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Vorgezogene Neuwahlen in Island

od Aino Esser, Oliver Morwinsky

Ein Wendepunkt für Islands politische Landschaft

Das Resultat der vorgezogenen Parlamentswahlen in Island stellt eine deutliche Rüge der scheidenden Koalition dar. Insbesondere die Links-Grüne Bewegung, welche zu Beginn der Koalition noch über 17 Prozent einholen konnte, bangt nun um ihre Existenz, nachdem sie alle ihre Sitze im Parlament verloren hat. Auch die konservative Unabhängigkeitspartei, welche seit Islands Unabhängigkeit im Jahr 1944 – mit Ausnahme von 2009 – die stärkste Partei im isländischen Parlament gewesen ist, hat ihr historisch schlechtestes Ergebnis erzielt. Die Koalitionsbildung liegt nun in der Hand der Sozialdemokraten, die womöglich zwei bis drei weitere Koalitionspartner finden müssen.

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Sdílet

Nach fast vier Jahren einer krisengeplagten Regierungskoalition zwischen der Unabhängigkeitspartei (EVP), der Links- Grünen Bewegung (Europäische Linke) und der Fortschrittspartei (Renew Europe) wählten die Isländer am 30. November 2024 ein neues Parlament in einer vorgezogenen Neuwahl. Mitte Oktober zerbrach die breit aufgestellte Koalition, die das Land seit 2017 regiert hatte. Grund dafür waren unter anderem fundamentale Differenzen zu einer Reihe politischer Themen wie der Energie- und Migrationspolitik. Bereits im Sommer wurde deutlich, dass die Regierungsparteien keinen ausreichenden Rückhalt in der Bevölkerung mehr hatten. Die Unzufriedenheit der Wähler spiegelte sich schließlich in starken Verlusten für die ehemaligen Regierungsparteien und im Wahlsieg der sozialdemokratischen Allianz (S&D) und dem Aufstieg der liberalen Reformpartei (Renew Europe) wider.

 

Das Wahlergebnis

Das isländische Parlament (Althing) besteht aus 63 Sitzen, ist das zweitälteste Parlament der Welt und folgt seit 1991 dem Einkammersystem. Die Mitglieder des Parlaments werden alle vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Vor der Wahl teilten sich acht Parteien die Sitze im Althing: die Unabhängigkeitspartei, Fortschrittspartei, Links-Grüne Bewegung, Zentrumspartei, Sozialistische Partei, Piraten, Volkspartei, Allianz und Reformpartei. Zur jetzigen Wahl traten neun Parteien in sechs Wahlkreisen an. Es existiert eine Fünf-Prozent-Hürde zum Einzug in das Parlament.

Wahlsieger wurde die sozialdemokratische Allianz mit 20,8 Prozent und 15 Sitzen, ein Zuwachs von über zehn Prozent. Sie kehrt nach sieben Jahren in der Opposition in die Regierung zurück. Auf den dritten Platz kam die liberale und EU-freundlichen Reformpartei mit 15,8 Prozent der Stimmen und 11 Sitzen. In den letzten Wochen vor der Wahl hatte die liberale Reformpartei stark in den Umfragewerten zugelegt und konnte ihr Wahlergebnis im Vergleich zu 2021 um fast zehn Prozent verbessern.

Die Links-Grüne Bewegung scheiterte, wie prognostiziert, an der Fünf-Prozent-Hürde mit 2,3 Prozent der Stimmen. Das Ergebnis ist das Schlechteste ihrer Geschichte und stellt den zukünftigen Bestand der Partei infrage. Es ist zudem die zweite Wahlniederlage der Partei in diesem Jahr, nachdem die ehemalige Parteivorsitzende Katrín Jakobsdóttir im Juni die Präsidentschaftswahl an Halla Tómasdóttir verloren hatte. Jakobsdóttir war zuvor als Premierministerin zurückgetreten, um für das Parlament zu kandidieren. Bereits während des Wahlkampfes räumte die Parteivorsitzende Svandís Svavarsdóttir ein, dass die Entscheidung, eine zweite Koalition mit ideologisch gegensätzlichen Parteien einzugehen, ein Fehler gewesen sei.

