange als mit Abstand stärkste Partei des Landes.

Mittlerweile haben sich aber – nicht zuletzt mit mindestens indirekter staatlicher Unterstützung – neue Zentrumsparteien herausgebildet, teils mit eher konservativer, teils mit eher sozialdemokratischer Note. Diese konnten in kurzer Zeit eine relativ breite Mitgliederbasis aufbauen und bekannte Persönlichkeiten für sich gewinnen. Nicht zufällig werden die beiden prominentesten dieser Parteien von ehemaligen Ministern geführt. Insgesamt hat sich die Anzahl der Parteimitglieder in Jordanien seit dem Beginn der „politischen Modernisierung“ im Jahre 2021 verfünffacht, auf mittlerweile fast 100.000.

Seit vor wenigen Wochen der Wahlkampf begonnen hat, sind Jordaniens Städte zugepflastert mit Plakaten. Erstmals hat der staatliche Fernsehsender Al-Mamlaka thematische Debatten zwischen den Parteiführern organisiert. Regierungsbehörden werben eindringlich mit Online-Kampagnen und einer Flut von Kurznachrichten auf die Mobiltelefone der Jordanier um eine Stimmabgabe. Der Wahltag, ein Dienstag, wurde extra zu einem Feiertag erklärt.

In politischen Zirkeln und gerade auch bei politisch interessierten jungen Menschen ist durchaus Begeisterung für den neuen Aufbruch spürbar. Doch viele der Jordanierinnen und Jordanier bleiben skeptisch – Umfragen zufolge immer noch eine deutliche Mehrheit.[i] Zu tief sitzt im kollektiven Gedächtnis das Misstrauen, das der Staat politischem Aktivismus lange Zeit entgegenbracht hat. Warum soll plötzlich richtig sein, was früher gegebenfalls zu Nachteilen in der Berufslaufbahn oder bürokratischen Schikanen führen konnte?

Tatsächlich geht das Bemühen um eine Ausweitung politischer Partizipation bislang nicht einher mit einer Ausweitung kritischer Diskursräume, etwa durch eine Stärkung der Meinungsfreiheit – im Gegenteil, sagen internationale Menschenrechtsorganisationen. So hat Freedom House Jordanien in seinem globalen Freiheitsranking, das politische Rechte und bürgerliche Freiheiten einbezieht, seit 2021 von „teilweise frei“ auf „nicht frei“ heruntergestuft.[ii] Unter anderem stärkt ein vergangenes Jahr im Eilverfahren verabschiedetes Gesetz zur Bekämpfung von Internetkriminalität die Befugnisse der Sicherheitsbehörden, die damit eben auch gegen regierungskritische Stimmen vorgehen können.[iii]

Zuletzt kam es im Zuge der in Jordanien heftigen Proteste mit Blick auf den Gaza-Krieges zu Verhaftungen von oppositionellen Aktivisten, die eine härtere Gangart ihres Landes gegenüber Israel fordern und denen eine Störung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen wurde.[iv] Zudem gibt die durch die Reform des Parteiengesetzes erforderliche Neuregistrierung für Parteien den Behörden zudem ein weiteres Kontrollinstrument in die Hand. Eine der prominentesten Oppositionsparteien, die Partei für Partnerschaft und Rettung, scheiterte vorgeblich an formalen Hürden, vermutet aber eine politische Motivation. An der anstehenden Wahl kann sie jedenfalls nicht teilnehmen. 

All dies kratzt an der Glaubwürdigkeit des politischen Reformprozesses. Auch die Wahlkampagne zeigt, dass Jordanien noch mindestens mit einem Fuß im alten System festhängt. Mehr als Themen stehen die Kandidaten im Vordergrund, viele Slogans bleiben abstrakt. Einige der jungen Parteien konnten noch keine ausgefeilten Programme entwickeln. Ein Gutteil der alten Elite hat sich schlicht einen neuen parteipolitischen Mantel umgehängt und stellt sich wieder zur Wahl. Auch das erklärte Ziel, die Anzahl der Parteien substanziell zu reduzieren und eine übersichtliche ideologisch und inhaltlich strukturierte Parteienlandschaft zu schaffen, hat sich noch nicht erfüllt. 38 Parteien und dazu zahlreiche lokale parteiunabhängige Listen werben um die Stimmen der Wähler, was zu deren Verwirrung und zur Zersplitterung politischer Repräsentation beiträgt.

 

Vor der Wahl ist nach der Wahl

Im Ergebnis wird Jordanien am Tag nach der Wahl kein anderes sein als vorher. Das mag einerseits beruhigend sein, nicht zuletzt für die internationalen Partner des Landes, das als für seine Stabilität geschätzter Verbündeter des Westens für diesen von zunehmender geopolitischer Bedeutung ist. Andererseits führt es zu einem Dilemma: Wie kann die Bevölkerung zur Stimmabgabe motiviert werden, wenn die politische Orientierung des Landes damit nicht grundlegend beeinflusst werden kann? Inwieweit es gelingt, die 2020 historisch niedrige Wahlbeteiligung von damals 29 Prozent zu erhöhen, gilt deshalb – gerade auch den Entscheidungsträgern in Jordanien selbst – als der eigentliche Gradmesser für den Erfolg der anstehenden Wahl.

