Pojedinačni naslov
Zusammenfassung
Auch über zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist Deutschland unterschiedlich entwickelt und die Klage über das Fehlen gleicher Lebensverhältnis weit verbreitet. In vielen Umfragen wird gerade den Menschen in den neuen Bundesländern attestiert, sie würden Gleichheit höher bewerten als Freiheit. Da verwundert es wenig, dass in den politischen Debatten von der Gleichheit nur allzu oft der Bogen zur Gerechtigkeit geschlagen wird – sie ist der Grundwert, an dem sich das Gemeinwesen messen lassen muss. Wird dann ein vermeintliches Gerechtigkeitsdefizit diagnostiziert, verblasst nicht selten die gemeinsame Aufbauleistung von Ost und West nach 1990 angesichts dieses moralischen Anspruches und der ungeheure Zugewinn an persönlicher Freiheit.
Was aber ist Gerechtigkeit? Ein Blick in die Geschichte der Philosophie – den Michael Borchard und Thomas Schrapel unternehmen – zeigt, dass sie nicht einfach nur auf Gleichheit reduziert werden kann, sondern mit dem Begriff der Chancengerechtigkeit und dem Begriff der Verantwortung die Freiheit immer mit einschließt. Auch muss eine gerechte Ordnung nicht zwangsläufig in einem Sozialstaat gipfeln. Dies ist ein Spezifikum der deutschen Geschichte, wie Hans Maier in seinem Beitrag zu den Voraussetzungen des Sozialstaates hervorhebt. Der Sozialstaat ist demnach das komplexe Ergebnis verschiedener religiöser, staatlicher und ökonomischer Voraussetzungen.
Ebenso wie der Sozialstaat ist auch der Wohlstand der alten Bundesländer historisch gewachsen. Er lässt sich nicht einfach als Maßstab auf die neuen Länder übertragen. Hans-Joachim Veen warnt deswegen davor, die Frage der „inneren Einheit“ auf die ausgleichende Gerechtigkeit zu verengen. Andersherum könnte aber auch gefragt werden, warum weiter erhebliche finanzielle Mittel in die neuen Länder transferiert werden, obwohl auch in den alten Ländern teils erhebliche Entwicklungsdifferenzen bestehen. Aus einer wirtschaftspolitischen Perspektive heraus zeigt Ulrich Blum jedoch, dass der „Aufbau Ost“ keine Fehlinvestition war, sondern infrastrukturelle Nachteile ausgeglichen wurden. Zudem handelte es sich nicht um eine finanzielle Einbahnstraße, da auch die Wirtschaft der alten Bundesländer vor allem von den Wanderungsbewegungen von Ost nach West massiv profitierte.
Strukturelle Entwicklungsunterschiede gibt es jedoch nicht allein in Deutschland, sondern beispielsweise auch in der wohlhabenden Schweiz. Dort wird diskutiert, ob sich infrastrukturelle Maßnahmen an kurz- oder mittelfristigen Effizienzerwartungen orientieren sollen. In Deutschland führen wir eine ähnliche Debatte, wenn über die Bildung von „Cluster-Regionen“ oder eine breite Förderung gestritten wird. Martin Lendi rät, bei der Entwicklung von Regionen nicht nur ökonomische Gesichtspunkte heranzuziehen, sondern die konkreten Vorhaben an den Kriterien der Zweckmäßigkeit, des Gebotenen und des Gerechten auszurichten.
Auf strukturelle Unterschiede muss man also differenziert reagieren. Wie aber sollen kulturelle Differenzen bewältigt werden? Häufig wird „den Ostdeutschen“ vorgeworfen, dass sie aufgrund ihrer Sozialisation in der SED-Diktatur einem nostalgischen Egalitarismus anhingen, während „die Westdeutschen“ mit der Freiheit den für die Demokratie grundlegenderen Wert höher schätzen würden. Demgegenüber weist Gert Pickel gestützt auf empirische Untersuchungen nach, dass die Einstellungsunterschiede zwischen Ost und West keineswegs so gravierend sind, wie in der Publizistik gerne unterstellt wird. Vielmehr teilt auch die Mehrheit der Menschen in den alten Bundesländern die Auffassung von der Notwendigkeit eines Sozialausgleichs mit dem Ziel der Mindestsicherung. Die populäre Sozialisationsthese beruht letztlich nur auf einem Missverständnis des Begriffs der Gleichheit, der in Ost und West unterschiedliche Inhalte hat. Ähnliches gilt für die Arbeitslosigkeitserfahrungen in Ost- und Westdeutschland, wie Thorsten Faas darlegt. Obwohl Arbeitslosigkeit in einigen neuen Bundesländern quantitativ deutlich mehr verbreitet ist als in den alten, führt dies nicht zu einem unterschiedlichen Gerechtigkeitsempfinden oder zu verschiedenen Staatsvorstellungen in Ost- und Westdeutschland.
Auffällig viele Gemeinsamkeiten bei der Vorstellung von Gerechtigkeit kommen auch in dem in dem Buch abgedruckten Interview zwischen Bernhard Vogel, der sowohl in einem westdeutschen als auch einem ostdeutschen Bundesland Ministerpräsident war, und dem ehemaligen DDR-Oppositionellen Arnold Vaatz unter der Moderation von Gerald Praschl, dem Chefreporter der Super Illu, zutage. Letztlich wird deutlich: Auch in Fragen der Gerechtigkeit eint die Deutschen mehr als sie trennt.
Inhaltsverzeichnis
Michael Borchard, Thomas Schrapel
"Gerechtigkeit" - Philosophie als Anleitung zur Politik
Hans Maier
Historische Voraussetzungen des Sozialstaats in Deutschland (2002)
Hans-Joachim Veen
Deutschlands "innere Einheit" - neuer Gemeinschaftsmythos oder puralistische Demokratie?
Ulrich Blum
Aufbau Ost - eine "gerechte" Investition
Martin Lendi
Zweckmäßiges, Gebotenes, Gerechtes - als Maßstäbe staatlichen Handelns
Gert Pickel
Gerechtigkeit und Politik in der deutschen Bevölkerung - die Folgen der Wahrnehmung von Gerechtigkeit für die politische Kultur im vereinten Deutschland
Thorsten Faas
Arbeitslosigkeitserfahrungen in Ost- und Westdeutschland
Gespräch zwischen Bernhard Vogel und Arnold Vaatz
Autorenverzeichnis
Das Buch kann zum Preis von 24,90 Euro bei Frau Anne Halbey-Muzlah (anne.muzlah@kas.de) bestellt werden.