Länderberichte
Dabei steht fest, dass den gravierenden Sicherheitsproblemen im Land ohne dessen Reform kaum beizukommen sein wird. Ein genauer Blick auf dessen komplizierten Aufbau und strukturelle Probleme muss deshalb Grundlage für jeden Verbesserungsvorschlag sein.
Aufbau und Ausrichtung des brasilianischen Sicherheitssektors am Beispiel Rio de Janeiros
Innere Sicherheit findet in Brasilien auf drei Ebenen statt; auf Bundesebene, auf Landesebene und auf kommunaler Ebene. Die brasilianische Polizei untergliedert sich auf Bundesebene in die Polícia Federal (Bundespolizei) und die Polícia Rodoviária (Bundesverkehrspolizei) sowie auf Landesebene in Polícia Militar (Militärpolizei) und Polícia Civil (Zivilpolizei), welche in jedem Bundesstaat anders organisiert sind. Auf kommunaler Ebene steht es den Hoheitsträgern frei, Guardas Municipais (entspricht in etwa den deutschen Ordnungsämtern) zu errichten, wovon beispielsweise die Stadt Rio de Janeiro Gebrauch gemacht hat.
Die Polícia Federal ist Grenzschutzpolizei und beschäftigt sich mit der Aufklärung von Verbrechen mit Bundesbezug, beispielsweise Schmuggel und Waffenhandel.
Die Polícia Rodoviária schützt die Bundesautobahnen. Sie führt Verkehrskontrollen durch und schreitet bei Verkehrsunfällen ein.
Die Polícia Civil arbeitet hauptsachlich repressiv. Zentrale Aufgabe ist die Aufklärung von Verbrechen, welche, in Abgrenzung zu dem Zuständigkeitsbereich der Polícia Federal, nicht die Interessen des Bundes tangieren, wie beispielsweise Raub und Mord. Darüber hinaus überprüft die Polícia Civil beispielsweise die Genehmigung von Großveranstaltungen und vollstreckt Gerichtsentscheidungen. Zwecks Verbrechensaufklärung sammelt die Polícia Civil Informationen, ermittelt Tatverdächtige und übermittelt diese anschließend an das Ministerio Publico (eine Art Staatsanwaltschaft auf Landesebene). In diesem Zusammenhang treten die Polizeibeamten, namensgebend, in zivil auf, um den Ermittlungszweck nicht zu gefährden. Uniformiert treten die Beamten hingegen auf, wenn sie hoheitliche Zwangsmaßnahmen wie Beschlagnahme und Haft durchsetzen.
Die Polícia Militar ist die Landespolizei, die präventiv tätig wird und maßgeblich der Gefahrenabwehr dient. Sie patrouilliert uniformiert und ist zudem für Verkehrskontrollen, außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Polícia Rodoviária, zuständig. Die Polícia Militar ist der Landesregierung unterstellt, aber in der Verfassung zugleich als Reserve der Armee vorgesehen. Daraus folgt auch die streng hierarchische Unterteilung in Regimente, Bataillone und Kompanien. Anders als Beamte der Polícia Civil, welche größtenteils einen Bachelor in Rechtswissenschaften innehaben, wird die Polícia Militar in der Militärakademie oder im Curso de Formacão de Soldados ausgebildet.
Untereinheit der Polícia Militar ist das Batalhão de Operacões Polícias Especiais (eine Art Sondereinsatzkommando), welche in besonders riskanten Einsätzen tätig wird, schwer bewaffnet ist, härtere Methoden als die übrigen Einheiten anwendet und insbesondere in von Drogenkartellen beherrschten Gebieten als Pioniereinheit diese zu bekämpfen sucht.