 

Partei Ergebnis Sitze

Allianz

20,8 %

15

Unabhängigkeitspartei

19,4 %

14

Reformpartei

15,8 %

11

Volkspartei

13,8 %

10

Zentrumspartei

12,1 %

8

Fortschrittspartei

7,8 %

5

Sozialistische Partei

4%

0

Piraten

3%

0

Links-Grüne Bewegung

2,3 %

0

 

Die ehemaligen Koalitionspartner der Links- Grünen Bewegung schnitten deutlich besser ab, mussten jedoch ebenfalls Verluste hinnehmen. Die konservative Unabhängigkeitspartei erhielt 19,4 Prozent der Stimmen und 14 Sitze und schnitt besser ab als Meinungsumfragen prognostiziert hatten. Jedoch ist das Ergebnis auch das erste Mal, dass die Partei unter die Marke von 20 Prozent fiel – ein weiterer Rückschlag für ihre politische Vormachtstellung, nachdem die Partei 2017 zum ersten Mal eine Drei-Parteien-Koalition eingehen musste. Die rechte Fortschrittspartei erreichte mit 7,8 Prozent und 5 Sitzen die benötigten fünf Prozent, musste jedoch einen Verlust von fast zehn Prozentpunkten hinnehmen.

Neben der Links-Grünen Bewegung scheiterten auch die Piraten und die Sozialistische Partei an der Fünf-Prozent- Hürde. Da diese Parteien zusammen fast 9,3 Prozent der Stimmen erzielten, ging ein großer Anteil der Stimmen insbesondere für linke Parteien verloren.

 

Der Wahlkampf

Die Hauptwahlkampfthemen waren überwiegend innenpolitischer Natur, wie wirtschaftliche Sorgen, Inflation, Lebenshaltungskosten, das schwächelnde Gesundheitswesen und der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Umweltpolitische und internationale Themen wie eine Wiederaufnahme des EU- Beitrittsverfahrens spielten in diesem Wahlkampf nur eine untergeordnete Rolle.

Obwohl die isländische Wirtschaft nach dem pandemiebedingten Einbruch wieder im Aufschwung ist, bleibt die hohe Inflationsrate bestehen, die für 2024 auf durchschnittlich 6,1 Prozent geschätzt wird. Zudem liegt der Leitzins in Island seit über einem Jahr bei mehr als 8 Prozent. Folglich dreht sich eine zentrale Debatte des Wahlkampfes um Zinssenkungen und Maßnahmen gegen Islands anhaltende Inflation. Das Parteiprogramm der Unabhängigkeitspartei schlug in dieser Hinsicht die Kürzung von Staatsausgaben, die Reduzierung des Staatsapparats und den Verkauf von Staatsanleihen vor. Die Reduzierung des Staatsapparats wurde auch von der liberalen Reformpartei, welche sich 2016 von der Unabhängigkeitspartei absplitterte, vorgeschlagen. Kristrún Frostadóttir, die Parteivorsitzende der sozialdemokratischen Allianz, setzte im Wahlkampf auf eine Umstrukturierung des Staatsbetriebs und die Einführung einer Stabilitätsregel, die den Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben im öffentlichen Sektor an den Konjunkturzyklus bindet.

Neben der Wirtschaft fokussierte sich der Wahlkampf auch auf die Frage, wie höhere Investitionen in das Gesundheitssystem finanziert werden sollen. Lange Wartelisten, eine sich verschlechternde Versorgung und eine chronische Unterbesetzung wurden als zentrale Probleme diskutiert. Der schlechte Zustand des Gesundheitssystems wurde während des Wahlkampfes auch durch einen Ärztestreik für bessere Arbeitsbedingungen und Vergütung hervorgehoben. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere die Privatisierung des Gesundheitswesens kontrovers diskutiert. Die liberale Reformpartei verteidigte die Auslagerung bestimmter Dienstleistungen, während linke Parteien wie die Links-Grüne Bewegung und die Sozialistische Partei diese kategorisch ablehnten.

Ein Thema, das besonders im Vergleich zu vorherigen Wahlkämpfen stark an Bedeutung zugenommen hat, ist das Thema Bildung. In einer nationalen Umfrage kam es auf den vierten Platz der wichtigsten Wahlthemen. Island ist bei der letzten PISA-Studie unter den OECD- Durchschnitt gefallen und Schulen leiden an einem hohen Personalwechsel und Mangel an ausgebildeten Lehrern. Zudem haben Lehrer sowie der Ärzteverband angefangen, für bessere Arbeitsbedingungen und ein höheres Gehalt zu streiken. Die Streiks haben den ganzen November angehalten und drohen bis in den Dezember 2024 weiterzugehen.

