Noch gut sechs Monate bis zur Wahl
In Polen wird im Spätherbst dieses Jahres – an einem Sonntag zwischen dem 15. Oktober und 5. November – der neue Sejm gewählt. Ob diese Wahlen einen Wechsel in der Regierung mit sich bringen werden, ist ungewiss. Aktuellen Umfragen zufolge verstetigt sich jedoch bereits ein entscheidender Trend: „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) wird die meisten Stimmen erhalten und diese Wahl als stärkste Kraft beschließen.
Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die nationalkonservative PiS (aktuell durchschnittlich mit 34,0% Zustimmung notiert) – und mit ihr gemeinsam auf einer Wahlliste die weiteren Kräfte der derzeitigen Regierungskoalition Vereinigte Rechte („Zjednoczona Prawica“, ZP): Solidarisches Polen („Solidarna Polska“, SP) unter Führung von Justizminister Zbigniew Ziobro und die Republikanische Partei („Partia Republikańska“, PR) unter Vorsitz von Adam Bielan – keine absolute Mehrheit erringen wird, die es ihr ermöglicht, die Regierung in der aktuellen Zusammensetzung fortzusetzen.
Die Alternative stellt die liberale, linke und gemäßigt konservative Opposition. Sie besteht aus der Bürgerkoalition („Koalicja Obywatelska“, KO; derzeit 26,8%), der Neuen Linken („Nowa Lewica“; 8,3%), Polen 2050 („Polska 2050“; 8,3%) und der Polnischen Koalition um die Volkspartei („Polskie Stronnictwo Ludowe“, PSL; 5,0%) und darf sich berechtigte Chancen auf eine Ablösung der Regierung ausrechnen. Doch die fortgesetzte, mitunter offen und aggressiv geführte Diskussion darüber, ob die Bildung einer einzigen, auf den Wahllisten vereinten „Anti-PiS“-Koalition all dieser unterschiedlichen Partner unter Führung der Bürgerplattform („Platforma Obywatelska“, PO) und deren Vorsitzendem Donald Tusk der richtige Weg sein kann oder sogar sein muss, um den eigenen Wahlerfolg samt Machtwechsel sicherzustellen, beeinträchtigt die Erfolgsaussichten derzeit massiv.
Eine weitere heutige Oppositionspartei, die ebenfalls nahezu sicher im kommenden Sejm vertreten sein wird, aber bei weitem nicht zu den weltoffenen Akteuren im polnischen Parteienspektrum zählt, gilt aktuell vielen Kommentatoren als potentiell neuer Partner, ja gleichsam Königsmacher für die PiS: die heterogene „Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit“ („Konfederacja Wolność i Niepodległość”, kurz: Konfederacja). Dieser breite Zusammenschluss aus Wirtschaftsliberalen, Konservativen, Nationalisten, Euroskeptikern, Libertären und sogar Monarchisten erfährt momentan unter den kleineren Parteien – mit inzwischen 8,6% insgesamt schon auf Rang drei (!) liegend – den relativ stärksten Zuspruch. Doch die Parlamentswahl findet erst in gut sechs Monaten statt, so dass die Partei, seriös betrachtet und nicht zuletzt aufgrund des stark volatilen Parteizuspruchs in Polen, vorerst als die große Unbekannte einzuordnen ist.
Ausgangslage für die PiS lange nicht optimal
Dass die PiS heute gefestigt ist und tatsächlich realistische Aussichten hat, eine dritte Legislatur in Folge seit 2015 an der Macht zu bleiben, ist neu und kommt für viele Beobachter relativ überraschend. Zwar konnte „Recht und Gerechtigkeit“, die dominierende Kraft innerhalb der Vereinigten Rechten, über das gesamte Jahr 2022 hinweg unter allen polnischen Parteien die eindeutige Spitzenposition in der Wählergunst behaupten. Doch bis vor wenigen Wochen gelang es der Partei lange nicht, in die politische Offensive zu kommen. Der Vorsprung vor der PO als mächtigster Oppositionspartei schmolz bis Dezember 2022 kontinuierlich auf rund drei Prozentpunkte dahin.