Es gibt zahlreiche weitere Organisationen die polizeiliche Aufgaben wahrnehmen. In Rio de Janeiro ist vor allem auf die Unidade de Polícia Pacificadora (UPP), eine Art Friedenspolizei, hinzuweisen, welche seit 2008 in verschiedenen Favelas des Stadtgebietes ansässig ist. Die UPP verfolgt einen kommunalpolizeilichen Ansatz. Die Organisationsform soll eine gewisse Nähe zu den Anwohnern schaffen (políciamento de proximidade), eine dauerhafte Präsenz des Rechtsstaates garantieren und nach entsprechenden Einsätzen die Wiederansiedlung von Drogenkartellen beständig unterbinden. Zentral ist die Zusammenarbeit von Polizei und Anwohnern betreffend gesellschaftliche Probleme wie Kriminalität und Drogen aber auch infrastrukturelle Fragestellungen. Die Einrichtung der UPP bezweckt, die von den Drogenbanden kontrollierten Gebiete zurück zu erobern, der Staatsgewalt zu unterwerfen, dauerhaft zu befrieden und dadurch den schlimmen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kartellen und Polizei ein Ende zu setzen. Die UPP verbuchte in der Anfangszeit unübersehbare Erfolge. Bewaffnete Konflikte nahmen ab und das Verhältnis zwischen Polizei und Anwohnern verbesserte sich signifikant.
Seit 2014 verschlechterte sich die Situation indes erneut im gesamten Stadtgebiet, sodass die Zahlen nunmehr wieder jenen vor Errichtung der UPP entsprechen. Auslöser war unter anderem das Verschwinden eines Anwohners nach einer Befragung durch die Polícia Militar im Jahr 2013, welches das Verhältnis zwischen Anwohnern und Polizei stark belastete und die Vertrauensbasis als Grundfeste des Erfolgskonzeptes des políciamento de proximidade stark erschütterte. Insgesamt schaden sowohl Polizeigewalt als auch die allgegenwärtige Korruption dem Ansehen, der Glaubwürdigkeit und damit dem Vertrauen der Gemeinden in den Sicherheitssektor, sodass schnell wieder alte Feindbilder vorherrschen und gewaltsame Auseinandersetzungen anstelle eines Gemeinschaftsverhältnisses auf der Tagesordnung stehen.
Mittlerweile hat sich die UPP augenscheinlich von ihrem alten Kurs dem políciamento de proximidade abgewandt und agiert wieder in wachsendem Maße repressiv. So patrouilliert sie vermehrt zusammen mit Einheiten der Polícia Militar in urbanisierten Gebieten und rüstet auf (etwa durch das Errichten eines sechs Meter hohen gepanzerten Wachturmes im Complexo do Alemão, Rio de Janeiro)
Die Guarda Municipal ist eine, in einigen Städten wie auch in Rio de Janeiro, errichtete kommunale Institution, welche teilweise ordnungspolizeiliche Aufgaben wahrnimmt. Derzeit wird über deren Aufrüstung diskutiert.
Seit einiger Zeit gibt es zudem in der Gestalt der Operacão Presente (eine Art Präsenzpolizei) eine Einheit, bestehend aus ehemaligen Wehrdienstverpflichteten und Polizisten der Polícia Militar und Polícia Civil, welche die Kriminalität in verschiedenen Gebieten der Stadt im Wege ihrer Präsenz einzudämmen sucht.
Strukturelle Probleme
Aus der derzeitigen Struktur und Ausrichtung des Polizeiapparates und der Gesetzeslage, ins Licht gerückt und verstärkt durch die prekäre politische und finanzielle Situation Brasiliens, ergeben sich vordergründig zwei Probleme in Gestalt der aggressiven, vermehrt inhumanen Praktiken, insbesondere der Polícia Militar, sowie der Ineffizienz der Polícia Civil in Zusammenarbeit mit den zuständigen Institutionen betreffend die Aufklärung von Verbrechen.
Problem 1: Gesteigerte Gewaltbereitschaft der Polizei, insbesondere der Polícia Militar
Die Polícia Militar fällt durch einen regelmäßigen, unverhältnismäßigen sowie exzessiven Machtmissbrauch in Hinblick auf die Anwendung von Gewalt in den Favelas Rio de Janeiros auf. Im Januar und Februar 2017 wurden in den Favelas Rio de Janeiros mindestens 182 Menschen im Rahmen von Polizeieinsätzen, mithin 87 Prozent mehr als in demselben Zeitraum ein Jahr zuvor, getötet. Bereits 2016 hatte sich die Zahl von 419 im Jahre 2012 auf 920 drastisch erhöht. 2015 waren Polizisten für jeden fünften Toten in Rio de Janeiro verantwortlich, in São Paulo für jeden vierten. In der Favela Acari im Norden Rio de Janeiros deuten, Amnesty International zufolge, Hinweise stark auf außergerichtliche Exekutionen in neun von zehn Fällen im Jahr 2014 hin.
