„Akzeptabler“ Wahlrat oder inakzeptabler Schiedsrichter?
Dreh- und Angelpunkt für die Teilnahme an den Wahlen im Oktober ist die Existenz eines aus Sicht von Teilen der Opposition „akzeptablen“ Wahlrats mit Präsenz von oppositionsnahen Rektoren. Dies scheint mit Benennung der Rektoren durch die Nationalversammlung am 4. Mai gelungen zu sein.Analysten bewerten die Besetzung des Wahlrats als ausgewogen, mit regierungs- und oppositionsnahen und auch eher neutralen Vertretern, sowohl bei den Rektoren als auch bei deren zehn Stellvertretern. Die fünf künftigen Rektoren sind:
- Alexis Corredor, Professor für Geschichte und Geografie, ehemaliger Abgeordneter der Verfassungsgebenden Versammlung und ehemaliges Mitglieder der PSUV (Sozialistische Einheitspartei), regierungsnah.
- Tania D´Amelio, ehemalige Abgeordnete, seit 2009 Rektorin des Wahlrats, durch die USA und die EU mit Sanktionen belegt, regierungsnah,
- Enrique Márquez, ehemaliger Abgeordneter mit rund fünfzehn Jahr parlamentarischer Erfahrung, zuletzt für die Partei Un Nuevo Tiempo bis Anfang 2021, oppositionsnah,
- Pedro Calzadilla, Historiker, ehemaliger Erziehungs- und Kulturminister, wird als regierungsnah und ausgewogen angesehen, wird voraussichtlich Vorsitzender des Wahlrats,
- Roberto Picón, Experte für Wahlen, ehemaliger Berater des Oppositionsbündnisses Mesa de Unidad, ehemaliger Leiter der Nichtregierungsorganisation Ojo Electoral, im Jahr 2017 durch den Geheimdienst verhaftet und mehrere Monate im Gefängnis, oppositionsnah.
Die Besetzung des Wahlrates ist das Ergebnis von Bemühungen von Teilen der Zivilgesellschaft und der Opposition, die sich in einem ersten Schritt für die Benennung von oppositionsnahen Kandidaten für die Vorschlagsliste einsetzten und anschließend für die Kandidaten warben sowie den Dialog mit unterschiedlichen nationalen und internationalen Akteuren suchten.
Während Vicente Díaz, ehemaliges Mitglied des Wahlrats, den neuen Wahlrat als denjenigen mit der höchsten Oppositionsbeteiligung der letzten zwanzig Jahre identifizierte und Henrique Capriles, ehemaliger Präsidentschaftskandidat der Opposition, die Neubesetzung des Rats als einen ersten notwendigen Schritt auf dem Weg zur Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Land bezeichnete, lehnte die um Juan Guidó versammelte Opposition den Wahlrat ab. Die vor einigen Wochen ins Leben gerufene Einheitsplattform (Plataforma Unitaria) erkennt die neue Nationalversammlung und deren Beschlüsse nicht an, sondern unterstützt weiter die im Jahr 2015 gewählte Nationalversammlung, in der die Opposition eine Mehrheit errungen hatte. Bei der Besetzung des Wahlrates handele es sich um eine einseitige Bestimmung des Schiedsrichters. Guaidó sprach sich gegen Teilverhandlungen aus, die die Opposition und die internationale Gemeinschaft spalten und Maduro in die Hände spielen würden.
Besonders deutlich formulierte Luis Almagro, Generalsekretär der OAS, seine Ablehnung: Die OAS lehne den Wahlrat ab, da die Nationalversammlung für illegitim gehalten werde. Almagro kritisiert ferner diejenigen internationalen Kräfte, die einen Dialog unterstützt und eine Einigung zwischen Kollaborateuren und der Diktatur befördert hätten. Andere internationale Akteure halten sich bisher mit Kommentaren zurück und scheinen die Rolle der Handelnden vor Ort stärken zu wollen.
Unterschiedliche Ansätze der Opposition
Letztlich gibt es inzwischen zwei Ansätze der Opposition, die sich seit einigen Monaten im Prozess der Neuaufstellung befindet: die Linie der Opposition um Guaidó, die weiterhin auf ein nationales, durch die internationale Gemeinschaft unterstütztes Abkommen zur Lösung der politischen, sozialen und humanitären Krise setzt, und der zusätzliche Ansatz, der im vergangenen Jahr mit der Kritik von Capriles an mangelnden Erfolgen der Interimsregierung und den letztlich gescheiterten Bemühungen im Hinblick auf Teilnahme der Opposition an den Parlamentswahlen im Dezember 2020 seinen Anfang nahm.
Die größten Oppositionsparteien haben sich bis jetzt ablehnend zur Frage der Teilnahme an den Wahlen positioniert. Innerhalb aller Parteien gibt es jedoch vor allem auf regionaler und kommunaler Ebene Vertreter, die an den Wahlen teilnehmen wollen. So gibt es einige wenige Bürgermeister, die gegen die Widerstände ihrer Parteien an den letzten Kommunalwahlen teilgenommen und ihre Ämter gewonnen haben und die in diesem Jahr erneut kandidieren wollen. Ähnliches passiert auf regionaler Ebene. Indirekt haben teilweise schon Wahlkampfmaßnahmen begonnen.