Ursächlich dafür wirkte zunächst die dilettantische Umsetzung einer steuer- und sozialpolitischen Reform (Nowy Ład, "Polnischen Ordnung"), die die Partei in eine ernste Krise stürzte. Dieses umfassende sozioökonomische Programm ganz nach den Vorstellungen von „Recht und Gerechtigkeit“ sollte ein Zeichen der Hoffnung setzten für den Wiederaufbau des Staates nach der Pandemie. Das Inkrafttreten des steuerlichen Teils des Programms am 01.01.2022 allerdings mündete in schier unübersichtlichem Chaos; faktisch führte dies selbst in der eigenen, vielfach sozialbedürftigen Wählerschaft zu Mehrbelastungen. Die Folge war der Rücktritt von Finanzminister Tadeusz Kościński, der kurzerhand für die Probleme verantwortlich gemacht wurde. Die "polnische Ordnung" verschwand danach gänzlich aus den politischen Werbekampagnen der PiS, obwohl sie weiterhin umgesetzt wurde.
Zwar stieg nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 die Zustimmung für „Recht und Gerechtigkeit“ sprunghaft an (von 30,6% PiS-Zustimmung im Januar bis auf 35,1% im April; gegenüber PO: 25,4%); der Krieg im Nachbarland, der Ruf nach äußerer Sicherheit für Polen, nach stärkeren Verteidigungsmaßnahmen und die Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen drängten andere Themen in den Hintergrund und die Polen scharrten sich um das Regierungslager. Doch der Bonus durch den sog. "Fahneneffekt" alleine vermochte keine nachhaltig gesteigerte Zustimmung zu entfachen und begann bald nachzulassen.
Stattdessen setzten die dramatisch steigende Inflation (im Dez. 2022: 16,6 %) sowie Fragen der Energiesicherheit „Recht und Gerechtigkeit“ in der Regierung unter Zugzwang. So sah sich die PiS reaktiv zu einer Politik der „Schutzschilde“ gegen steigende Preise und die Auswirkungen des Krieges gezwungen, die nur langsam Anklang fand.
Zeitgleich einsetzender Zwietracht in den eigenen Reihen begegnete die PiS mit einer innerparteilichen Strukturreform; diese ermöglicht der Parteizentrale allerdings inzwischen noch stärker, in allen (jetzt 94 statt bisher 41) Parteibezirken die eigenen Kräfte vor allem mit Blick auf das starke Wählerpotential in ländlichen und strukturschwachen Regionen auf Linie zu bringen.
Und den stetig wachsenden Druck auf die Staatsfinanzen beantwortete der Parteivorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński, höchstselbst mit einer neuen Taktik: "Flexibilität" gegenüber den Forderungen aus Brüssel. Dies erlaubte es der Regierung das Jahr hindurch, in der Auseinandersetzung mit der EU-Kommission um die Einhaltung eines rechtsstaatlichen Mindeststandards (entlang der sog. „Meilensteine“) eine Vereinbarung mit Brüssel auszuhandeln. Ob diese Kursänderung Erfolg haben wird, ist immer noch offen. Die Bemühungen um die Freisetzung finanzieller Investitionsmittel aus Brüssel im Rahmen der Umsetzung des polnischen Wiederaufbauplans in Höhe von 35,4 Mrd. Euro, die die Regierung in Warschau angesichts enormer Belastungen bei immens gestiegenen Verteidigungsausgaben und einer durch den Preisverfall angeschlagenen Wirtschaft dringend benötigt, konkretisierten sich in einer Gesetzesnovelle zum Obersten Gericht („Sąd Najwyższy“, SN), die am 8. Februar 2023 vom Sejm beschlossen wurde. Da Präsident Andrzej Duda das Gesetz allerdings – anders als von der PiS erwartet - nicht unterschrieb, sondern „präventiv“ zur Überprüfung an das Verfassungstribunal („Trybunał Konstytucyjny“, TK) weitergeleitet hat, steht sein Inkrafttreten bis heute aus. Laut der Regierung Morawiecki erfüllt das Gesetz die Vorgaben der EU-Kommission und enthält die entscheidenden Zugeständnisse zur Umkehrung der strittigen Justizreform; alle aber warten nun auf die Entscheidung des TK und die Auflösung der Frage, ob noch vor den Parlamentswahlen Gelder aus Brüssel nach Warschau fließen werden.
Blickt man angesichts all dieser Probleme auf die Umfragen der letzten drei Monate, stellt man verwundert fest, dass die PiS seit dem Jahreswechsel zwei Prozent hinzugewonnen hat (32,0% im Dezember 2022 vs. 34,0% im März 2023), während im gleichen Zeitraum alle Parteien der Opposition (mit Ausnahme der „Konföderation“; dazu später mehr) deutlich verloren haben – am meisten die PO, von 28,9% auf heute 26,8%.
Warum also steht die Regierung wider Erwarten so gut da?