Fehlende bzw. unzureichende Ermittlungen seitens des Staates in solchen Fällen führen dazu, dass der verrohte Blickwinkel der Polícia Militar hinsichtlich ihres Schutzauftrages von dieser nicht in Frage gestellt wird.
Das Ausbleiben von Ermittlungen bei Tötungen im Rahmen von Polizeieinsätzen lässt sich dadurch erklären, dass der jeweilige Polizeibeamte in diesem Fall selbst in einem Verwaltungsvorgang darlegen kann, dass er in Notwehr handelte, mit der Folge, dass der Beamte weder strafrechtlich noch zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen wird. Dies erklärt sich durch den Ablauf des dafür geltenden Prozedere: Stirbt bei einem Einsatz der Polícia Militar eine Zivilperson, fertigt ein Beamter der Polícia Militar vor Ort ein Protokoll an. Meist stehen keine anderen Zeugen zur Verfügung (bisweilen auch aufgrund Einschüchterungen und Drohungen seitens der Polícia Militar), weshalb die anschließenden Ermittlungen der Polícia Civil, aufgrund der Aussage des Schützen in Notwehr gehandelt zu haben, anschließend im Sande verlaufen. Wenn diese schließlich ihren eigenen Bericht fertigt und an die Staatsanwaltschaft weiterleitet, ist erfahrungsgemäß bereits so viel Zeit verstrichen und sind damit essentielle Informationen verloren gegangen, dass eine wahrhaftige Erforschung des Sachverhalts wenig wahrscheinlich ist. Dieses Ergebnis wird flankiert durch das in der Praxis häufig anzutreffende Manipulieren und Verfälschen von Beweismitteln und Tatorten (etwa durch das Platzieren einer nicht registrierten Waffe) zwecks Kriminalisierung des Opfers und Rechtfertigung der Polizeigewalt.
Auch der Rückhalt in der Mehrheit der Bevölkerung und dem Justizapparat führt dazu, dass die Polícia Militar von einer allgemeinen Akzeptanz ihrer Arbeitsweise ausgeht. Insgesamt hat sich in der Gesellschaft die Einstellung verfestigt, (potentielle) Angehörige der Drogenkartelle, verdienten eine derartige polizeiliche Behandlung. Sowohl Polizei als auch ein Großteil der Gesellschaft glauben, eine solche Vorgehensweise sei erforderlich, um dem organisierten Verbrechen zu begegnen. Eine derartige, von der Achtung der Menschenrechte weit entfernte, Sichtweise setzt sich auch in den Staatsanwaltschaften und Gerichten fort, welche vor dem Hintergrund einer bestehenden oder jedenfalls möglichen Verbindung des Opfers zum Drogenhandel, nahezu ausnahmslos den Aussagen der Polizisten betreffend die unverhältnismäßige Anwendung von Polizeigewalt den Vorzug geben und diesen damit gewissermaßen Rückendeckung gaben.
Hier wird deutlich wie weit die Kriminalisierung des Drogensektors von dem eigentlichen Ziel, dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor Suchterkrankungen und Infektionskrankheiten, abgekommen ist und nunmehr im Kampf gegen die, von der Kriminalisierung allein profitierenden, Kartelle selbst zahlreiche Opfer der Zivilbevölkerung fordert.
