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KAS/Christiane Stahr

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Zur Rolle des Grundgesetzes in der Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik Deutschland

Kommt die Wirkungsgeschichte der deutschen Verfassung und des Bundesverfassungsgerichts zu kurz?

Welche Rolle spielen das Grundgesetz und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für die Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik? 74 Jahre nach der Unterzeichnung des Grundgesetzes befassten sich in der Berliner Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, die Historikerin Hedwig Richter und der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung Norbert Lammert mit dieser Frage.

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Dieter Grimm erklärte, es stehe außer Frage, dass das Grundgesetz „der institutionelle Rahmen“ sei, „in dem sich die Geschichte vollzog“. Die Wertschätzung der Verfassung sei unter den Deutschen bis zur Wiedervereinigung stetig gestiegen. Mehr noch: In Deutschland erlebten wir einen Verfassungspatriotismus. Der Patriotismus in Deutschland beruhe auf der Verfassung, so Grimm. Lese man aber „die Darstellungen zur Zeitgeschichte, dann kommt die Geschichte der Bundesrepublik ohne Grundgesetz aus.“ Die Meistererzählungen der deutschen Geschichte von Eckart Conze, Manfred Görtemaker, Ulrich Herbert, Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler oder Edgar Wolfrum beschrieben die Geschichte der Bundesrepublik auf ausgezeichnete Weise. Dennoch fehle ihnen dieser Erklärungsfaktor.

 

Verfassungsänderungen brachten auch Paradigmenwechsel

Obwohl Grimm zufolge „das Urteil über das Bundesverfassungsgericht (in der Geschichtsschreibung) durchweg fast positiv“ ausfällt, komme es in den Darstellungen ebenfalls – wie das gesamte Grundgesetz - zu kurz. So werde zum Beispiel der Liberalisierungsschub am Ende der 1960er Jahre nicht mit den Entscheidungen des Gerichts etwa zur Kunst- oder Versammlungsfreiheit in Verbindung gebracht. Grimm kritisierte deshalb, die Verfassungsgerichtsbarkeit werde „nicht als eigenständiger Akteur in der deutschen Geschichtsschreibung wahrgenommen“. Schließlich, so Grimm, hätten Verfassungsänderungen auch immer wieder Paradigmenwechsel in der deutschen Politik mit sich gebracht. Norbert Lammert pflichtete ihm bei: „Der maßgebliche Beitrag des Bundesverfassungsgerichtes wird auch in der Geschichtsschreibung der zweiten deutschen Republik nicht immer angemessen gewürdigt.“

Nation und Rechtsstaat gehörten immer zusammen

Die Historikerin Hedwig Richter sah sich nicht gezwungen, ihre „Zunft“ zu verteidigen. Vielmehr, so Richter, stellten Grimms Feststellungen eine „überzeugende Kritik“ an der deutschen Geschichtsschreibung dar – allerdings gebe es zahlreiche Aspekte der Geschichte, die lange Zeit unterbelichtet gewesen seien und mehr Aufmerksamkeit verdienten. Dies gelte auch für die Frauen- und Geschlechtergeschichte, die nach wie vor in historischen Überblicksdarstellungen zu wenig berücksichtigt werde. Richter stellte neben einer „Blindheit gegenüber der Verfassung“ auch eine Vernachlässigung demokratischer Traditionen insgesamt fest. Das Grundgesetz sei 1949 nicht aus dem Nichts gekommen, sei nicht „disruptiv“. Vielmehr müsse man auf die „lange rechtsstaatliche Tradition“ eingehen und die Anfänge der deutschen Demokratiegeschichte im 19. Jahrhundert. Dies gelte für die Verfassungsgeschichte ebenso wie für die Geschichte der Wahlen. Dabei sei es wichtig, zu sehen, dass im 19. Jahrhundert der „der Rechtsstaat stets zusammen mit der Nation“ gedacht worden sei. Dr. Michael Borchard, Leiter Wissenschaftliche Dienste/Archiv für christlich-demokratische Politik, der die Diskussion moderierte, wies an dieser Stelle auf die Bedeutung des Jubiläums „175 Jahre Deutsche Revolution und Paulskirchenverfassung“ im Jahr 2023 hin. Immerhin habe die Paulskirchenverfassung bereits Grundrechte gekannt, wie sie später in das Grundgesetz Eingang gefunden hätten.

 

Das Grundgesetz: Populär, identitätsstiftend – und internationales Referenzmodell

Auch wenn Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht in der Geschichtsschreibung zu kurz kommen, so ist die „Geburtsurkunde der Bundesrepublik“, wie Grimm die Verfassung bezeichnete, nach wie vor äußerst populär, national wie international. Lammert betonte, dass das Grundgesetz „die freiheitlichste Verfassung ist, die dieses Land je hatte“. Sie bleibe weiterhin „identitätsstiftend“. Er wies darauf hin, dass das Grundgesetz inzwischen zu den großen und ältesten geltenden demokratischen Verfassungen der Welt zähle und in vielen jungen Demokratien als Referenzmodell herangezogen werde.

Einig war sich die Diskussionsrunde darüber, dass der deutschen Geschichtsschreibung ein stärkerer Blick auf die Verfassungsgeschichte nicht schaden könne - und dass es möglicherweise gar so etwas wie einen constitutional turn brauche. Schließlich habe sich mit der nachweislich erfolgreichen Wirkungsgeschichte der Verfassung der Bundesrepublik bewahrheitet, was Konrad Adenauer im Mai 1949 nach der feierlichen Unterzeichnung des Grundgesetzes über die historische Bedeutung der Verfassung vorausgesagt hat: „Heute wird die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten.“

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