Eine Unbekannte dabei ist, wie sich die Gewalteskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt seit dem 7. Oktober auf das Wahlverhalten der Jordanier auswirkt. Zwar brachte der Gaza-Krieg eine extreme Politisierung gerade der jüngeren Generation mit sich. Viele beteiligten sich erstmals an politischen Aktionen, von Protestbriefen über Demonstrationen bis hin zu Boykottkampagnen. Dies muss sich allerdings nicht unbedingt in eine Beteiligung an einem institutionalisierten Prozess wie den Wahlen übersetzen, von deren Ausgang man sich ohnehin kaum eine Politikveränderung jedenfalls zu diesem Thema erwartet. Hinzu kommt, dass Solidarität mit den Palästinensern in allen politischen Lagern deutlich artikuliert worden ist.

Die Islamisten vorneweg versuchen gleichwohl, daraus politisches Kapital zu schlagen. Sie setzen in diesem Wahlkampf besonders auf eine geschichtsverklärende und pan-islamische Rhetorik – und auf eine Unterstützung dessen, was sie als „palästinensischen Widerstand“ definieren. So ist das zentrale Wahlkampflogo der Islamischen Aktionsfront ein in den islamisch konnotierten Farben grün und weiß gehaltenes umgedrehtes Dreieck – offensichtlich eine Anspielung auf das seit dem Gaza-Krieg bekannte rote „Hamas-Dreieck“. Dass diese Strategie durchaus aufgehen könnte, schlussfolgern manche Beobachter aus den Studentenwahlen im vergangenen Mai. An der größten und wichtigsten Hochschule des Landes, der in der Hauptstadt ansässigen Universität von Jordanien, fuhr die den Muslimbrüdern nahestehende Liste mit 45 Prozent ein überraschend gutes Ergebnis ein. Doch in den anderen Landesteilen konnten sich national-konservative und von traditionellen Stammesstrukturen geprägte Listen durchsetzen. Liberale und progressive Kräfte fürchten zwar, in den Strudel der Kritik am Westen und der ihm unterstellten Doppelmoral zu geraten, die im Zuge des Gaza-Krieges in Jordanien sehr laut geworden ist.[v] Doch gerade in der Endphase des Wahlkampfes sind innenpolitische, vor allem sozioökonomische Themen wieder in den Vordergrund gerückt, wie der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und die Stärkung des Sozialstaats. 

Die anstehenden Parlamentswahlen sind sicher kein demokratischer Durchbruch. Aber es wäre ungerecht, sie als parteipolitische Trockenübung oder gar bloßes Feigenblatt abzutun. Es gibt dieses Mal mehr als zuvor authentische Debatten über Ideologien und Ideen und authentische Kandidatinnen und Kandidaten, die sich in Repräsentations- und Entscheidungsprozesse einbringen wollen. In einer Zeit, in der die Demokratie vielerorts auf dem Rückzug ist, bemüht sich Jordanien um einen Schritt hin zu einem inklusiveren politischen System. Wenn damit mehr politischer Teilhabe und letztlich eine stärker den Bürgern verpflichtete Regierungsführung erreicht wird, kann das Königreich ein hoffungsvolles Zeichen setzen, das auch über seine Grenzen hinausreicht.

 

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[i] International Republican Institute: „State of the State – Nationwide Survey of Jordan, Wave 4”, Februar 2024, online abrufbar:  https://www.iri.org/wp-content/uploads/2024/05/Jordan-IRI-February-2024-poll-full-presentation.pdf [02.09.2024]; Konrad-Adenauer-Stiftung/NAMA: „The State of Political Participation and Representation in Jordan“, Dezember 2022, online abrufbar: https://www.kas.de/en/web/jordanien/single-title/-/content/survey-the-state-of-political-participation-and-representation-in-jordan-2022 [02.09.2024].

[ii] Freedom House: Freedom in the World 2024 (und Vorjahre), online abrufbar: https://freedomhouse.org/country/jordan/freedom-world/2024 [02.09.2024].

[iii] Human Rights Watch: Jordan – Scrap Draconian Cybercrimes Bill. Proposed Law Threatens Rights to Expression, Anonymity, Access to Information, 24. Juli 2024, online abrufbar: https://www.hrw.org/news/2023/07/24/jordan-scrap-draconian-cybercrimes-bill [02.09.2024].

[iv] The New Arab: Jordanian government makes arrests amid growing protests for Gaza, 2. April 2024, online abrufbar: https://www.newarab.com/news/jordan-makes-arrests-amid-growing-gaza-protests [02.09.2024].

[v] Edmund Ratka: Jordanien – die neue Wut auf den Westen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, April 2024. Online abrubar:  https://www.blaetter.de/ausgabe/2024/april/jordanien-die-neue-wut-auf-den-westen [02.09.2024].

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Dr. Edmund Ratka

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Leiter des Auslandsbüros Jordanien

edmund.ratka@kas.de +962 6 5929777

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