Der polnische Papst, schlüssige Wahlkampfauftritte und ein starkes Polen in einem neuen, anderen Europa
Die PiS ist Meister der inhaltlich stringenten, überzeugend vorgetragenen Erzählung von Polen als bedrohtem Heimatland, das es gegen äußere Einflüsse, Kritik und Einmischung zu verteidigen gilt. Charakteristisch dafür ist der aktuelle Streit um Papst Johannes Paul II., der von PiS genutzt wird, das politische Momentum im Wahljahr auf die eigene Seite zu ziehen.
Ausgelöst wurde die Debatte durch den Bericht "Franciszkańska 3", der am 6. März im privaten Fernsehsender TVN 24 ausgestrahlt wurde. Darin werden Beweise vorgebracht, dass Karol Wojtyła (der spätere Papst Johannes Paul II.) in seiner Zeit als Erzbischof von Krakau von Priestern gewusst habe, die der Pädophilie beschuldigt wurden, diese milde bestrafte (indem er sie in andere Pfarreien versetzte) und so Fälle vertuschte, die der Kirche hätten schaden können. Diese Anschuldigungen spalten die politischen Szene in Polen tief, nicht aber – wie Umfragen zeigen – die breite Öffentlichkeit und die PiS, die am positiven Bild von Johannes Paul II., einer über Jahrzehnte anerkannten Figur nationaler Identifikation, Hoffnung und Freiheit, unverrückbar festhält. Und so ergriff „Recht und Gerechtigkeit“ die Gelegenheit, auf sämtlichen politischen Kanälen zu reagieren.
PiS-Politiker bezeichneten die Reportage als Angriff, der kommunistischen Denunziationen gleichkomme, und der Parteisprecher behauptete, sie sei ausgestrahlt worden, um über eine "Pädophilen-Affäre" in der PO zu berichten. Ministerpräsident Morawiecki kritisierte die Berichterstattung als Versuch, einen Zivilisationskrieg zu provozieren. Sejmmarschall Elżbieta Witek (ebenfalls PiS) sagte in einer TV-Ansprache, die Affäre erinnere sie an die schlimmsten Jahre der kommunistischen Propaganda. Die Regierung bestellte den US-Botschafter ins Außenministerium ein und erklärte in einem Kommuniqué, dass die Aktionen von TVN 24 (obwohl der Sender, der sich u.a. mit US-amerikanischer Hilfe finanziert, nicht ausdrücklich erwähnt wurde) "potenzielle Auswirkungen haben, die mit den Zielen der hybriden Kriegsführung identisch sind". Und im Höhepunkt verabschiede die PiS am 9. März im Parlament eine Resolution zur "Verteidigung des guten Namens von Johannes Paul II" gegen die "schändliche Kampagne der Medien, deren Ziel der große polnische Papst ist".
Gegenüber dieser einheitlichen, durchchoreographierten Position von „Recht und Gerechtigkeit“ zerfielen die weltoffenen Oppositionsparteien in offenen Dissens. Die gemäßigt konservative PSL beabsichtigte, Johannes Paul II. in einem eigenen Entschließungsentwurf zu würdigen, ohne direkt auf die Vorwürfe einzugehen, musste jedoch erleben, wie PiS Teile dessen kurzerhand in ihren eigenen Entwurf übernahm. Polen 2050 strich die Verdienste des Papstes heraus, betonte aber gleichzeitig, dass das Wohl der Pädophilie-Opfer an erster Stelle stehe und forderte die Offenlegung der Kirchenarchive und die Einsetzung einer Historikerkommission. Die PO boykottierte die Resolution und gab inoffiziell zu, das Thema der Verantwortung von Johannes Paul II. spalte ihre Wähler. Und die Linke schlug gar vor, den Papst aus dem öffentlichen Raum zu entfernen und untermauerte die Verantwortung von Johannes Paul II. für das Unrecht der Opfer pädophiler Priester.
Führt man sich in diesem Kontext vor Augen, dass sich erst im vergangenen Jahr 99% der PiS-Wähler in einer Umfrage zum polnischen Papst als wichtige moralische Autorität bekannten, lässt sich die kommunikative Wucht der Partei von Jarosław Kaczyński nachvollziehen: PiS-Politiker sind bereit, geschlossen und unmissverständlich sich jeder radikalen Rhetorik und Symbolik zu bedienen, wenn es darum geht, Inhalte (hier das Erbe des polnischen Papst Johannes Paul II.) zu verteidigen, die im höchsten Ansehen Polens stehen und die tradierte Identität der eigenen Nation ausmachen. Das Thema des polnischen Papstes dürfte insoweit in den kommenden Monaten in den öffentlichen Medien und in den Reden von Politikern des Regierungslagers weiterhin auftauchen.