Zu diesem Phänomen trägt auch bei, dass viele der führenden Parteienvertreter sich inzwischen im Ausland befinden. Trotz aller Kommunikationsmittel fehlt die Präsenz der Führungskräfte im Land, und angesichts der Abwesenheiten nimmt die Eigenständigkeit der in Venezuela lebenden und tätigen Lokal- und Regionalpolitiker zu. Manche Parteienvertreter sehen auch die Gefahr, dass ihre Organisationen ohne Wahlen und Wahlkampf obsolet werden. Nicht zuletzt sind die kommunale und regionale Ebene auch wichtige Bereiche, um politische und praktische Verwaltungs- und Führungserfahrung zu sammeln.
Hinzu kommt, dass auch Teile der Zivilgesellschaft fordern, dass die Parteien sich endlich wieder aktiv in Wahlen einbringen mögen. Letztlich ist es der Zivilgesellschaft zu verdanken, dass Kandidaten für die Neubesetzung des Wahlrats vorgeschlagen wurden. Die Parteien haben sich des Themas nicht angenommen.
Freie Wahlen – aber wie?
Die demokratische Opposition hat in der Vergangenheit auf die Teilnahme an verschiedenen Wahlen verzichtet, da kein Vertrauen in den Nationalen Wahlrat bestand und es aus Oppositionssicht keine Chancen auf freie und faire Wahlen gab. Die Opposition, die sich (noch) hinter Juan Guaidó versammelt, der als Vorsitzender der im Jahr 2015 gewählten Nationalversammlung auch von einer Reihe von Ländern weiterhin als Interimspräsident anerkannt wird, hatte aus den genannten Gründen auch an den letzten Wahlen, den Parlamentswahlen im Dezember 2020, nicht teilgenommen. Die Wahlen wurden von einer Reihe von ausländischen Regierungen nicht als frei und fair anerkannt.
Die neue Nationalversammlung nahm im Januar 2021 ihre Arbeit auf. Die Sozialistische Einheitspartei PSUV verfügt über rund 90 % der Sitze in der Nationalversammlung, und nutzt diese Mehrheit für ihre Projekte des gesellschaftlichen Umbaus. Die Spaltung der venezolanischen Politik setzt sich fort, da sich zeitgleich das im Jahr 2015 gewählte Parlament für weiterhin im Amt erklärte. Daraus leitet sich der Anspruch auf das Fortbestehen der Interimsregierung von Juan Guaidó ab. Innerhalb der Opposition tun sich allerdings Risse auf, da sich gezeigt hat, dass es der Interimsregierung unter Führung von Juan Guaidó nicht wie anfänglich erwartet gelungen ist, in absehbarer Zeit einen Wechsel herbeizuführen.
Die Opposition befindet sich in einer Phase der Neuaufstellung. Das große Ziel „freie Wahlen“ gilt weiterhin als verbindendes Element, allerdings gehen die Meinungen darüber, wie dieses Ziel zu erreichen sei und wie auf dem Weg dahin möglichst schnell die humanitäre und wirtschaftliche Krise gelöst werden kann, auseinander. Hinzu kommen Fragen zur Rechenschaftslegung und Mittelverwendung der Interimsregierung, die sich u.a. mit Geldern der US-Tochter CITGO der staatlichen venezolanischen Erdölgesellschaft PDVSA finanziert. Fehlende Transparenz sorgte hier in den vergangenen Monaten für Kritik und Fragen innerhalb der eigenen Reihen und bei der Bevölkerung.
Kleine Schritte statt großer Wurf
Es gilt weiterhin der Ruf nach Einheit der Opposition, aber angesichts fehlender neuer politischer Ansätze gibt es hinter verschlossenen Türen unterschiedliche Dialog- und Verhandlungsansätze zwischen Regierungs-, Oppositions- und zivilgesellschaftlichen Vertretern, die teilweise international unterstützt werden. Als Erfolg im Hinblick auf die humanitäre Situation wurde gewertet, dass das Welternährungsprogramm der UN ein Vorhaben zur Schulspeisung für Kinder in Venezuela aufgenommen hat, das sowohl von Präsident Maduro als auch von Oppositionsführer Guaidó unterstützt wurde. Ein weiterer Dialogstrang konzentrierte sich in den letzten Tagen auf die Besetzung des Wahlrats und die Perspektiven für die Regional- und Kommunalwahlen.
Ein seltener Moment der Einheit im Land entstand anlässlich der Seligsprechung des Volksheiligen und „Arztes der Armen“ Juan Gregorio Hernández am 30. April. Papst Franziskus sandte eine Botschaft, in der er alle Teile der Gesellschaft dazu aufrief, für die Einheit des Landes und an einer Lösung der Krise zu arbeiten. Präsident Maduro verkündete daraufhin, die Botschaft der Versöhnung aufzunehmen. So mancher erhoffte sich von der Seligsprechung und dem Moment der Besinnung, dass er sich auf die politische Lage auswirken möge.
Noch ist offen, ob die Opposition durch die Entscheidung zur Teilnahme oder Nicht-Teilnahme an den Wahlen an den Rand der Spaltung geraten oder einen gemeinsamen Weg finden wird. Es ist auch denkbar, dass Teile der Opposition neue, eigene Wege einschlagen. Der derzeitige Prozess sollte in jedem Fall konstruktiv von der internationalen Gemeinschaft begleitet werden. Orientierungspunkt sollten weiterhin die Bemühungen und Ansätze der Akteure vor Ort sein, die unter schwierigen Bedingungen einen Weg aus der Krise suchen.
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