Wie weit verfestigt eine derartige Gewaltanwendung gegenüber (mutmaßlichen) Angehörigen der Drogenszene ist, zeigt ein Blick auf die jüngere Vergangenheit Rio de Janeiros. Von 1995 bis 1998 existierte eine Art „Wild-West-Boni“ für besonders tapfere Polizeiverdienste, wie die Tötung eines Verdächtigen im Bereich der Rauschgiftkriminalität, welcher bis zu 150 Prozent des Lohnes eines Polizisten entsprach. Dass das Aufflammen des Konfliktes mit den gedeihenden Kartellen einzig und allein gewaltsam beigelegt werden kann, zeigt sich auch in der Haltung der brasilianischen Regierung. Unter Verweis auf das Erstarken organisierter Kriminalität wird der Sicherheitssektor kontinuierlich aufgerüstet. Zuletzt wurde von der Regierung in Rio de Janeiro im Jahr 2017 gar die Armee in urbanen Gebieten eingesetzt.
Struktur und Ausrichtung der Polícia Militar erhöhen deren Gewaltbereitschaft. Unbedingter Gehorsam und eine militärische, oftmals durch Demütigung und Erniedrigung zuweilen auch durch Folter geprägte, Ausbildung trägt zu der zunehmenden Entfernung der Polícia Militar von ihrem eigenen Schutzauftrag, den Individualrechten der Zivilbevölkerung, bei. Die inhumanen Arbeitsweisen verfestigen sich mangels des Einschreitens anderer Hoheitsträger und werden aufgrund der militärischen Hierarchie in die unteren Stufen fortgetragen. Tatsächlich ist nicht klar, in welchem Maß die Militarisierung der Polícia Militar an dem gewaltsamen Agieren der brasilianischen Polizei Anteil hat. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass auch die Polícia Civil gehäuft gewaltsam auftritt und zahlreiche Opfer fordert, aber bereits aufgrund der gesetzlichen Aufgabenzuweisung nicht so oft derartigen Situationen ausgesetzt ist.
Auch die gegenwärtig nicht selten anzutreffende schlechte Arbeitsmoral der Polizei trägt sicherlich ihren Teil zu der Problematik bei. Diese wurzelt unter anderem in der allgegenwärtigen Korruption, die insbesondere in der Polícia Militar weit verbreitet ist, den unzureichenden Mitteln und den damit einhergehenden Misserfolgen in der Polizeiarbeit, den geringen Löhnen, welche aufgrund der Krise zudem immer unregelmäßiger und vielfach verspätet ausgezahlt werden, und dem Ausbleiben der Auszahlung versprochener Prämien. Schlussendlich ist in diesem Zusammenhang auch auf die zahlreichen Gewaltverbrechen, denen Angehörige der Polícia Militar in den letzten Jahren zum Opfer fielen, zu verweisen. Dadurch entsteht die gefährliche Neigung, selbst den vermeintlichen Feind zur Verantwortung ziehen zu wollen. Dieser hat dann, durch das Absprechen sämtlicher Menschenrechte, gewissermaßen für sämtliche Missstände der Zeit einzustehen. Gerade in Hinblick auf die tagtäglich erlebte Gewalt und die zahlreichen erlittenen Verluste von Beamten der Polícia Militar ist auch auf deren unzureichende psychologische Betreuung, beispielsweise nach einem Schusswechsel oder dem Verunglücken eines Kollegen, hingewiesen. Ein solches Unterlassen hat mitunter verheerende Auswirkungen auf die Persönlichkeit der Beamten, welche pathologische Signifikanz erlangen können, etwa in Form von Depressionen, dem in der Polícia Militar weit verbreiteten Substanzmissbrauch oder der Entwicklung einer gewissen „Gefühlskälte“ gegenüber Gewaltanwendung, was wiederum Niederschlag in der Arbeitsweise findet.