Wie effektiv die PiS grundsätzlich in der Lage ist, die eigene Wählerschaft zu mobilisieren, lässt der Wahlkampf bereits erahnen, der offiziell in Polen erst noch mit Bekanntgabe des konkreten Wahltermins durch den Präsidenten eröffnet wird, tatsächlich aber seit Monaten läuft.
„Recht und Gerechtigkeit“ gewinnt an Vorsprung gegenüber der Opposition, weil die Vertreter der Partei bei sämtlichen Auftritten neben aktuellen Einlassungen konsequent die drei wichtigsten Kernthemen hervorheben. Diese sind in Zeiten des Krieges
- zuallererst die Gewährleistung der äußeren Sicherheit Polens durch die amtierende Regierung
- zweitens die soziale Unterstützung der eigenen Zielgruppe in der Wählerschaft sowie
- drittens die Postulierung der Bewahrung der polnischen Nation durch PiS als maßgebende Bezugsgröße eigener Identität in einem Europa der Vaterländer.
Diese Erkenntnis deckt sich mit Ergebnissen einer unabhängigen ibris-Studie, die im September am Rande des „Economic Forum“ in Karpacz (de facto einer „Messe“ der Partei PiS zur Einschwörung ihrer Aktivisten und Mitglieder auf den Wahlkampf) präsentiert wurden.
Gefragt nach Kernkompetenzen der jeweiligen Partei weist das Ergebnis der repräsentativen Umfrage zur PiS auf Platz 1, mit einem Wert von 52,1% und deutlichen 17% Vorsprung vor den nächstplatzierten Herausforderungen(!), das Thema „Äußere Sicherheit Polens“ aus, während bei der KO „Außenpolitik“ und eine „Lösung des Konflikts Polens mit der EU“ mit je mehr als 50% Zustimmung (52,8% bzw. 50,1%) das Image der Partei bestimmen.
Schaut man auf Ergebnisse der wahrgenommen größten Kompetenzen von PiS und PO in direktem Vergleich, zeigen sich folgende Resultate: „Recht und Gerechtigkeit“ werden gegenüber der KO vielfach deutlich höhere Lösungskompetenzen zugeschrieben, insbesondere hinsichtlich der Themen „Stärkung der polnischen Armee“ (43,8% vs. 22,3%), „Äußere Sicherheit des Landes“ (37,9% vs. 26,1%), „Flüchtlinge aus der Ukraine“ (42,3% vs. 16,0%), „Situation der Rentner“ (44,8 vs. 15,0%), „Finanzielle Situation der Polen und Polinnen“ (35,9% vs. 22,6%) und „Anstieg der Gehälter in Polen“ (32,4% vs. 16,7%), während der KO gegenüber der PiS eindeutig höhere Fähigkeiten nur im Bereich „Lösung des Konflikts Pebd.olens mit der EU“ (38,4 vs. 18,4%), attestiert werden, ein maßvoller Vorsprung ferner bezüglich „Bildungssystem“ (24,7% vs. 20,6%), „Inflation“ (24,8% vs. 19,5%), „Vorbereitung auf den Klimawandel“ (22,3% vs. 17,6%), „Umweltschutz“ (25,5% vs. 21,4%) und „Energietransformation“ (25,9% vs. 23,3%). Relativ ausgeglichen zeigen sich Resultate zu „Entwicklung der polnischen Wirtschaft“ (pro KO, 27,8% vs. 26,7%), „Gesundheitswesen“ (pro PiS, 18,4% vs. 17,3%), „Krieg in der Ukraine“ (pro KO, 27,7% vs. 26,0%) und Verfügbarkeit von „Wohnraum in Polen“ (pro KO, 13,0% vs. 11,6%).
