Jednotlivý titul
Die Frage, was die Geisteswissenschaften leisten,
geht an der Sache vorbei. Sie führt einen ökonomisierten Leis
tungsbegriff' als Maßstab ein und legt gleichzeitig die Entscheidung
darüber, was beobachtet werden soll, fest. Wirklichkeit spiegelt die Fragen
wider, die an sie gestellt werden. Die Frage nach der Leistung der
Geisteswissenschaften bringt eine Sichtweise hervor, in der diese ihren
Nutzen für die Gesellschaft fortwährend rechtfertigen und sich gemäß jener
politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Anforderungen
präsentieren müssen, die heute im Vordergrund stehen. Im Bemühen, dieser
Frage gerecht zu werden, kommen die Geisteswissenschaften aus der Tretmühle
der Rechtfertigung nicht heraus. Sie bleiben damit beschäftigt, sich
"richtig" zu positionieren und zu präsentieren. Dabei kommen viele andere
Aspekte ihrer Beobachtungsmöglichkeiten nicht in den Blick und werden sogar
von ihnen selbst vernachlässigt.
Dies zeigt sich etwa auch in einem von der Berlin-Brandenburgischen Akademie
der Wissenschaften verfassten "Manifest Geisteswissenschaften". Darin mühen
sich die Autoren, den Geisteswissenschaften einen gesicherten Platz "als
festen Bestandteil unserer Wissenschafts- und Alltagskultur" zurückzugeben.
Unabsichtlich demonstrieren sie, was in Wirklichkeit geschehen ist, nämlich
eine umfassende Indienstnahme der Geisteswissenschaften durch politische,
kulturelle, soziale und ökonomische Interessen.
In den Geisteswissenschaften, schreiben die Autoren, begreife sich "die Welt
in Wissenschaftsform. Um dieser Aufgabe zu entsprechen, müssen die
Geisteswissenschaften ihre derzeitigen eigenen Orientierungs- und
Organisationsprobleme überwinden, mit denen sie sich häufig selbst als Teil
jener Probleme moderner Kulturen erweisen, zu deren Bewältigung sie
eigentlich da sind." Solche Thesen bürden den Geisteswissenschaften die
Verantwortung für eine Krise auf, in die sie systematisch durch fachfremde
Forderungen und eine gnadenlose Sparpolitik hineinmanövriert worden sind.
Natürlich haben Politik und Gesellschaft ihre Belange zu verfolgen. Offenbar
aber haben sie daraus den Schluss gezogen, die Geisteswissenschaften müssten
von nun an auch diesen Interessen dienen, statt ihren eigenen Wegen zu
folgen, die sie viele Jahre mit übrigens beträchtlicher internationaler
Anerkennung gegangen sind. Einflussreiche Akteure ohne
geisteswissenschaftliche Kompetenz und Ahnung davon, worin die
geisteswissenschaftlichen Interessen und Stärken liegen könnten, halten sich
für autorisiert, die Geisteswissenschaften zu Dienstleisterinnen des
gesellschaftlichen Nutzens, wie sie ihn verstehen, zu machen. Diese
Entwicklung bedeutet eine ernste Bedrohung der Freiheit der Wissenschaft.
Die Geisteswissenschaften sollen dressiert werden durch Existenzangst und
Rechtfertigungsdruck, durch Förderkorsette und die Einbindung in politische
Programme. Das "Manifest Geisteswissenschaften" ist Ausdruck eines
weitverbreiteten Opferverhaltens. Die sich darin zu Wort meldenden Sprecher
der Geisteswissenschaften akzeptieren Funktionalisierung und
Selbstbestimmungsverlust der geisteswissenschaftlichen Diskurse und
übernehmen das aufgedrängte Paradigma. Doch den Geisteswissenschaften stünde
es besser zu Gesicht, sich selbst treuer zu bleiben und dem fremden Blick
auf sich ihren eigenen entgegenzustellen. "Probleme kann man niemals mit
derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind", sagte Einstein.
Die Frage nach dem Nutzen und der Leistung der Geisteswissenschaften ist
falsch.
Stellen wir also andere Fragen und schauen wir, welches Bild die
Geisteswissenschaften dann bieten. Zum Beispiel: Welche Qualitäten haben die
Geisteswissenschaften? Warum stehen sie der reibungslosen Einfügung in die
herrschenden Diskurse von Leistung, Nutzen, Ökonomie, Vernetzung,
politischen Programmen und Globalisierung zum Teil ziemlich hilflos
gegenüber? Wohin führen sie, wenn nicht in die praktische Welt des
ökonomischen und gesellschaftlichen Nutzens?