Der diesjährige Wahlkampf wurde auch von einer Reihe von Kontroversen geprägt. Ein Kandidat der sozialdemokratischen Allianz, ein Journalist der Zeitung Hemildin, zog sich aus dem Wahlkampf zurück, nachdem alte Blogbeiträge mit misogynen Inhalten an die Öffentlichkeit gelangt waren. Obwohl die Umfragewerte der Partei nach dem Skandal leicht zurückgingen, fügte sich dieser Rückgang in einen bereits bestehenden Abwärtstrend ein und hatte daher vermutlich keinen erheblichen Einfluss auf das Endergebnis.

Auch die Unabhängigkeitspartei blieb nicht verschont, als Hemildin Zitate von einem geheimen Gespräch zwischen dem Sohn des Ministers Jón Gunnarsson und einem vermeintlichen Immobiliengeschäftsmann veröffentlichte. Das Gespräch skizzierte, wie Jón Gunnarsson sein Amt dazu benutzen wollte, um noch vor der Parlamentswahl die Verlängerung einer Wahlfanggenehmigung für einen engen Freund durchzusetzen. Ein eindeutiger Einbruch der Umfragewerte der Partei konnte jedoch im Nachzug der Enthüllungen nicht festgestellt werden.

 

Koalitionsbildung

Das Wahlergebnis markiert das eindeutige Ende der Dreier-Koalition zwischen der Unabhängigkeitspartei, Links-Grünen Be- wegung und der Fortschrittspartei, welche zusammen mehr als die Hälfte ihrer Sitze im Parlament verloren haben. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob eine Koalitionsregierung unter der Führung der sozialde- mokratischen Allianz und der liberalen Re- formpartei gebildet werden kann.

Obwohl der Wahlsieg dieser beiden Partei- en eine Volksabstimmung zu einer Wieder- aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen in den Bereich des politisch Möglichen rückt, haben sich beide Parteien bereits im Vor- feld davon distanziert, dies zu einer Voraus- setzung für die Koalitionsbildung zu ma- chen. Die favorisierten Koalitionspartner, um die notwendigen 32 Sitze für eine Mehr- heit im Althing zu gewinnen, ist die Volks- partei. Es bleibt jedoch abzuwarten, da die Koalitionsbildung in Island traditionell flexi- bel ist. Der Nachwahlprozess beginnt an diesem Montag (2. Dezember 2024) mit dem Zusammen- treffen der Vorsitzender aller im Parlament vertretener Parteien und der Präsidentin Halla Tómasdóttir, die das Mandat zur Re- gierungsbildung erteilt.

 

Fazit

Obwohl die Unabhängigkeitspartei im Vergleich kein schlechtes Wahlergebnis verzeichnet hat, ist das Wahlergebnis ein weiterer Rückschlag für die Partei, die seit Islands Unabhängigkeit die isländische Politik dominiert hat. Trotz des anhaltenden Abwärtstrends, den die Partei unter Bjarni Benediktsson verzeichnet hatte, ist ein Wechsel in der Parteiführung vorerst nicht absehbar. Benediktsson führt die Partei bereits seit 2009 an. Er steht somit für Kontinuität.

Das Wahlergebnis insgesamt zementiert die Veränderung der parteipolitischen Dynamiken in Island hin zu einer stärkeren Fragmentierung – eine Entwicklung, die sich auch in anderen Ländern beobachten lässt. Auch die Wahlniederlage der etablierten Links-Grünen Bewegung, welche alle ihre acht Sitze im Parlament verloren hat, ist eine bedeutsame Entwicklung in dieser Hinsicht.

Wie auch in anderen Wahlen in diesem Superwahljahr war der Trend in Island von einer Anti-Amtsinhaber-Stimmung und von volkswirtschaftlichen Entwicklungen, die im Nachzug der Covid-19-Pandemie entstanden sind, geprägt. Trotz vieler Kontroversen im Vorfeld der Wahl hatten diese kaum einen erkennbaren Einfluss auf das Ergebnis. Mit dem Wahlsieg der sozialdemokratischen Allianz und der liberalen Reformpartei ist auch eine mögliche Fortsetzung von Islands EU- Beitrittsgesprächen wahrscheinlicher geworden, obwohl dies auf den langfristigen politischen Erfolg dieser Parteien ankommen wird. Die Parteivorsitzende der pro-europäischen liberalen Reformpartei wiederholte ihre Haltung zu einer möglichen EU- Mitgliedschaft und sagte, dass sie der Nation vertraue die richtige Entscheidung zu treffen und deutete damit ein mögliches Referendum zu diesem Thema an, falls die Pro-EU-Parteien eine Koalitionsvereinbarung erzielen.

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Oliver Morwinsky

Oliver Morwinsky bild

Leiter des Auslandsbüros Baltische Staaten

oliver.morwinsky@kas.de +371 673 312 64

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