Angesichts dessen ist nachvollziehbar, dass die PiS sich zurecht als Garant der nationalen Sicherheit Polens präsentiert. Das entspricht den Tatsachen. Erst Ende Januar kündigte Ministerpräsident Morawiecki an, er beabsichtige die Verteidigungsausgaben des Landes auf 4% des BIP zu steigern, was möglicherweise der höchste Prozentsatz der für die Armee bereitgestellten Mittel unter allen Nato-Ländern sein werde. Im Verhältnis von Wirtschaftskraft und Verteidigungsausgaben liegt Polen derzeit mit einem Wert von 2,42% des BIP (in absoluten Zahlen 16,3 Mrd. EUR) im Bündnis auf Platz drei, hinter Griechenland (3,76% des BIP) und den USA (3,47% des BIP). Polen sieht sich seit Ausbruch der russischen Aggression in der Ukraine als „Frontstaat“, orderte in 2022 in den USA 250 Abrams-Kampfpanzer, schloss mit Südkorea ein milliardenschweres Geschäft über die Lieferung von 400 Kampfpanzern und 212 Panzerhaubitzen, und seine Streitkräfte zählen gegenwärtig 164.000 Soldaten, eine Zahl, die in den kommenden Jahren auf die Mannstärke von 250.000 anwachsen soll. Da der Krieg im Nachbarland andauern wird, verfügt die PiS im Wahlkampf über ein Dauerthema, das in ihrem Sinne greift.
Schaut man auf die sozialen Wohltaten, die „Recht und Gerechtigkeit“ laufend ebenso verspricht wie die Bürgerplattform, ist dies wohlkalkulierte, erfolgversprechende Kampagne. So stellt die PiS etwa zinsgünstige Wohnungsbaudarlehen in Aussicht und überdenkt eine Aufwertung des Programms „500+“, des 2015 spektakulär eingeführten Kindergeldzuschusses, dessen realer Wert im Zuge der starken Inflation sehr eingebüßt hat. Die PO sucht diese Verheißungen fortwährend zu übertrumpfen. Alleine gewinnen kann diesen Wettstreit tatsächlich nur die PiS. Denn, wie etwa die ehemalige Ministerpräsidentin aus den Reihen der PiS, Beata Szydło, und ihre Mitstreiter aus der PiS-Zentrale bei Auftritten nicht müde werden zu erinnern: die Jahre der PO- und PSL-Regierungen seien keine Zeit übertriebener Großzügigkeit gewesen. Die PiS hingegen habe mit „500+” der polnischen Familie ihre Würde zurückgegeben, kostenlose Medikamente für Senioren 75+ eingeführt und das Renteneintrittsalter, anders als die PO, gesenkt. Ziel dieser Kernbotschaft ist unzweifelhaft die vornehmliche Zielgruppe von „Recht und Gerechtigkeit“: Über 50-Jährige (27 %), Personen mit geringem Einkommen (bis zu 3.000 PLN netto; 24 %), Bewohnern von Kleinstädten (bis zu 20.000; 23 %, bzw. 20.000-100.000; 26 %); hinzu kommen Personen mit einfacher Berufsausbildung (30 %) und Männern (24 %). Da in Polen die PiS dafür bekannt ist, ihre sozialen Versprechen gehalten zu haben, sagen manche Beobachter, muss sie nicht mehr versprechen als die Bürgerplattform – es genüge, an die (Wohl-)Taten gegenüber einkommensschwachen Bürgern aus strukturschwachen, ländlichen Gebieten fern der boomenden Großstädte zu erinnern.
Ideologisch wirkungsvoll gestützt wird dieses erneuerte Versprechen im Wahlkampf durch die Parteilinie, wie sie Kaczyński bei der Vorstellung des Wahlslogans „Polen ist die Zukunft“ am 10. März vorgegeben hat. Dort sagte der Parteivorsitzende, das Wahlprogramm der Partei werde das Ergebnis „tausender Gespräche“ mit den Bürgern sein, das Land sei heute anders, ja besser als vor acht Jahren, und der Mechanismus der Ausbeutung eines großen Teils der Gesellschaft sei vielleicht nicht vollständig liquidiert, aber radikal eingeschränkt. Die PiS werde in dieser Richtung weitermachen.
Gemeint ist damit, dass einzig im Machterhalt Ende des Jahres die Möglichkeit gesehen wird, die Errungenschaften der vergangenen zwei Legislaturperioden zu bewahren. Dies eint die PiS zur Geschlossenheit und einem engagierten Auftritt, getragen von der Idee, die Identität Polens zu verteidigen – sei es physisch gegenüber den Russen, vor denen schon Präsident Lech Kaczynski 2008 auf dem Maidan warnte, oder sei es gegenüber der EU, die laut PiS eine Bedrohung für die souveräne polnische Kultur darstellt.
Was Kaczynski und die Seinen antreibt ist der Wunsch, Europa so zu verändern, dass die Machtfülle der Regierung in Warschau nicht eingeschränkt wird. So betonte zuletzt Ministerpräsident Morawiecki in seiner programmatischen Europarede unter dem Titel »Europe stands itself at a historic turning point. Will European values endure in the face of the Russian invasion?« die Bedeutung der Nationalstaaten in Europa, die »nicht ersetzbar« seien. Eine globale europäische Führungsrolle könne nicht durch Zentralismus, sondern nur ein ausgewogenes Machtverhältnis in Europa sowie die EU-Erweiterung in Richtung Westbalkan und Ukraine erreicht werden.
