Demografische Dividende oder Krise?
Die Tatsache, dass Indiens Bevölkerung heute diejenige Chinas übersteigt, hätte vor zwei Jahrzehnten bei politischen Entscheidungsträgern und der Zivilgesellschaft Indiens Ängste vor einer „Bevölkerungsexplosion“ geschürt. Die Befürchtung, dass die wirtschaftliche Entwicklung unter der Last einer unkontrolliert wachsenden Bevölkerung zusammenbrechen und die Ressourcen des Landes erschöpft werden würden, wurde von der indischen Politik bis Anfang der 2000er Jahre genährt.
In den 1960er Jahren griff Premierministerin Indira Gandhi zu rigorosen Maßnahmen zur Kontrolle der Geburtenrate, die bei sechs Kindern pro Frau lag.[i] Das Wirtschaftswachstum des Landes war zu dieser Zeit verhältnismäßig gering – von den 1950er Jahren bis Anfang der 1990er Jahre betrug es durchschnittlich 4 Prozent. „Das größte Hindernis auf dem Weg zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist die alarmierende Rate des Bevölkerungswachstums“[ii], erklärte der damalig indische Minister für Gesundheit und Familienplanung, S. Chandrasekhar, im Jahr 1967. Europäische Regierungen und die USA, die in Indien schon damals ein demokratisches Gegengewicht zu China sahen, schlossen sich dieser Meinung an. Die Weltbank gewährte dem Subkontinent ein Darlehen in Höhe von 66 Millionen Dollar für Sterilisationsprogramme, während die Vereinigten Staaten Nahrungsmittelhilfen an den Erfolg der Bevölkerungskontrollinitiativen des Landes knüpften.[iii] In den 1970er Jahren führte Indien Zwangssterilisationen an Millionen von Männern und Frauen durch, von denen Tausende an den Folgen misslungener Operationen verstarben.[iv]
In den 1980er und 1990er Jahren begann Indien schließlich, seine Wirtschaft für den Privatsektor zu öffnen. Die Wachstumsrate des Landes zog rasant an, anfangs auf 5,5 Prozent in den 1990er Jahren und dann ab den späten 2000er Jahren auf durchschnittlich über 7 Prozent. Die politischen Entscheidungsträger Indiens wähnte nun in der wachsenden jungen Bevölkerung den Motor für die wirtschaftliche Entwicklung. Diese Kehrtwende basiert auf einer Reihe von Studien, die zeigten, dass das Wirtschaftswachstum in vielen anderen Teilen der Welt zum großen Teil auf die demografische Dividende zurückzuführen war. Der nunmehr Erzrivale und Nachbar China diente unter anderem als Beispiel. Dessen Wirtschaft boomte weitgehend auch aufgrund ebendieser Dividende zwischen Anfang der 1980er Jahre und 2015.[v]
Heute hat Indien ein „Fertilitätsersatzniveau“ von knapp über zwei Kindern pro Frau erreicht.[vi] Die Bevölkerung wird jedoch noch einige Zeit weiterwachsen, da die Mehrheit der Inder jetzt ins gebärfähige Alter kommt – zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 35 Jahre alt. Dies bedeutet, dass der sogenannte „Abhängigenquotient“[1] in Indien bis 2078 voraussichtlich nicht in den negativen Bereich kippen wird.[vii] Selbst, wenn dies eintritt, wird diese Entwicklung langsam erfolgen, so dass sich der indische „Abhängigenquotient“ bis zum Jahr 2100 als äußerst robust erweisen dürfte.[viii]
Während China innerhalb nur eines Jahrzehnts von der Sorge vor Überbevölkerung zur Angst vor einem Bevölkerungsschwund getaumelt ist, muss sich der Subkontinent diesbezüglich in diesem Jahrhundert keine Gedanken machen. Im Gegenteil: Laut einer Studie der Beratungsfirma Korn Ferry wird Indien allein bis Ende 2030 mit einem unglaublichen Überschuss von 245 Millionen Fachkräften rechnen müssen.[ix] Fachkräfte, um die ein alterndes Deutschland und weitere ergrauende westliche Nationen bereits heute wetteifern. Damit verfügt Indien über einen enormen demografischen und wirtschaftlichen Vorteil gegenüber China, dessen Abhängigenquotient 25 Jahre früher ins Negative kippen wird.[x] Dies bedeutet auch, dass Indien ideale demografische Bedingungen für internationale Unternehmen bietet. Eine große Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter macht den Subkontinent nicht nur aus Sicht der internationalen Arbeitsmärkte attraktiv, sondern auch aus dem Blickwinkel der Produzenten. Das Land bietet bereits heute einen gigantischen Binnenmarkt zur Abnahme von Waren und Dienstleistungen.