Ohne Zweifel haben die Geisteswissenschaften auch Leistungen zu bieten, die
gut in die allgemeine politische, ökonomische und kulturelle Tendenz passen.
Das Aufzählen dieser Leistungen gehört zum Standardrepertoire der
Rechtfertigung der Geisteswissenschaften, um die es hier nicht geht. Aber
dennoch stellt sich die Frage, was für eine Welt das werden soll, in der
Diskurskompetenz, Verstehen, Sinngebung, kritische Reflexion und die
Vermittlung historischen Bewusstseins unter Rechtfertigungsdruck geraten.
Oft genug haben Geisteswissenschaften totalitären Strukturen gedient und
sich damit hohe Wertschätzung erworben. Das gilt zumindest für die
sozialistischen Gesellschaften. Widerständigkeit gehört zwar zu ihren
Potenzialen, doch nicht zu ihren zwangsläufigen Eigenschaften. Wenn sie
heute trotz großer Anpassungsbemühungen Rechtfertigungsprobleme haben, dann
betrifft das möglicherweise Eigenschaften, die mit einer durch
Globalisierungsprozesse begründeten Vereinnahmung nicht ohne weiteres
kompatibel sind.
Warum? Vermutlich doch, weil sie für Werte stehen, die sich einer
Instrumentalisierung entziehen, aber trotzdem lebensnotwendig sind, Werte,
die zumindest den Blick über die letztendlich doch begrenzte und sich in
zahllosen Varianten fortwährend wiederholende Welt hinaus eröffnen. Meist
hat das Wissen Vorrang vor Phantasie und Imagination. Einstein sah das
anders, wenn er feststellte: "Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn
Wissen ist begrenzt."
Geisteswissenschaften lassen sich nicht vollkommen kontrollieren, weil sie
nicht nur in die praktische Welt hineinführen, sondern auch aus ihr
herausführen können. Damit halten sie Zugänge offen zu Modellen, die die
Imagination und das Denken als eigenständigen objektiven Bereich neben der
konkreten Welt auffassen. Daraus kann sich eine Vervollständigung des
einseitigen Anspruchs ergeben, an den wir uns alle gewöhnt haben, dass
Imagination und Phantasie nur dann etwas taugen, wenn sie in konkrete
Praxis, die nützt, umgesetzt werden können. Unter konkreter Welt wird dann
in der Regel die Welt verstanden, wie die herrschende Tendenz sie haben
will.
Das ist sicher nicht die einzig mögliche Welt und auch wohl nicht die beste
von allen. Geisteswissenschaften verweigern Geradlinigkeit und kultivieren
stattdessen Umwege, die andere Aspekte einbeziehen, Damit entwickeln sie
eine Perspektiven setzende Kraft und geben dem "Willen zur Illusion" einen
Ort, an dem er kreativ werden kann. In ihnen kann erforscht werden, wie
konkrete Welt zu geistiger Welt, zu Imagination wird. Dies haben viele
Denket und Dichter in östlichen und westlichen Kulturen geschätzt und
kultiviert. Es ist eine Weltwahrnehmung, die dem Leben Farbe, Glanz, Sinn,
Tiefe, Dunkelheit, Ausblick und anderes mehr gegeben hat, aber keinen
konkreten, in Zahlen angebbaren Nutzen. Heute bildet meist der praktische,
konkrete Nutzen die Prämisse. Es gab Zeiten, in denen das umgekehrt gesehen
wurde. Diese Zeiten sind allein schon zur Vervollständigung des Bildes
beachtenswert.
Auf ihren Wegen zwischen zwei Welten können Geisteswissenschaften gegen die
Reduktion des Menschen auf seinen Nutzen eine Strategie der Teilhabe
stellen. Es wäre natürlich schön, glauben zu können, dass die konkrete Welt
einmal durch Teilhabe statt durch Kontrolle organisiert würde. Doch ist
dieser Maßstab der Teilhabe wichtig, auch wenn er nicht in die Praxis
umgesetzt wird, ähnlich wie das mit ethischen Regeln der Fall ist, deren
bloße Existenz die Praxis in Zaum hält. Geisteswissenschaften, die sich
nicht als Tautologie verstehen, können erforschen und vermitteln; wie
Wirklichkeit durch die Wahrnehmung verschiedener Welten verändert wird.