Problem 2: Geringe Effizienz der Polizeiarbeit betreffend die Aufklärung von Verbrechen
Die Unterteilung der Landespolizei in Polícia Militar und Polícia Civil steht einem umfassenden Informationsaustausch entgegen und erschwert auf diese Weise eine effektive Aufklärungsarbeit. Dies erklärt die alarmierend niedrige Aufklärungsrate von Kapitaldelikten in Brasilien von etwa 8 Prozent. (in Deutschland liegt diese vergleichsweise bei über 95 Prozent)
Dadurch, dass zwei in Aufbau und Ausrichtung derartig verschiedene Institutionen, im selben Bereich, nur in unterschiedlichen Verfahrensstadien tätig werden, gehen wichtige Informationen verloren. So ist die Polícia Militar zum Einschreiten, beispielsweise in Gestalt der Festnahme eines Verdächtigen verpflichtet, wenn sie zur Tatzeit, wie in der Praxis häufig, zugegen ist. Anschließend wird der Tatverdächtige zu einer Direktion der Polícia Civil verbracht und der zuvor erstellte Verwaltungsvorgang überreicht. Bereits hier liegt eine Schwachstelle im System, da die ersten Informationen des Tatorts von herausragender Bedeutsamkeit für die Aufklärungsarbeit sind und von geschulten
Polizisten (der Polícia Civil, nicht der Polícia Militar) erhoben werden sollten. Daraufhin erstellt die Polícia Civil einen eigenen Verwaltungsvorgang und leitet das Ermittlungsverfahren ein, welches von einer Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft, Ermittlungsrichtern und Polícia Civil geprägt ist, anschließend leitet die Polícia Civil das Verfahren an die Staatsanwaltschaft weiter, welche entscheidet, ob Anklage erhoben wird. An der Verbrechensaufklärung sind mithin eine Vielzahl von Institutionen beteiligt, die miteinander weder kollaborieren, noch (bislang) auf ihre Informationen zugreifen konnten, mit der Folge, dass viele wichtige Informationen, welche für die Aufklärung von Verbrechen erforderlich wären, abhandenkommen.
In diesem Zusammenhang wurde 2011 das Projekt sistema de metas ins Leben gerufen, welches vor allem das Ziel verfolgte, die Zusammenarbeit der Polizeiinstitutionen in Gestalt eines Informationsaustauschs von Polícia Militar und Polícia Civil in den Distrikten zu verbessern. Das Kompensationssystem zielte darauf ab, durch die Auszahlung einer Prämie für eine besonders effiziente polizeiliche Zusammenarbeit von Polícia Militar und Polícia Civil in Gestalt eines statistisch messbaren Rückganges der Kriminalitätsrate im jeweiligen Gebiet einen Anreiz für die schlecht bezahlten Polizeibeamten zu schaffen.
(Dieses Projekt ist nicht zu verwechseln mit dem oben angeführten Projekt der 90er Jahre, welches eine Art „Wild-West-Prämie“ für einzelne Polizeibeamte beispielsweise für die Tötung eines Drogendealers vorsah!)
Dies erfolgte zunächst im Wege einer vordergründig symbolischen Kompensation für den signifikanten Rückgang von Kriminalitätsindikatoren (etwa in Hohe von 1000 Reais), wurde dann unzweckmäßig und finanziell untragbar ausgeweitet und schließlich, bedingt durch die Krise, aus finanziellen Gründen, seit etwa einem Jahr nicht mehr ausgezahlt.
Die geringe Erfolgsbilanz fördert die ohnehin bestehende Rivalität zwischen den verschiedenen Einheiten von Polícia Militar und Polícia Civil, welche sich wiederum in der fehlenden Bereitschaft zur Zusammenarbeit niederschlägt.
Schlussendlich ist noch auf die unzureichende Ausstattung mit Personal und Mitteln hinzuweisen, welche dazu beiträgt, dass die Polizei mit dem organisierten Verbrechen nicht einmal ansatzweise Schritt halten kann (z.B. kein Geld für Excel-Lizenzen!).
Reformvorschläge
Angesichts der Vielzahl der angeführten strukturellen Probleme des brasilianischen Sicherheitssektors ist dessen Reformbedürftigkeit evident.
Angesichts der verheerenden politischen Situation erscheint es derzeit praktisch unmöglich die Polizei umfassend (etwa durch Abschaffung der Polícia Militar oder die Vereinigung von Polícia Militar und Polícia Civil) auf Bundesebene zu reformieren. Hier ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass die Institution der Polícia Militar bereits über 200 Jahre alt und somit fest in der Mentalität der brasilianischen Politik verankert ist. Da Polícia Militar und Polícia Civil in der Verfassung Brasiliens vorgesehen sind, bedürfte es einer Entscheidung des Kongresses auf Bundesebene. Eine solche Verfassungsänderung unterliegt zahlreichen Hürden in Gestalt verschiedener Mehrheitserfordernisse. Darüber hinaus wäre eine Umsetzung auf Landesebene mit großem, insbesondere finanziellen, Aufwand verbunden.
