Welche Chance bietet ein Jahr im „Dienst der Gesellschaft“, etwa bei der Bundeswehr, bei zivilen Hilfsorganisationen oder im sozialen, ökologischen, kulturellen, politischen oder karitativen Bereich? Wo und wie ergibt sich ein Mehrwert für die, die sich engagieren? Und wie kann die Gesellschaft als Ganzes vom Engagement einer oder eines Einzelnen profitieren? Wie lässt sich ein Gesellschaftsjahr in Lebensentwürfe integrieren? Welche Erfahrungen und Modelle gibt es in anderen Staaten? Was spricht für, was gegen einen verpflichtenden Dienst?
In unserer Podiumsdiskussion am 04. Mai 2023 diskutierten wir diese Fragen mit unseren Panelisten Prof. Dr. Jeanette Pohl (Aufsichtsrätin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Baden-Württemberg und Professorin für Soziale Arbeit), Jonas Hård af Segerstad (Kapitän zur See, Schwedischer Verteidigungsattaché in Berlin, Bern und Wien), Marc Biadacz MdB (Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Ausschuss für Arbeit und Soziales, ehem. Zivildienstleistender beim DRK Böblingen) und Reinhard Langer (bis April 2023 Vorsitzender des baden-württembergischen Dachverbands der Jugendgemeinderäte). Die Diskussion wurde moderiert von Amelie Stelzner-Dogan, Referentin für Bundeswehr und Gesellschaft bei der KAS.
Die Ansätze, mit denen über das Grundmotto einer Dienstpflicht nachgedacht werden kann, könnten unterschiedlicher kaum sein. Im Stuttgarter Kunstmuseum diskutierten Vertreterinnen und Vertreter der Bundeswehr, aus Gesellschaft und Politik am 4. Mai 2023 im Rahmen des KAS-Diskussionsforenprojekts „ChancenZeit“ zum Thema.
Oberst d.R. Joachim Fallert, Landesvorsitzender des Verbandes der Reservisten der Bundeswehr in Baden-Württemberg, verwies schon in seinem Grußwort auf den eklatanten Bewerbermangel bei der Bundeswehr und brachte seine Auffassung zum Ausdruck, ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr biete das Potential, die Gesellschaft insgesamt resilienter zu machen.
„Resilienz“ sollte ein Begriff werden, der die Diskussion des Abends prägen würde. Zunächst allerdings wurde ein Film gezeigt, der die Ergebnisse einer Straßenumfrage zum Thema präsentierte. Die Meinungen waren gemischt: Zusammenhalt sei wichtig, gerade in diesen Zeiten – aber eine Pflicht, muss das wirklich sein? Eine gewisse Unsicherheit ist evident.
Folgerichtig ging es mit einem Impuls dazu, wie ein beispielhaftes Dienstpflichtmodell praktisch verwirklicht aussehen kann, als Denkanstoß weiter. Jonas Hård af Segerstad, Kapitän zur See sowie schwedischer Verteidigungsattaché in Berlin, Bern und Wien, präsentierte daher den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Abends das Konzept der schwedischen „Totalverteidigung“. Dabei machen, wie der Name erahnen lässt, alle in Schweden gemeldeten mit – Streitkräfte und Zivilschutz werden konsequent zusammen gedacht, um auf eine Krise vorbereitet zu sein. Die drei Sparten Wehrpflicht, eine möglicherweise in naher Zukunft eingeführte Zivilpflicht, sowie die allgemeine Dienstpflicht, sind Teile des Systems. Etwa 8.000 Schwedinnen und Schweden eines Jahrgangs werden dabei zum Militär eingezogen, andere leisten zivile Beiträge. Es komme im Übrigen bei jeder Art eines verpflichtenden Gesellschaftsdienstes darauf an, andere bedeutende und resilienzstärkende Elemente mit einzubauen, wie etwa flächendeckende Erste-Hilfe-Kurse.
In der anschließenden Podiumsdiskussion wurden Vor- und Nachteile eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres in der Breite ausgelotet. Prof. Dr. Jeanette Pohl, Aufsichtsrätin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Baden-Württemberg und Professorin für Soziale Arbeit, brachte ihre Skepsis bezüglich einer verpflichtenden Regelung zum Ausdruck: Es dürfe unter keinen Umständen der Versuch unternommen werden, auf diese Weise Fachkräfte zu ersetzen. Die Freiwilligkeit sei Identität der heutigen Einrichtung des Freiwilligen Sozialen Jahres, diese Konzeption würde durch eine Pflicht konterkariert.
Marc Biadacz MdB, Obmann im Ausschuss für Arbeit und Soziales, hielt dagegen und sprach sich für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr aus. Dennoch sei es bis zur Verabschiedung noch ein weiter Weg: Der Willensbildungsprozess in der Frage sei noch nicht weit genug fortgeschritten. Der Staat müsse grundlegend als Motivator auftreten, Menschen dazu animieren, selbst die Frage zu stellen, was sie für den Staat tun könnten. Daher gelte es auch, zu werben und damit Optionen bekannt und vergleichbar zu machen.
Reinhard Langer, Vorsitzender des Dachverbands der Jugendgemeinderäte in Baden-Württemberg, rief dazu auf, bei der Ausgestaltung eines möglichen Gesellschaftsjahres alle Beteiligten mitzunehmen. Es gebe viele engagierte Jugendliche und Träger des Jugendengagements, die bisher noch nicht ausreichend einbezogen werden würden. Letztlich sprach sich allerdings auch Langer mit dem Verweis auf den aus seiner Sicht noch nicht klar definierten Sinn und Zweck eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres gegen die Einführung eines Dienstes aus – man müsse doch vom Ziel her denken, so Langer.
Diskussionsplattformen zur ChancenZeit
Die Diskussion über die Potentiale oder Einschränkungen eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres geht weiter. Dies gilt auch für das Diskussionsforenprojekt ChancenZeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung veranstaltet in vielen verschiedenen Landeshauptstädten im Frühjahr 2023 sogenannte Hauptstadtforen. Wir bieten Menschen unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen an, auf diesen Diskussionsplattformen auszutauschen, ob sie ein zeitlich begrenztes Engagement als sinnvoll erachten, oder ob dies aus ihrer Sicht nur einen weiteren Generationenkonflikt entfachen würde. Gibt es Möglichkeiten dieses Engagement als eine Zeit der Chancen für alle zu gestalten? Und wenn ja, wie müssten die Rahmenbedingungen aussehen? Diese und weitere Fragen möchten wir auch noch einmal gesondert und vertieft mit jungen Teilnehmenden in World Cafés diskutieren. Die Ergebnisse der Diskussionen fließen anschließend in einen im Rahmen des Tages der KAS stattfindenden Jugendpolitiktag in Berlin am 7. September 2023 ein.
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