Indiens demografische Dividende hat internationale Bedeutung gewonnen, mit wirtschaftlichen Verzweigungen globaler Tragweite. So wird Indien, laut einer aktuellen Analyse von Goldman Sachs die USA, die heute größte Volkswirtschaft der Welt, voraussichtlich bis 2075 überflügeln.[xi] Das Investment-Banking-Unternehmen Morgan Stanley geht davon aus, dass Indien bis 2027 die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein wird und damit Deutschland und Japan hinter sich lässt.[xii] Allein in diesem Jahr wird für den Subkontinent ein BIP-Wachstum von 7,2 % erwartet, eine beeindruckende Zahl angesichts den prognostizierten Wachstumsrate Chinas von 5,3 %, den USA mit 1,4 % und Deutschland mit 0,1%.[xiii] Alle vier Länder, die mit ihrem BIP aktuell vor Indien liegen, eint eines: Eine zunehmend alternde Bevölkerung und das damit einhergehende Fehlen von Arbeitskräften im erwerbsfähigen Alter, welche die einst hohen Wirtschaftswachstumsraten aufrechterhalten könnten.
Fachkräfteüberschuss statt Mangel
Zentrale Herausforderungen und Phänomene wie „Braindrain“, Fachkräftemangel und ein bröckelndes Sozialsystem – alles Themen, die in den Industrieländern Europas intensiv debattiert werden – sind für den indischen Kontext irrelevant. Statt der Frage, wie Fachkräfte gewonnen werden können, um das wirtschaftliche Wohl des eigenen Landes zu sichern, geht es in der indischen öffentlichen Debatte um die Schaffung von Jobs für die ungeheure Zahl von Arbeitskräften, die jedes Jahr in den Arbeitsmarkt drängen. Offiziellen Hochrechnungen zufolge liegt deren Zahl bei jährlich knapp fünf Millionen.[xiv] Staatliche Programme sollen innerhalb von fünf Jahren sechs Millionen Arbeitsplätze schaffen[xv] – was jedoch nicht ausreichen wird, um den wachsenden indischen Arbeitsmarkt zu versorgen.
Dieses Phänomen bildet auch den Hauptgrund dafür, dass Premierminister Modi immer wieder die Bedeutung der eigenen Diaspora betont, die er wiederholt als „Botschafter der Marke Indien“ [xvi] bezeichnete. Einem Bericht des indischen Außenministeriums zufolge leben derzeit rund 32 Millionen Inder im Ausland. Die im Ausland ansässigen Inder bilden damit die größte Diaspora der Welt. Jedes Jahr verlassen circa 2,5 Millionen zusätzliche Inder ihre Heimat. Mit etwa 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr an Rücküberweisungen in das eigene Land stehen die im Ausland lebenden Inder in dieser Statistik mit Abstand an der Spitze, während die Chinesen beispielsweise „nur“ 51 Milliarden US-Dollar an Rücküberweisungen in ihr Heimatland leisten.[xvii] Immerhin drei Prozent des indischen Bruttoinlandsprodukts bestehen aus Rücküberweisungen. Der Zugewinn an Erfahrung durch Rückkehrer und das globale indische Netzwerk in der Geschäftswelt werden von der Regierung ebenfalls als Vorteile der Diaspora geschätzt.
