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Die Ausschreitungen in den letzten Tagen haben gezeigt, wie tief das Misstrauen bei vielen Ägyptern mittlerweile sitzt.
Mursi wird unter anderem vorgeworfen, sich wie ein „neuer Mubarak“ zu verhalten oder einen islamischen Gottesstaat am Nil errichten zu wollen. In einem Interview mit dieser Zeitung hatte er kürzlich diese Idee zurückgewiesen und sich zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekannt. Das neue Ägypten, so der Präsident, solle ein „ziviler Staat“ werden. Wenig später traf sich Mursi mit einheimischen Nichtregierungsorganisationen (NROs) und versprach mehr Freiheiten für die Zivilgesellschaft im Land. Im März soll eine Konferenz einberufen werden, auf der NRO-Vertreter ihre Vorstellungen von einer Verbesserung der Rahmenbedingungen zivilgesellschaftlicher Arbeit vorbringen können.
Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Ausschreitungen lassen diese Bekenntnisse aufhorchen. Die ägyptische Zivilgesellschaft war unter dem alten Regime Opfer permanenter Überwachung und systematischer Behinderung. Die gesetzlichen Bestimmungen für zivilgesellschaftliche Arbeit galten als äußerst restriktiv. Mursi und seine Muslimbrüder, auch sie damals Akteure der Zivilgesellschaft, können davon ein Lied singen. Doch nach dem Sturz Mubaraks wurde die Überwachung und Gängelung der Zivilgesellschaft nach wenigen Monaten wieder fortgesetzt. Die verbliebenen Vertreter des alten Regimes in Ministerien und Behörden machten Menschenrechtsaktivisten, NROs und ausländische Institutionen der politischen Entwicklungszusammenarbeit für den Umbruch im Land verantwortlich. Von „unsichtbaren Kräften“ und „Verschwörern aus dem Ausland“ war die Rede.
Im Dezember 2011 kam es zu Durchsuchungen bei einer Reihe von einheimischen und ausländischen Organisationen der Zivilgesellschaft. Zwei Monate später wurde gegen die Vertreter von fünf dieser Organisationen Anklage wegen Betreiben einer illegalen NRO erhoben, darunter die Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Verfahren laufen weiter, immer noch drohen hohe Gefängnisstrafen.Die eigentlich Leidtragende dieser Entwicklung war und ist die ägyptische Zivilgesellschaft. Hier ist von der Aufbruchstimmung des Frühjahrs 2011 nur noch wenig zu spüren. Nach wie vor sind weitgehende Beschränkungen in Kraft. Das Misstrauen der Behörden gegenüber der eigenen Zivilgesellschaft hält an. Die unklare Rechtslage und die Unvorhersehbarkeit der politischen Entwicklung haben viele Menschenrechtsaktivisten und Akteure der politischen Bildung eingeschüchtert. Einige haben resigniert oder gingen ins Ausland. Andere stehen in diesen Tagen auf dem Tahrir-Platz und demonstrieren. Heute sind Projekte zur Demokratieentwicklung nur noch möglich, wenn sie im Detail von Ministerien und Behörden genehmigt werden. Das ist das Gegenteil von dem, was Zivilgesellschaft meint.
Natürlich hat Ägypten noch andere Probleme. Die Sicherheitslage, vor allem in den Städten am Suez-Kanal, ist unvorhersehbar. Die Auseinandersetzung um die neue Verfassung vertiefte die politischen und gesellschaftlichen Gräben. Überall wirken noch die Seilschaften des alten Regimes. Ägyptens Nachbarn und Verbündete machen sich Sorgen um den außenpolitischen Kurs des Landes. Das ägyptische Pfund fällt immer tiefer, Grundversorgung und Sicherheitslage bleiben schwierig. Kein Wunder, dass weniger Touristen ins Land kommen und Investoren sich zurückhalten.
Angesichts dieser Herausforderungen und Befürchtungen gerät die Situation der Zivilgesellschaft allzu leicht aus dem Blick. Dies wäre fatal für den politischen Transformationsprozess des Landes. Denn ohne eine freie Zivilgesellschaft ist ein demokratischer Übergang nicht machbar. Ägypten braucht nicht nur Investitionen und Kredite, es braucht auch mehr und bessere Handlungsspielräume für die demokratische Entwicklung und einen neuen Umgang mit einheimischen und ausländischen NROs. In einer Kultur der Verdächtigungen und des Misstrauens kann Zivilgesellschaft nicht gedeihen. Außerdem sind Regelungen, die nicht der Kontrolle dienen, sondern der Bereitstellung verlässlicher Arbeitsbedingungen, unerlässlich. Ungeachtet aller schlechten Nachrichten, die uns in diesen Tagen aus Ägypten erreichen, lässt es also hoffen, wenn Mursi jetzt vom „zivilen Staat“ spricht. Man sollte ihn beim Wort nehmen.
Der Autor ist Mitglied des Europäischen Parlaments, dessen Präsident er von 2007 bis 2009 war. Heute ist er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.