Entsprechend scheint das Verständnis der PiS in der Frage der Justizreform zu sein, dass das Recht einer gewählten Regierung nicht in den Arm fallen dürfe, da ansonsten die Demokratie Schaden nehme, indem der demokratisch legitimierte Machthaber nicht durchgreifend genug den Staat zu sichern in der Lage ist. Auch die Medien sollten als Vetoplayer der Regierung ausgeschaltet werden und wichtige Positionen in staatlichen Institutionen und staatlichen Unternehmen parteigetreu besetzt sein, um vor äußeren Einflüssen geschützt zu sein.
Da vieles davon in Polen während der vergangenen Jahre umgesetzt wurde – etwa die Kontrolle über das staatliche Fernsehen TVP eingerichtet und die Dysfunktionalität von Gerichten durch sog. Neorichter erreicht wurde – hat die PiS umso größere Aussichten, erfolgreich aus der Wahl Ende 2023 hervorzugehen.
Die „Konföderation“ – ein möglicher Partner?
Einen erheblich verbesserten Stand hat „Recht und Gerechtigkeit“ allerdings erst, seit mit der „Konföderation“ überraschend ein potentieller Partner/Mehrheitsbeschaffer ausgemacht ist.
Der Vorteil dieser Partei, die sich innerhalb des polnischen Parteienspektrums ob der bereits erwähnten Heterogenität erheblich von den sonstigen Parteien unterscheidet, könnte für die PiS darin liegen, dass sie trotz des relativ starken Zuspruchs personell einerseits radikal, andererseits wenig gefestigt scheint. Denn, wie sich in der Koalition zeigt, mag es die PiS, sich mit schwächeren, aber rechten Partnern zu umgeben, die das harte Image ihrer eigenen Politik nach außen abmildern.
Der derzeitige Erfolg der „Konföderation“ ist wesentlich verbunden mit den zwei Ko-Vorsitzenden: Krzysztof Bosak von der Nationalen Bewegung (RN) ist ein lange bekannter, rechtsextrem orientierter Wirtschaftsliberaler, der seinen Weg in die Politik über Stationen in der antipluralistischen Allpolnischen Jugend, der nationalistisch, klerikal ausgerichteten Liga polnischer Familien (LPR) und der rechtsextremen Nationalen Bewegung fand. Sławomir Mentzen wiederum ist eine relativ neue Figur in der Politik, weshalb er verstärkt öffentliches Interesse auf sich zieht. Er ist ausgebildeter Wirtschaftswissenschaftler und Steuerexperte mit unbestreitbaren unternehmerischen Erfolgen (u.a. als Leiter von Buchhaltungsfirmen und Inhaber eines Steuerberatungsbüros). 2022 wurde er neuer Vorsitzender der Partei Neue Hoffnung (NN), nachdem Janusz Korwin-Mikke zurückgetreten war. Er ist finanziell unabhängig und vor allem medial und rhetorisch hochbegabt; auf Twitter hat er mehr als 300.000 Follower, auf TikToK sind es mehr als 700.000 - viermal so viele wie der nächstbestvernetzte Politiker in Polen. Diese beiden Leader, verbunden mit der Strategie, unberechenbare Personen wie Korwin-Mikke und den rechtsextremen, prorussischen Grzegorz Braun aus der ersten Reihe zu verbannen, sorgten dafür, dass die Partei entscheidend an Attraktivität zulegen konnte.
Inhaltlich befindet sich die „Konföderation“ in einer politischen Nische, die – an der Grenze zwischen marktwirtschaftlichen und systemfeindlichen Wählern – auf maximal etwa 15 bis 30 Prozent der Wähler geschätzt wird. Janusz Palikot und Ryszard Petru richteten ihre Botschaft in früheren Wahlkämpfen auf diese Zielgruppe aus, hatte letztlich aber keinen nachhaltigen Erfolg.