Babyboom trifft alternde Gesellschaft – Indiens zwei Gesichter
Die wohl einzige Fragestellung, die Indien im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel mit der westlichen Welt teilt, lautet, wie man einen breiten Zustrom von Migranten am besten in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft integriert. Der wesentliche Unterschied: Im Falle Indiens geht es um Binnenmigration und nicht um Einwanderung aus dem Ausland.
Die indische Regierung sieht sich hierbei mit einem kuriosen Sachverhalt konfrontiert: Dem gleichzeitigen Auftreten eines Babybooms und einer alternden Bevölkerung, alles innerhalb derselben Landesgrenzen. Im nächsten Jahrzehnt wird ein Drittel des indischen Bevölkerungswachstums auf nur zwei nördliche Bundesstaaten[2], Bihar und Uttar Pradesh, entfallen.[xviii] Bihar, der einzige Bundesstaat Indiens, in dem Frauen in der Regel immer noch mehr als drei Kinder zur Welt bringen, wird das Fertilitätsersatzniveau voraussichtlich erst 2039 erreichen.[xix] Der Bundesstaat Kerala im Süden des Landes, hat dies bereits 51 Jahre zuvor geschafft.[xx]
Indien ist daher mit einem deutlichen Nord-Süd-Gefälle konfrontiert, bei dem die Bevölkerung im reicheren Süden rückläufig ist und im Norden ansteigt. Dies führt unweigerlich zu einer Binnenmigration, die bereits heute zu beobachten ist, wobei Arbeitskräfte aus dem ärmeren Norden in die reicheren Bundesstaaten im Süden Indiens abwandern. Daraus ergeben sich politische und soziale Konsequenzen, die unter anderem die Politisierung von demographischen Entwicklungen in Indien zur Folge haben.
Im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh, der von einem Hardliner der Bharatiya Janata Party (BJP) regiert wird, wurde die hohe Bevölkerungszahl als Rechtfertigung für die Ausarbeitung eines Gesetzes zur Bevölkerungskontrolle herangezogen, das darauf abzielt, dass Ehepaare jeweils nur noch maximal zwei Kinder bekommen.[xxi] Der Gesetzesentwurf wird von einigen Beobachtern als „verschleierter“ Angriff auf Muslime gewertet. Dieser wird durch den von Hindu-Nationalisten verbreiteten, aber unzutreffenden Mythos genährt, dass die Zahl der Muslime die Zahl der Hindus schnell übersteigen wird. Dies, so einige Hindu-Nationalisten, sei Teil einer muslimischen Konspiration mit dem Ziel die Bevölkerungsmehrheit und damit auch politische Mehrheit zu erlangen.[xxii] Einige religiöse und politische Führer verstärken diese Ängste. Ein Beispiel hierfür ist Yati Narsinghanand, ein radikaler hinduistischer Mönch, der Hindus dazu aufrief, mehr Kinder zu zeugen. „Andernfalls werden sie [die Hindus] bis 2029 von den Muslimen überflutet.“[xxiii]
Wie Bevölkerungsstatistiken eindeutig zeigen, sind diese Behauptung jedoch aus der Luft gegriffen. Heute machen Muslime 14% der Bevölkerung aus, Hindus dagegen 80%.[xxiv] Zwar weisen Muslime eine höhere Geburtenrate auf als Hindus, doch ist dies in erster Linie darauf zurückzuführen, dass Muslime in Indien oft ärmer und weniger gebildet sind und einen schlechteren Zugang zu medizinischen Versorgungsleistungen haben. Die Geburtenrate von Muslimen in Indien sinkt derzeit auch rascher als diejenige von Hindus. Sie ist von einem Höchstwert von 4,4 im Jahr 1992-93 auf 2,3 im Jahr 2019-20 gesunken.[xxv] Zwischen der Geburtenrate von Hindus und Muslimen besteht nun eine Lücke von etwa 0,3 Punkten.[xxvi]
Außerdem haben demografische Trends in südindischen Bundesstaaten wie Tamil Nadu zunehmend zu migrationsfeindlichen Initiativen und Ressentiments geführt. Die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust zugunsten nordindischer Arbeitsmigranten hat viele Bürger Tamil Nadus beunruhigt. So stellen zahlreiche Privatunternehmen des Bundesstaates nordindische Migranten vor allem für körperliche Arbeiten wie z. B. im Baugewerbe ein, wobei nordindische Arbeiter generell bereit sind, für weniger Lohn mehr Arbeitsstunden zu leisten als ihre lokal ansässigen Mitbewerber.
