Ein Kurzinterview zur Frage wie es mit dem Wahlrecht jetzt weitergeht
Professor Grzeszick, jahrelang wurde über eine Reform des Wahlrechts zur Verkleinerung des Bundestages und die verschiedenen Wege dorthin diskutiert. Jetzt, wo die Reform von der Ampelregierung verabschiedet wurde, ist die Aufregung im politischen Berlin groß. Zu Recht?
Grzeszick: Ja, zu Recht. Die Reform wurde kurz vor der Abstimmung noch einmal ganz erheblich verschärft. Bereits zuvor war sie umstritten, weil die Bedeutung der Wahlkreise zurückgenommen wird. Nun kommt hinzu, dass die Grundmandatsklausel wegfällt und die 5-Prozent-Sperrklausel ohne Rücksicht auf die Wahlkreissiege greift. Damit werden Die Linke und die CSU in der parlamentarischen Existenz bedroht, und die bayerischen Wähler könnten nach der nächsten Wahl im Bundestag massiv unterrepräsentiert sein.
Dass es Nachbesserungsbedarf gibt, scheint nicht nur die Opposition so zu sehen. Auch in der Ampel wird bereits jetzt über mögliche Anpassungen nachgedacht. Welche könnten das sein?
Grzeszick: Als mögliche Reaktion auf die Kritik kommen u.a. in Frage die Zulassung von Listenverbindungen, die Absenkung der Sperrklausel auf unter 5 Prozent, eine „Föderalisierung“ der Sperrklausel durch Bezugnahme auf die Landeslisten sowie eine Wiedereinführung einer – möglicherweise modifizierten – Grundmandatsklausel.
Sollte man sich in den nächsten Wochen nicht auf eine Kompromisslösung einigen können, scheinen Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht unausweichlich. Wie beurteilen Sie die Erfolgsaussichten eines solchen Verfahrens in Karlsruhe?
Grzeszick: Sollte die Reform unverändert bleiben, kommt eine Beanstandung durchaus in Frage. Mit dem Wegfall der Grundmandatsklausel ist eine in ihrer ausschließenden Wirkung derart verstärkte 5-Prozent-Klausel schwerlich zu rechtfertigen. Weder war bislang eine übermäßige Zersplitterung des Bundestags zu beobachten, noch haben die Ampel-Fraktionen in der Gesetzesbegründung hinreichend reflektiert, dass die oben angeführten und milderen, da weniger stark sperrenden Ausgestaltungen zur Verfügung stehen. Auch droht eine ganz erhebliche Verzerrung der föderalen Anteile. Insgesamt wird damit die demokratische Integrationsleistung der Wahl in Frage gestellt.
Also muss man damit rechnen, dass die Reform möglicherweise noch größere Umwälzungen nach sich zieht, etwa den Wegfall der 5-Prozent-Sperrklausel?
Grzeszick: Ja, das wäre eine mögliche Reaktion. Aus meiner Sicht passender wäre aber eine „Föderalisierung“ der Sperrklausel, da ohnehin nach Landeslisten gewählt wird und so auf die regionalen Unterschiede auch in der Stärke der Parteien Rücksicht genommen werden kann, ohne den Schutz vor einer Zersplitterung des Bundestages vollständig aufzugeben.
Manche Beobachter fürchten angesichts der jetzt entstandenen Lage eine dauerhafte Politisierung des Wahlrechts. Drohen uns auch in Deutschland demnächst „amerikanische Verhältnisse", bei denen Veränderungen am Wahlrecht zum Teil der politischen Auseinandersetzung werden?
Grzeszick: Tatsächlich ist die Reform aufgrund der Veränderungen in der letzten Woche nun ein deutlicher Schritt in diese Richtung. Das Wahlgesetz kann zwar trotz seines Charakters als Wettbewerbsordnung der parlamentarischen Politik mit einfacher Mehrheit und damit ohne umfassenderen Konsens geändert werden, was in der Vergangenheit auch bereits geschehen ist. Je stärker eine Änderung sich politisch selektiv zu Lasten einzelner Parteien auswirkt, desto größer wird aber die Gefahr, dass das Wahlgesetz als machtpolitisches Instrument der Herrschaftssicherung der Mehrheit angesehen wird. Der Diskurs über das Wahlrecht wird damit weiter polarisiert, und der Grundkonsens über die Wahl als Legitimationsgrundlage des Parlaments kann in Gefahr geraten.
Professor Grzeszick, herzlichen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Sebastian Enskat, Leiter der Abteilung Demokratie, Recht und Parteien bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.