Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Dies scheint in der aktuellen Corona-Krise das Leitmotiv politischer Entscheidungen zu sein. Im Eiltempo ändern Regierungen auf der ganzen Welt Gesetze, verabschieden weitreichende Maßnahmen und schnüren milliardenschwere Hilfs-Pakete zur Unterstützung der Wirtschaft und der Bürger. So lange sich diese Maßnahmen im Rahmen unserer freiheitlichen, demokratischen Grundordnung bewegen, so lange die hierfür vorgeschriebenen parlamentarischen Abstimmungsprozesse eingehalten werden und die getroffenen Entscheidungen demokratisch legitimiert sind, spricht angesichts der aktuellen Gesundheitsnotlage erstmal nichts gegen diese Vorgehensweise. Rasches und entschlossenes Handeln im Rahmen des gesetzlich Möglichen ist das Gebot der Stunde, um die Weiterverbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 zu verlangsamen und letztendlich einzudämmen. Es ist deshalb notwendig, um die Gesundheitssysteme funktionsfähig zu halten, damit Menschenleben und Existenzen gerettet werden können.
Doch auch in einer Krise solchen Ausmaßes dürfen wir unsere freiheitlichen und demokratischen Grundwerte nicht über Bord werfen. Die Corona-Pandemie darf kein Freibrief für die Aushebelung fundamentaler Grundrechte sein. Um den Ansprüchen und Werten unserer liberalen Demokratie zu genügen, müssen die ergriffenen Maßnahmen verhältnismäßig, der Situation angemessen und im Einklang mit unantastbaren Grundrechten stehen. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass Maßnahmen, die im Rahmen von Notstandsverordnungen Grundrechte einschränken, temporär sind und nach Aufhebung des Notstands beendet werden.
Die Wahl der Mittel, mit der wir in dieser Gesundheitsnotlage agieren, ist von fundamentaler Bedeutung für unsere Gesellschaft. Damit die Maßnahmen Wirkung zeigen, bedarf es eines gesellschaftlichen Konsenses, der nur erreicht werden kann, wenn das Handeln der Regierungen transparent und verantwortungsvoll ist. Die Pandemie stellt insofern nicht nur eine Herausforderung für unsere Gesundheitssysteme und unsere Wirtschaft dar, sondern erweist sich zunehmend auch als ein Prüfstein für die liberale Demokratie als solche.
Weltweit greifen Regierungen jedoch vermehrt zu den Instrumentarien autoritärer Machtapparate, um der Covid-19-Pandemie etwas entgegenzusetzen. Hierzu gehören Eingriffe in die Meinungs- und Pressefreiheit, Überwachung, Repression und gezielte Desinformation. Insbesondere autoritäre Regierungen schöpfen dabei aus dem Vollen und werden für ihr „beherztes Vorgehen“ paradoxerweise auch noch gelobt! So mehren sich die Stimmen von Experten und Politikern, die Chinas Krisenmanagement positiv bewerten. Ohne die drastischen Maßnahmen, die China ergriffen hat, um SARS-Cov-2 einzudämmen, hätte die Verbreitung des Virus laut Meinung einiger Experten weltweit ganz andere Ausmaße angenommen. Hierfür sei die internationale Gemeinschaft China zu Dank verpflichtet.
Dieses Narrativ wird von Chinas autoritärer Führung dankbar aufgenommen und ist inzwischen fester Bestandteil ihrer Kommunikationsstrategie sowohl nach innen als nach außen, um ihre Legitimität und ihre Überlegenheit gegenüber anderen Regierungsmodellen zu untermauern. Ohne Zweifel haben die Maßnahmen, die China ergriffen hat, um die Ausbreitung von SARS-CoV-2 einzudämmen, Wirkung gezeigt. Doch zu welchem Preis? Was sind die menschenrechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten für diese Vorgehensweise? Dies sind Fragen, die auch im Kontext eines internationalen Gesundheitsnotstands, wie ihn die Weltgesundheitsorganisation Ende Januar ausgerufen hat, nicht unter den Tisch fallen dürfen. Die Wahl der Mittel, die ergriffen werden, um einer gesundheitlichen Notlage dieses Ausmaßes zu begegnen, darf nicht reflexhaft erfolgen sondern muss sehr sorgfältig abgewogen werden.
Der Wettstreit um die Deutungshoheit, welches System besser für den Kampf gegen die Covid-19 -Pandemie gewappnet ist, hat hingegen längst begonnen und überlagert zunehmend sachliche Diskussionen über den bestmöglichen Umgang mit der Pandemie. Europa, das augenblicklich das Epizentrum der Krise und sich prioritär mit dem eigenen Krisenmanagement beschäftigt ist, scheint in diesem Wettstreit momentan zurückzuliegen. Trotz aller Anlaufschwierigkeiten und trotz unterschiedlicher nationaler Maßnahmen hat die Europäische Union sich darauf verständigt, die Krise gemeinsam zu meistern, zumal nationale Alleingänge keine nachhaltigen Erfolge bei der Bekämpfung dieser grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahr erzielen werden. Die Abstimmungen über gemeinsame Instrumente und Mechanismen, die greifen sollen, um die Folgen der Coronakrise einzudämmen, laufen noch. Zu zügigen und einvernehmlichen Lösungen bleibt angesichts der zu erwartenden Auswirkungen für die Wirtschaft, die EZB-Chefin Christine Lagarde als „episch“ bezeichnet, jedoch keine bessere Alternative.
Die Corona-Krise stellt die Weltgemeinschaft vor Herausforderungen, deren Ausmaße heute noch nicht absehbar sind. Sie ist eine globale Herausforderung, für deren Lösung internationale Zusammenarbeit, verantwortungsvolles Regierungshandeln und Solidarität mehr denn je erforderlich sind. Die Pandemie und wie Regierungen damit umgehen, offenbart Stärken und Schwächen von politischen Systemen gleichermaßen. Wie gut eine Regierung für diesen Katastrophenfall gewappnet ist, zeigt sich jedoch nicht nur im Kontext des aktuellen Krisenmanagements, sondern auch im Nachgang, wenn es darum geht, die Rückkehr in den Normalzustand zu organisieren und die richtigen Lehren aus der Katastrophe zu ziehen. Demokratien sind mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten der Beteiligung und des Interessensausgleichs besser aufgestellt als Autokratien – sowohl in der Krise als auch nach der Krise – da sie sich auf einen gesellschaftlichen Konsens stützen können, der jegliches Regierungshandeln erst wirksam macht. Demokratien sind daher gut beraten, auch im Kontext der aktuellen Krise ihren Werten treu zu bleiben.
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