Einige Politiker des Bundesstaates haben mit fremdenfeindlichen Äußerungen weiter Öl ins Feuer gegossen, wie beispielsweise ein Mitglied der regierenden Regionalpartei Tamil Nadus der Dravida Munnetra Kazhagam (DMK), R.S. Bharati. Dieser verglich den aus Bihar stammenden Gouverneur des Bundesstaates, R.N. Ravi, mit einem Arbeitsmigranten aus Bihar, indem er sagte: „Ich hatte schon früher gesagt, dass diejenigen, die soan papdi[3] und pani puri[4] verkaufen, den Stolz von Tamil Nadu nicht kennen... Ich habe erfahren, dass viele aus Bihar gekommen sind, und ich denke, der Gouverneur ist mit einem ähnlichen Zug gekommen.“[xxvii]
Mit dem Vorwurf an tamilische Arbeitgeber, sie würden lieber nordindische Migranten einstellen, hat auch der Widerstand der Einheimischen gegen diese Arbeitsmigranten zugenommen. Im letzten Jahr protestierten Textilarbeiter in einem Bezirk des Bundesstaates und forderten, dass einheimische Arbeitskräfte anstelle von nordindischen Migranten beschäftigt werden müssten. Diese wachsenden sozialen Spannungen haben zu einigen mutmaßlichen Gewaltakten gegen Gastarbeiter durch Mobs lokaler Unruhestifter geführt.[xxviii]
Die von der DMK beklagten angeblichen Versuche der Zentralregierung, Hindi[5] in Schulen und staatlichen Einrichtungen im Bundesstaat anstelle von Tamil[6] einzuführen,[xxix] haben die Abneigungen vieler Einheimischer gegenüber den nordindischen Migranten weiter verhärtet. In Anbetracht des demografischen Trends, der in Zukunft zu weiteren Zuströmen von Arbeitsmigranten aus Nordindien führen wird, ist es sowohl für die indische Zentralregierung als auch für die Landesregierungen unerlässlich, Lösungsansätze gegen derartige Ressentiments zu finden. Andernfalls droht eine weitere Eskalation der bereits grassierenden Fremdenfeindlichkeit.
Überschuss von Humankapital, Mangel an Qualifizierung
Abgesehen von den Problemen im Zusammenhang mit der großen Zahl von Binnenmigranten hat der Subkontinent mit zwei weiteren Herausforderungen zu kämpfen. Es handelt sich dabei um unzureichende Investitionen in das Humankapital und einen verheerend niedrigen Prozentsatz von weiblichen Arbeitskräften.
Die Regierung muss sich mit einer jungen Bevölkerung auseinandersetzen, für die es nicht genügend Schulen, Universitäten, Ausbildungsprogramme und vor allem nicht genügend Arbeitsplätze gibt. In ganz Indien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 23%, und nur einer von vier Hochschulabsolventen findet einen Job.[xxx] Letztes Jahr kam es in Bihar zu Unruhen, bei denen Züge in Brand gesteckt wurden, nachdem sich mehr als zehn Millionen Menschen auf magere 35.000 Stellen bei der indischen Staatsbahn beworben hatten.[xxxi]
Eng verbunden mit dem Problem der hohen Jugendarbeitslosigkeit ist der Mangel an qualifiziertem Nachwuchs für die gehobene Fertigungsindustrie. Indien verfügt zwar über einen Überschuss an hochqualifizierten Arbeitskräften im Dienstleistungssektor, doch fehlt es paradoxerweise an qualifizierten Arbeitskräften für den Fertigungssektor. Ein Industriezweig, den Premierminister Modi mit Initiativen wie „Make in India“ als entscheidenden Impulsgeber für die indische Wirtschaft ausgerufen hat.