Einstein wusste diese Welt der Imagination zu schätzen, obwohl er mit seinen
Theorien die Wirklichkeit und Wissenschaft veränderte. Er sagte: ,Eine
wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von
vorneherein ausgeschlossen erscheint."
Der Verzicht auf Vereinnahmung, Kontrolle und Nutznießung sowie auf die
Reduktion des einen auf das andere, der den Geisteswissenschaften in ihren
Forschungen möglich ist, eröffnet größere Spielräume für etwas ganz Neues,
als wenn man die Geisteswissenschaften zur Tautologie anderer Interessen
macht, sie zu allegorischer Exegese der Welt und der herrschenden Diskurse
zwingt und damit in ihre Dynamik eingreift. Es gibt Gegenstände
geisteswissenschaftlicher Forschung, die nur die Richtung auf die
Imagination, das Denken und den Geist nehmen und nicht mehr zurück in die
Praxis führen. Die Wahrnehmung dieser entgrenzenden Traditionen durch
geisteswissenschaftliche Forschung und Vermittlung bilder einen
lebensnotwendigen Bestandteil der Realitäten des Menschen.
Vielleicht überrascht es, wie wichtig ein Denken für Wissenschaft und
Wirklichkeitsgestaltung ist, das so tut, als ob etwas möglich wäre, das
nicht möglich ist, und sich etwas vorstellt, als ob es das wirklich gäbe,
obwohl es das nicht gibt. Die Begriffe des Denkens und seine Methoden und
Wege sind nie identisch mit Wirklichkeit. Hans Vaihinger ist schon vor
vielen Jahren der Frage nachgegangen, weshalb mit bewusst falschen
Vorstellungen Richtiges erreicht werden kann. In seiner 1911 erschienenen
"Philosophie des Als Ob" entwickelt er die Bedeutung, die Fiktionen für die
Gestaltung der Wirklichkeit durch Wissenschaft erhalten. Er versteht das mit
Fiktionen arbeitende Denken als Mechanik der Realitätsgestaltung, das die
Fiktionen wie Werkzeuge ergreift und wieder weglegt. Begriffe wie
Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit sind dabei sekundär.
Für diese anderen Wege des Denkens und der Imagination haben die
Geisteswissenschaften Kompetenz zu bieten, und dafür brauchen sie Freiräume
statt Rechtfertigungsdruck, aber nicht etwa, um sich aus der Wirklichkeit zu
verabschieden, sondern um die Welt des Denkens und der Imagination, die auch
eine Ebene von Wirklichkeit bilden, aber eben eine andere, zu erforschen und
wahrnehmbar zu machen.
Dies führt zu einer weiteren unkritischen Prämisse, dass nämlich Fortschritt
und Effizienz nur in der Vernetzung und umfassenden Kooperationen liegen
können. Der Glaube, dass durch Kommunikation zwischen möglichst vielen
Menschen Probleme besonders gut zu meistern und vor allem Innovation zu
erreichen sei, erscheint ziemlich naiv.
Vielmehr eröfinet sich die Aussicht, dass durch diese durchaus zeit- und
kraftintensiven Vernetzungen und Kooperationen immer das Gleiche, also
Tautologien, in eine unendliche Zirkulation geschickt werden und der Ort
unbekannt wird, an dem ein einzelner Mensch, ein Subjekt, noch korrigierend
und verändernd, also innovativ eingreifen könnte. Geisteswissenschaften
lassen sich nicht so gut vernetzen, weil sie heterogen und individualistisch
sind, sich also nicht reibungslos unter gleiche Überschriften stellen
lassen.
Das wird ihnen zum Vorwurf gemacht. Doch bildet gerade dieses Unvermögen
einen wichtigen Wert. Geisteswissenschaften erforschen und praktizieren,
dass es außer dem Aufgehen des Einzelnen 'in Netzwerken noch eine andere
Kommunikation gibt, die für den Menschen lebenswichtig ist, die
Kommunikation mit der Ebene der Imagination und des Denkens, der Ebene der
Bilder, die anders als die Praxis sind.
Geisteswissenschaften sind also auch der Ort, an dem der Mensch als
Individuum und in Beziehung zur Imagination wahrgenommen werden und agieren
kann. Geisteswissenschaften erforschen und beobachten die andere Welt. Sie
praktizieren, wie die konkrete Realität durch die andere Welt der
Unendlichkeit, die Imagination und das Denken geschickt wird und mit den
Spuren dieser Reise möglicherweise wieder auf die Erde zurückkommt.