Nun suchen Bosak und Mentzen ihre Chance. Sie sprechen einerseits Wähler an, die einen freien Markt bevorzugen, und überzeugt sind, dass PiS und PO – das Duopol, dessen viele Wähler in Polen überdrüssig sind – sich in ihrem gegenseitigen Überbieten mit sozialen Wohltaten an ihrer fiskalischen Verantwortung vergehen. Daneben wirbt die „Konföderation“ inzwischen auch Polen 2050, die eine Abkommen mit der PSL schließen möchte, erfolgreich solche Wähler ab, die vom politischen Mainstream desillusioniert sind und nach Neuem suchen. Gleiches gilt für enttäuschte PiS-Wähler in ländlichen Regionen, die vor allem die Agrarpolitik der Regierung kritisieren, weil diese ukrainische Getreidelieferungen, die nach Polen gelangen, nicht ausreichend reglementiert hat, so dass es zu einem dramatischen Preisverfall im Land kommt. Hier kann es sich „Konföderation“, der in Teilen auch prorussische Anhänger angehören, als Nischenpartei vor allem leisten, auch offen antiukrainische Positionen zu übernehmen. Und schließlich versteht sich besonders Mentzen darauf, anders als PiS und PO die Jugend anzusprechen, gesellschaftliche Debatten aufzugreifen und via Social-Media so eine zusätzliche Wählergruppe für die „Konföderation“ zu aktivieren.
Denkbare Szenarien für den Wahlausgang
Szenario 1
Sollte „Recht und Gerechtigkeit“ wider Erwarten mit den Kräften der Vereinigten Rechten ausreichend Stimmen erhalten, um die gegenwärtige Koalition fortsetzen zu können, wird dies umgesetzt. Die Zwistigkeiten zwischen der PiS und den Ziobristen der SP führen nicht zur Aufspaltung der Vereinigten Rechten. Als sicheres Indiz dafür kann die Situation im Dezember 2022 gewertet werden, als die PiS Justizminister Ziobro (SP) anlässlich eines Misstrauensvotums der Opposition stütze. Die derzeitige Spaltung des TK, an dem das Richterkollegium sich auftrennt in Regierungsanhänger, die die Gesetzesnovelle zum SN als verfassungsgemäß befürworteten, und Anhänger Ziobros, die eine Abstimmung hierüber bis auf weiteres verhindern, sollte keine Folgen für die Koalition haben; sowohl PiS als auch SP sind mit der momentanen Verfasstheit und den Kräfteverhältnissen in der EU nicht einverstanden; das eint. Allerdings gehen selbst Vertreter der PiS heute davon aus, dass das potentielle Elektorat für „Recht und Gerechtigkeit“ bei der Wahl in gut sechs Monaten etwa 39% nicht überschreitet und dies voraussichtlich zu wenig sein wird. Aller größter Wahrscheinlichkeit nach wird Szenario 1 daher nicht Realität.
Szenario 2
Sollte die PiS die Wahlen gewinnen, aber nicht alleine mit der Vereinigten Rechten regieren können, scheint eine Koalition bei entsprechend ausreichenden Stärkeverhältnissen zusammen mit der „Konföderation“ – oder realistisch betrachtet infolge einer möglichen Aufspaltung der personell doch instabilen Partei im Anschluss an die Wahl zumindest mit einem Teil der „Konföderation“ – heute vorstellbar. Bosak schließt momentan eine derartige Koalition nicht explizit aus, sondern sagt nur, dass seine Partei nicht dazu beitragen wird, dass Morawiecki an der Macht bleibt oder Tusk wieder an die Macht gelangt. Auf eine generelle Koalitionsbereitschaft deutet dennoch seine weitere Aussage, wonach die „Konföderation“ an Ministerien interessiert sei, in denen sie ihr Programm umsetzen könne. Das Programm der „Konföderation“ basiere auf drei Säulen: wirtschaftlicher Freiheit, gesundem Menschenverstand bei der Übernahme von Verpflichtungen gegenüber dem Land und einer rationalen Außenpolitik, die auf dem nationalen Interesse basiert. Er betont weiter, dass das Ziel seiner Partei auch darin bestehe, von der EU auferlegte "schädliche Vorschriften" zu stoppen. Ebenfalls bestätigt Robert Winnicki, der Vorsitzende der Nationalen Bewegung (RN) und mithin einflussreiches Mitglied der „Konföderation“: Die Perspektive des Regierens ist etwas, worüber wir nachdenken. Denkbar wäre somit die Variante „Koalition“, wobei Mateusz Morawiecki nicht länger Ministerpräsident bliebe (er könnte von PiS 2025 als Präsidentschaftskandidat und Nachfolger des scheidenden Andrzej Duda installiert werden); statt seiner könnte die deutlich euroskeptischere Beata Szydło, derzeit MEP, erneut die Führung der Regierung stellen. Szenario 2 ist aktuell gut vorstellbar.