Dies spiegelt sich auch in den relativ niedrigen Wachstumsraten des Fertigungssektors im Vergleich zum Dienstleistungssektor wider. Auf der einen Seite hat der Dienstleistungssektor trotz eines sehr hohen Ausgangswertes im Haushaltsjahr 2021/2022 von 28,2% einen marginal höheren Zuwachs von 28,3% im Jahr 2022/2023 erreicht und damit die Wachstumsrate von 7,2% des indischen BIP maßgeblich gestützt. Auf der anderen Seite ist das Wachstum des Fertigungssektors von einem Wachstum von 11,1% im Haushaltsjahr 2021/2022 auf einen Wachstumsprozentsatz von 1,3% im Haushaltsjahr 2022/2023 gesunken.[xxxii]
Wie vom Weltwirtschaftsforum bereits 2021 vorgeschlagen, muss die indische Regierung dringend den Schwerpunkt von reinen Kostensenkungen auf den Aufbau nachhaltiger Fähigkeiten durch die Qualifizierung von Arbeitskräften und die Nutzung seines immensen jungen Humankapitals verlagern.
Der Report des Weltwirtschaftsforum zeigt auf, dass Investitionen in die Qualifizierung der Arbeitskräfte die indische Wirtschaft bis zum Jahr 2030 um 570 Milliarden Dollar ankurbeln könnten.[xxxiii] Damit dieses Potenzial ausgeschöpft werden kann, müsste die indische Regierung jedoch einen nationalen Qualifikationsrahmen einrichten, der den Übergang von der Berufsausbildung zur formalen Bildung und vice versa gewährleistet. Nur durch die verstärkte Fortbildung der derzeitigen Arbeitskräfte und die Ausrichtung eines nationalen Qualifizierungsprogramms welches auf künftige Anforderungen der Industrie angepasst ist, können das Qualifikationsdefizit in der Fertigungsindustrie in naher Zukunft ausgeglichen werden.
Vergeudetes Kapital
Doch selbst wenn dies verwirklicht werden sollte, hat Indien gemäß einer Statistik der Weltbank aus dem Jahr 2022 weiterhin mit der drittniedrigsten weiblichen Erwerbsbeteiligung in ganz Südasien zu kämpfen. Diese liegt bei mageren 23,5%, ein Wert, der nur noch durch Afghanistan und Pakistan unterboten wird.[xxxiv] Angesichts einer solcher Statistik verliert Indien eine unvorstellbare Menge an Humankapital, Talent und Innovationspotenzial. Zugleich schrumpft der Binnenmarkt um eine enorme Anzahl von Konsumenten, die nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügen, sich aktiv an diesem zu beteiligen. Allerdings lassen diese Werte den 7,2% Zuwachs des indischen BIP noch beeindruckender erscheinen, so dass sich die Frage aufdrängt, um wieviel mehr das Land wachsen könnte, würde es eine Frauenerwerbsquote von 46,7% wie etwa in Deutschland erreichen.[xxxv]
Diese Statistik spiegelt jedoch auch das Versagen indischer Regierungen und Unternehmen hinsichtlich einer adäquaten Einbeziehung von Frauen in die Arbeitswelt wider. Jahrzehntelang wurde nicht bewusst darauf geachtet, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Geschlechtern als Teil der Wirtschaftsstrategie zu erreichen. In Verbindung mit der Vorliebe für die Einstellung von Männern hat dies dazu geführt, dass die Beteiligung von Frauen heutzutage ausgesprochen niedrig ausfällt. Abgesehen davon spielen auch kulturelle Faktoren eine große Rolle. In einer im Allgemeinen recht traditionellen Gesellschaft wie der indischen, in der familiäre Pflichten nach der Heirat zwischen Mann und Frau aufgeteilt werden, sind es in den meisten Fällen die Frauen, die ihre Arbeit aufgeben, um sich komplett um den Haushalt zu kümmern.
