kas.de: Ende März finden in der Ukraine die Präsidentschaftswahlen statt. Was sind die Themen des aktuellen Wahlkampfs?
Baumann: Der Präsidentschaftswahlkampf 2019 ist in großen Teilen inhaltsleer, es gibt neben allgemeinen Slogans der Kandidaten kaum Anzeichen für neue strategische Weichenstellungen und konkrete Lösungen beispielsweise zur Beendigung des Krieges im Osten des Landes.
Julia Timoschenko propagiert den „neuen Kurs der Ukraine“ in fünf Punkten, in dem sie ein Sozialprogramm fordert, das eine Senkung der Gaspreise für die privaten Haushalte um die Hälfte und die Zurücknahme der Reformen im Gesundheitswesen beinhaltet. Auch wenn das bei vielen Wählern ankommt, so bleibt sie die Antwort schuldig, wie sie das gegen die Vorgaben des IWF durchsetzen will, zumal der Präsident von seiner Funktion her weder das Wirtschafts- noch das Sozialressort innehat.
Petro Poroschenko propagiert seinen „eigenen Weg“ und konzentriert sich mehr auf die eigentlichen Aufgaben des Präsidentenamts, die Außen- und Sicherheitspolitik. Insbesondere beinhaltet sein Programm das weitere Streben der Ukraine nach Mitgliedschaft in EU und NATO.
Wolodymyr Selenskyj bleibt in allem vage, da er über keinerlei politische Erfahrung verfügt und sich erst im Laufe des Wahlkampfes Rat bei Experten holte. Sein Slogan ist „Traumland“. Andere Kandidaten plakatieren mit ihrem Konterfei „Frieden“ oder „Ehrlichkeit“.
kas.de: Sie beobachten schon den zweiten Wahlkampf in der Ukraine als Leiterin des Auslandsbüros der Konrad Adenauer Stiftung in Kiew. Wie haben sich die politischen Diskurse, Themenschwerpunkte und Wahlkampfbotschaften im Vergleich zu 2014 geändert?
Baumann: Ich habe bereits im Oktober 2012 die Parlamentswahlen erlebt, als eine geeinte Opposition gegen den damaligen Präsidenten Janukowitsch beeindruckende Gewinne erzielte, unter anderem kam damals Klitschkos UDAR-Partei groß raus. Julia Timoschenko war zu der Zeit in Haft.
2014 holte Petro Poroschenko im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, das war kurz nach der Annexion der Krim und dem Beginn der russischen Einmischung in der Ostukraine. Poroschenko, der die Revolution auf dem Majdan von Anfang an unterstützte, konnte den Wählern damals glaubhaft versichern, dass er sich den großen Herausforderungen stellen würde. Heute setzt er in seinem Wahlprogramm auf die Stärkung der Armee, die Anhebung der Lebensverhältnisse mit dem Ziel einer Mitgliedschaft in EU und NATO, die Fortführung des Dezentralisierungsprozesses sowie die Verbreitung des Ukrainischen als Amtssprache.
Julia Timoschenko hat zu Beginne ihres Wahlkampfes soziale Themen in den Vordergrund gestellt und hier vor allem den hohen Tarifen für Gas und Strom den Kampf angesagt. Sie ist für ein Referendum über eine neue Verfassung der Ukraine sowie die Stärkung und Modernisierung der ukrainischen Armee. Die Zahl der nationalen Abgeordneten will sie von 450 auf 350 absenken, eine Forderung auch anderer Präsidentschaftskandidaten wie Oleh Ljaschko. Ihm reichen 250 Abgeordnete und zehn Ministerien. Selenskyj schlägt die Einführung einer Berufsarmee vor sowie den entschiedenen Kampf gegen Korruption.
kas.de: Laut Umfragen ist der Komiker und Geschäftsmann Wolodymyr Selenskyj der aussichtsreichste Kandidat. Wie erklären Sie seinen Erfolg und das sogenannte „Se“-Phänomen?
Baumann: Fünf Jahre nach dem Majdan ist der Nimbus von Präsident Poroschenko zwar nicht aufgebraucht, aber durch die vielen Schwierigkeiten der Menschen im Alltag, den anhaltenden militärischen Konflikt sowie die Besetzung der Krim ist er nun verpufft. Selenskyj hat daher die besten Chancen in die Stichwahl zu kommen. Wähler schätzen seine Frische und Jugendlichkeit, die unkonventionelle Wahlkampagne über soziale Medien sowie die Tatsache, dass er vermeintlich kein Teil des „Systems“ ist. In seinem politischen Programm bleibt er vage und auch naiv. Er nimmt weder an politischen Debatten Teil noch gibt er gerne Interviews.
kas.de: Eines der Zentralthemen für die KAS in der Ukraine ist die europäische Integration des Landes. Wie wird sich aus Ihrer Sicht die weitere Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der EU je nach Ausgang der Präsidentschaftswahl gestalten?
Baumann: Es ist davon auszugehen, dass bei den drei genannten Kandidaten, die eine Aussicht auf Einzug in die zweite Runde haben, sich an der Ausrichtung der Ukraine hin zu EU und NATO nichts ändern wird, zumal dieser Punkt auch seit kurzem Teil der ukrainischen Verfassung ist.
Mittlerweile ist die Ukraine durch das Assoziierungsabkommen mit der EU und die teils gemeinsam mit der NATO vorbereiteten Reformen im Sicherheitssektor auf einem Weg, der sich – noch dazu gegen eine klare Mehrheit in der Bevölkerung – nicht mehr umkehren lässt. Für den Weg zu einer Wirtschafts- und politischen Union mit Russland, der die mögliche Alternative wäre, plädiert nur noch eine Minderheit in der Ukraine. Die vergangenen fünf Jahre haben ihre Spuren in der Bevölkerung hinterlassen.