Szenario 3
Sollte die PiS die Wahlen gewinnen, aber nicht alleine mit der Vereinigten Rechten regieren können, die „Konföderation“ aber trotz entsprechender Stärke mit Rücksicht auf ihre system- und regierungskritischen Mitglieder nicht in eine Koalition mit den Kräften der Vereinigten Rechten eintreten wollen, bliebe die Variante „Minderheitsregierung“. Für die machttrunkene PiS wäre notfalls auch diese Möglichkeit gangbar und die „Konföderation“ würde ihr Gesicht respektive Image wahren. Themenbezogene Anknüpfungspunkte gäbe es sicherlich in der kommenden Legislatur. Fazit hier: Szenario 2 mitsamt Aufspaltung der „Konföderation“ ist erwartbarer; Szenario 3 aber bei etwas ausgeprägterem Zusammenhalt in der „Konföderation“ letztlich auch eine reale Option.
Szenario 4
Sollte wie in Szenario 3 die PiS die Wahlen gewinnen, aber nicht alleine mit der Vereinigten Rechten regieren können und zugleich die „Konföderation“ als Koalitionspartner ausfallen, bliebe bei nur knapper Verfehlung einer Mehrheit als weitere Variante für „Recht und Gerechtigkeit“ die Möglichkeit, im Zuge der Sondierungsgespräche oder abseits der Öffentlichkeit einzelne Abgeordnete auf die eigene Seite zu ziehen (ggf. zu „kaufen“). Vertreter der PiS gehen derzeit immer noch davon aus, dass die Koalitionsfähigkeit der Regierungspartei so offensichtlich einseitig eingeschränkt in Richtung „Konföderation“ nicht ist. Inoffiziell wird über das „Loseinsen“ von Abgeordneten aus der Opposition als Möglichkeit gesprochen.
Szenario 5
Ein weitere „Option“ bestünde in der Infragestellung der Gültigkeit der Wahl; so etwa geschehen in den USA unter Präsident Trump. Dies sollte als Möglichkeit mitbedacht werden, insofern die PiS zuletzt auch das Wahlrecht dezidiert einseitig zu ihren Gunsten reformiert hat. Teil dieses Szenario ist ferner die Frage, ob die Überprüfung der Wahl durch den SN nicht durch de facto politisch bestellte „Neorichter“ längst der Manipulation anheimgestellt ist. Szenario 5 ist vorerst Spekulation.
Szenario 6
Sollte der PiS jegliche Regierungsbildung verwehrt sein, bliebe schließlich der Gang in die Opposition. Allerdings ist für diesen Fall heute davon auszugehen, dass die PiS dennoch die meisten Abgeordneten im künftigen Sejm stellen wird. Diesen massiven Block und die damit gebundenen Wählerstimmen perspektivisch zu berücksichtigen, ggf. auch inhaltlich zu adressieren, bleibt ständige Herausforderung – sowohl für die sodann die Regierung stellenden Politiker der aktuellen demokratischen Opposition in Polen als auch für Politiker in Deutschland und im Westen. Zu bedenken ist in diesem Szenario, dass Präsident Duda noch bis 2025 im Amt ist und Teile der Justiz, Medien, der Staatsunternehmen und wichtiger Institutionen von PiS-nahestehenden Kräften dominiert werden. Die Startbedingungen einer PO-geführten Regierung wären mit Blick auf diese Vetospieler und das sozioökonomische Umfeld äußerst herausfordernd.
Schlussfolgerung
Welches Szenario auch eintritt, die ungemein starke Polarisierung in Polen wird fortgesetzt und macht politischen und zivilgesellschaftlichen Dialog perspektivisch unerlässlicher denn je. Die PiS und ihre Anhängerschaft in ihren besonderen Einstellungen zu Fragen der Demokratie, zu sozialen Unterschieden, Rechtsstaat sowie zur Weiterentwicklung der Europäischen Union sollten ernster genommen werden. Der starke Zuspruch für nationale wie soziale Verheißungen hat tiefe Wurzeln: Zum einen ist die heutige Generation der Polen inzwischen vollkommen desillusioniert, was Wohlstandsversprechen für die eigene Zukunft anbelangt. Zum anderen herrscht in Polen schon jetzt im Angesicht des Krieges ein neues, starkes Selbstbewusstsein. Daher gilt es, sich Polen wie der gesamten Region Ostmitteleuropas viel stärker zuzuwenden und verloren gegangenes Vertrauen in diesem Teil der Union für gemeinsame Demokratie und den Aufbau neuer europäischer Sicherheit engagiert zurückzugewinnen.
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