Um die riesige Lücke bei der Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt zu schließen, müsste die indische Regierung potenziellen Arbeitgebern Anreize für bessere Bezahlung, Ausbildung, Qualifikationserwerb sowie Anstellungsquoten verordnen, um die Einstellung von Frauen zu fördern. Nur mit einer zunehmenden Zahl von Frauen in Entscheidungspositionen und in der erwerbstätigen Bevölkerung werden sich die inhärenten geschlechtsspezifischen Vorurteile ändern und die Erwerbsbeteiligung von Frauen steigen können, ohne dass Quoten oder Anreize erforderlich sind. Angesichts dessen, dass die demografische Dividende nicht für immer und ewig Bestand haben wird, ist eine rasche Erhöhung der weiblichen Erwerbsbeteiligung für ein prosperierendes Indien umso dringlicher.
Es ist jedoch relativ unwahrscheinlich, dass solche Maßnahmen angesichts des bereits erwähnten Mangels an Arbeitsplätzen für die breite Masse der Inder rasch in die Praxis umgesetzt werden. Da es in einem immer noch recht traditionell geprägten Indien nicht genügend Arbeitsplätze für Männer gibt, wird die Frage der weiblichen Erwerbsbeteiligung vorwiegend in elitären Kreisen diskutiert. Die große Mehrheit der Bevölkerung drängt nicht auf eine gleichstellungsorientierte Arbeitsmarktpolitik, sondern betrachtet das Problem der Arbeitslosigkeit als eines, dass keine geschlechtsspezifische Komponente besitzt. Fehlt aber der Druck der breiten Masse der Bevölkerung, werden die politischen Entscheidungsträger Indiens weiter zögern, gezielte Maßnahmen zur Verringerung der geschlechtsspezifischen Diskrepanz auf dem heimischen Arbeitsmarkt zu ergreifen.
Fazit
Die demografische Dividende Indiens wirkt bereits jetzt als zentraler Motor für das atemberaubende Wirtschaftswachstum des Landes in den letzten Jahren. Längst sind die Zeiten vorbei, in denen Überbevölkerung den politischen Entscheidungsträgern der Nation Kopfzerbrechen bereitete. Mit einer jungen Bevölkerung kommen jedoch auch Herausforderungen einher – sei es Konsequenzen der Massenabwanderung in den reicheren Süden oder die notwendige Schaffung von jährlich Millionen neuer Arbeitsplätze. Insbesondere die geringe Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt gibt allerdings Grund zur Sorge, dass Indiens Traum, innerhalb der nächsten sechs Jahrzehnte die größte Wirtschaft der Welt zu werden, ein solcher bleiben wird. Angesichts Prognosen der indischen Regierung, wonach die indische Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter im Jahr 2041 ihren Höchststand erreichen wird, müssen diese Probleme so schnell wie möglich gelöst werden, will Indien seine demografische Dividende optimal ausschöpfen.
[1] Gibt das Verhältnis zwischen der Zahl der Menschen im nicht erwerbsfähigen Alter und der Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter in einer Gesellschaft an. Ist er negativ, ist die Zahl der Menschen im nicht erwerbsfähigen Alter höher als die der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Ist er positiv, so ist das Gegenteil der Fall.
[2] Indien ist in 28 Bundesstaaten und 8 so genannte „Unionsterritorien“ aufgeteilt.
[3] Soan Papdi ist eine vor allem in Nordindien beliebte Süßigkeit.
[4] Pani Puri ist ein populärer Snack aus Nordindien, der meist von Straßenhändlern aus den nordindischen Bundesstaaten verkauft wird.
[5] Großteils die Sprache der nordindischen Migranten.
[6] Sprache des Bundesstaates Tamil Nadu.