Um der brisanten Sicherheitslage somit auf kurze Sicht wirksam zu begegnen, erscheinen allein Reformen auf Verwaltungsebene realisierbar.
Von herausragender Bedeutung ist die Verbesserung des Verhältnisses und der Zusammenarbeit von Polícia Civil und Polícia Militar. Ab 2018 sollen in Rio de Janeiro höherrangige Mitglieder der Polícia Militar gemeinsam mit Beamten der Polícia Civil ausgebildet werden, sodass in diese Richtung bereits ein erster Impuls gesetzt wurde. Diese integrative Ausbildung soll eine effektive Zusammenarbeit und ein konstruktives Verhältnis zwischen den Institutionen schaffen und damit einem reibungslosen Informationsaustausch den Weg ebnen. Wie sich die Zusammenlegung der Ausbildung von Polícia Civil und der Führungsriege der Polícia Militar tatsächlich auswirkt, bleibt abzuwarten.
Auch gilt es den Datenaustausch zu verbessern. Die Polícia Militar verfügt nicht über ausreichend Personal, um das gesamte Bundesland faktisch kontrollieren zu können. Am effektivsten ist es daher erfahrungsgemäß, vorhandene Daten bereits begangener Delikte dahingehend auszuwerten, dass die Polizei verstärkt in Gefahrengebieten stationiert wird. In Rio de Janeiro wurde mit Entwicklung von ISPGeo, einem Kriminalanalyseprogramm, durch eine Zusammenarbeit des Instituto de Segurança Publica mit dem Instituto Igarapé im Jahr 2016 bereits ein wichtiger Schritt in diese Richtung getan.
Umgehend ist gegen unverhältnismäßige Gewaltbereitschaft der Polizei vorzugehen. Diese fordert nicht allein zahlreiche Zivilopfer, sondern schädigt auch das Vertrauen der Gesellschaft in Polizei und Rechtsstaat und erschwert dadurch wiederum effektive Polizeiarbeit. Hierfür ist die Entmilitarisierung der Polícia Militar erforderlich, insbesondere die Abschaffung der Vermittlung militärischer Inhalte und Strukturen im Rahmen der Ausbildung welche durch alltägliche Erniedrigungen und Demütigungen den Auszubildenden selbst ihre Menschenrechte abspricht. Durch eine verstärkte Sensibilisierung für Menschenrechte und praktische Anweisungen für ein verhältnismäßiges Einschreiten in klassischen Situationen könnte zusätzlich auf die Polizeimentalität Einfluss genommen werden.
Ungeahndeten außergerichtlichen Exekutionen durch die Polícia Militar könnte, was Gegenstand aktueller Diskussionen ist, durch die Verwendung von Bodycams bei Einsätzen der Polícia Militar begegnet werden, welche durch das Schaffen weiterer Informationsquellen, die Grundlage der Ermittlungen der Polícia Civil verbessern könnte.
Verbesserungswürdig erscheint zudem die verstärkte Einbindung und Beteiligung der kommunalen Ebene an der Polizeiarbeit. Diesbezüglich sollte in Präventionsarbeit betreffend bestimmte Gruppen, Orte oder einschlägiges Risikoverhalten investiert werden.
Die Kommunen könnten durch primär-präventive Polizeiarbeit etwa bei einem Auftreten gewisser Risikofaktoren (wie etwa Schulschwänzen) frühzeitig intervenieren und auf diese Weise ein Abdriften in die Kriminalität verhindern. So zeigen Studien ein Muster, dass binnen weniger Monate nach dem Fernbleiben von der Schule, der Schüler zum Täter und der Täter innerhalb von 6 Monaten selbst Opfer eines Kapitalverbrechens wird. Diese sehr bevölkerungsnahe Arbeit kann nur wirksam auf kommunaler Ebene durchgesetzt werden, da nur dort Informationen, