Das gilt für viele Bücher, die zur Leipziger Buchmesse präsentiert werden, dem Frühjahrsevent der literarischen Welt, zu dem die 2800 Veranstaltungen von „Leipzig liest“ gehören, ein neues Gesprächsforum über „Mensch und KI“ in Halle 5 und die Verleihung des Buchpreises (auf der Shortlist steht der Roman Halbinsel der EHF 2010-Stipendiatin Kristine Bilkau). Auf besondere Weise nehmen die neuen Werke der Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung die Freiheit von Künstlern und Kunst in unsicheren Zeiten ernst.
Unschuldig böse? Michael Köhlmeiers Novelle über ein Schaf im Wolfspelz
Wie erzählt Michael Köhlmeiers neue Novelle von einem in aller Unschuld grundverdorbenen Menschen? Es geht um dem ‚kindlichen‘ Wunsch, wie es ist, einmal einen Menschen zu töten. Johann, dessen Vater diesen unheimlichen Wunsch aus dem Sohn herauslockte, lernt viel und weiß viel. Aber ihm fehlt ein Gewissen. Während die anderen mit ihrem Studium künftige Paarungen framen, lässt sich Johann von seinen Fantasien locken, gängeln und knebeln. Er ist hält sich für etwas Besseres, hat aber nicht das Zeug dafür: weder als Dichter noch als Leser, und schon gar nicht als Liebender. Er taugt weder fürs wunschlose Glück noch zum absurden Nichts. Zu viel Bedeutungslast, zu wenig Formwillen. Dieses Schaf im Wolfspelz-Schicksal bannt beim Lesen: Wir wollen wissen, wohin diese Story führt. Zu einem Happy End etwa? Natürlich soll das hier nicht gespoilert werden. Köhlmeier (KAS-Preisträger 2017) hat eine Campusnovelle über einen unschuldig-verdorbenen Studenten geschrieben. Sie knüpft an die Geschichte der Bösen in seinem vorigen Roman Frankie (2023) an. Die Verdorbenen ist eine Story über die unverschämte Rückkehr ins Paradies. Eine Erzählung über einen, der nicht weiß, wie er seine Scham verlieren weiß, weil er nicht weiß, „wie schamlos geht“.
Schönheit und Schrecken: Hartmut Langes Novellen über die Kunst in schlimmen Zeiten
Lange Zeit war die Novelle out. Sie galt als zu klassisch, dem Zeitklima abhold. Hartmut Lange hat diese Kunst des Erzählens, die dem Drama verschwistert ist, meisterlich zu neuem Leben erweckt. Seit 40 Jahren schreibt der aus dem post-brechtschen DDR-Theater kommende Autor (Preisträger der KAS 1998) szenisch verdichtete Novellen, die den Vorhang lupfen, der das Sichtbare vom Unsichtbaren trennt. Auch im neuen Band des Autors geht es um Schwellen der Wahrnehmung. Mehr als der Raum aber öffnet sich in der Titelnovelle „Der etwa vierzigjährige Mann“. Die Zeit weitet sich für den Protagonisten. Eine Carruca, ein antikes Gefährt, bringt ihn an Wunschorte der Kunstgeschichte. Doch in Neros Rom wird er Zeuge der Gemetzel im Kolosseum und erlebt Senecas Vorbereitungen zum Suizid. Im Florenz der Medici, wo er Botticellis Atelier besucht, wird er Zeuge eines Attentats; im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts schockiert ihn die Guillotine; der letzte Zeitsprung führt den Reisenden an die Rampe in Auschwitz. Was macht die Kunst in schlimmen Zeiten? Die Aktualität der Frage liegt auf der Hand. Schon in seiner Novelle Das Konzert (1983) hat Lange über das Schicksal der Kunst bei Tätern und Opfern der Geschichte gesprochen. Seine jüngsten Novellen erzählen von künstlerischem Schaffen, das immer in Gefahr ist. Kunst ist nicht nur Komfortzone, Raum für „Hoffnung auf eine höhere, erlösende Welt“, sondern auch ein Ort, an dem die Kunstschaffenden wie auch ihr Publikum mit den Schrecken der Zeit zurechtkommen müssen.
Idylle im Zerfall: Martin Mosebachs Roman über das Scheitern am ‚Richtigen‘
Martin Mosebachs Die Richtige ist ein Roman über eine passionierte Liebe zur Kunst und über die trügerische Kunst zu lieben. Louis Creutz ist ein Maler, der es sich leisten kann, unabhängig und rücksichtslos zu sein. Vor allem gegenüber den Frauen, die ihm Modell für Akte sitzen. Eine von ihnen, Flora, ist obdachlos, eine mitflutende Frau im Stadtgeschehen, die andere, Beate, ist eine nordische Schönheit, schlank, hellhäutig, mit unordentlichem Haar, stimmbegabt. Natürlich gewinnt sie das dubiose Duell um den besseren Akt. Und, dank des kuppelnden Malers, einen unscheinbaren, aber welterfahrenen Lebenspartner, Dietrich, Erben eines Industrieimperiums. Kunstfreundlich ist das Klima, in dem Mosebach (KAS-Preisträger 2013) abermals, nach seinem Künstlerroman Taube und Wildente, eine Idylle im Verfall ansiedelt. Er lässt uns dabei zuschauen, wie etwas Schönes so lange in Stücke zerlegt wird, bis nichts mehr vom ursprünglichen Lebenstraum bleibt. Spannend ist, wie es Mosebach gelingt, die kleinen Übergriffe und Kunstlügen, die mäzenatischen Eingriffe und bequemen Bildlegenden ohne Spott zu erzählen. Mit der Gabe eines staunenden Realisten blickt Mosebachs Roman in die Werkstatt von Liebe und Macht, in die Modellierung von Hingabe und Willkür. Sachte durchlöchert er den schönen Trug, der uns Dinge und Menschen als „die Richtigen“ erscheinen lässt. Was bleibt, ist ein Triumph der kleinen Dinge: die Tauben, die dem Maler ins Atelier flattern, haben ihr Glück im „dunklen Raum“ eines Schlags auf dem Dach.
Michael Braun
Michael Köhlmeier: Die Verdorbenen. Roman. München: Hanser
Hartmut Lange: Der etwa vierzigjährige Mann. Novellen. Zürich: Diogenes
Martin Mosebach: Die Richtige. Roman. München: dtv