[i] Adrija Roychowdhury (2023): Why experts say India does not need a population policy, The Indian Express, in: https://encr.pw/6f88j
[ii] R. Jaganmohan Rao (1974): Joint family and population problem: a study in legal policy, Journal of the Indian Law Institute, in: https://encr.pw/sUMAC
[iii] Prajakta R. Gupte (2017): India: “The Emergency” and the Politics of Mass Sterilization, Association for Asian Studies, in: https://rb.gy/zmf3q
[iv] Ebd. 3
[v] Xin Yuan & Yuan Gao (2020): Demographic transition and economic miracles in China: an analysis based on demographic perspective, International Journal of Economic Policy Studies, in: https://rb.gy/j35q6
[vi] United Nations (2021): World Population Policies 2021, in: https://rb.gy/0uxmd
[vii] The Print (2023): India’s population leap: 5 takeaways, why China is in a sulk, & why growing numbers needn’t be scary, in: https://rb.gy/bqzub
[viii] Ebd. 7
[ix] Korn Ferry (2018): Future of Work: The Global Talent Crunch, in: https://rb.gy/wi7cd
[x] Ebd. 7 & Ebd. 8
[xi] Goldman Sachs (2023): How India could rise to the world’s second-biggest economy, in: https://rb.gy/l7h48
[xii] Morgan Stanley (2022): India’s impending economic boom, in: https://rb.gy/2ofsv
[xiii] Visual Capitalist (2023): MARKETS Mapped: GDP Growth Forecasts by Country, in 2023, in: https://rb.gy/07j2o
[xiv] IndiaSpend (2018): Only 4.75 Million Join India's Workforce Annually, Not 12 Million As Claimed, in: https://rb.gy/eaj6i
[xv] Bussiness Standard (2022): PLI scheme may generate 6 million jobs in next 5 years: FM Sitharaman, in: https://rb.gy/p8vzj
[xvi] Gulf News (2023): Indian diaspora are brand ambassadors: Modi, in: https://rb.gy/95i98
[xvii] Bussiness Standard (2022): Indian migrant workers send home record $100 billion in 2022: World Bank, in: https://rb.gy/ukoca
[xviii] The Guardian (2023): India overtakes China to become world’s most populous country, in: https://rb.gy/jhec9
[xix] Gurbir Singh (2023): India on top in population: the challenge, the opportunity, The New Indian Express, in: https://rb.gy/n70zn
[xx] Jairam Ramesh (2013): 'Kerala, Tamil Nadu, Andhra Pradesh: India's population revolution', India Today, in: https://rb.gy/ii3ns
[xxi] Hindustan Times (2021): UP law panel proposes 'two-child' population policy. All you need to know, in: https://rb.gy/17avp
[xxii] Tarushi Aswani (2023): Blaming Muslims for India's Population Growth Is Purely Hindutva Propaganda, The Wire, in: https://rb.gy/pgi4v
[xxiii] Kavita Chowdhury (2022): Contrary to Hindutva Claims, India’s Muslim Fertility Rate is Declining Sharply, in: https://rb.gy/maha2
[xxiv] Soutik Biswas (2021): Pew survey: India is neither a melting pot nor a salad bowl, BBC. in: https://rb.gy/14jvw
[xxv] Ebd. 23
[xxvi] Ebd. 23 & Ebd. 25
[xxvii] India TV (2023): "...Gov Ravi may have come from Bihar, says DMK leader Bharathi, in: https://rb.gy/cl6rk
[xxviii] OpIndia (2023): Hindi-speaking migrants returning from Tamil Nadu narrate horrific stories of atrocities, in: https://rb.gy/419j5
[xxix] Business Standard (2022): DMK hits out at the central govt over Hindi 'imposition', in: https://rb.gy/1g01d
[xxx] Statista (2023): India: Youth unemployment rate from 1999 to 2022, in: https://rb.gy/lwd3h
[xxxi] Soutik Biswas (2022): Bihar railways exam violence: 'We are graduates, we are hungry', BBC, in: https://rb.gy/8azbw
[xxxii] The Print (2023): A non-economist’s guide to latest GDP, fiscal deficit, GST data, PMI pointers & health of economy, in: https://rb.gy/oj9qq
[xxxiii] World Economic Forum (2021): Upskilling for Shared Prosperity, in: https://rb.gy/otz1g
[xxxiv] The World Bank (2022): Labor force, female (% of total labor force) - South Asia, in: https://rb.gy/vrwlg
[xxxv] The World Bank (2022): Labor force, female (% of total labor force), in: https://rb.gy/j0vg2
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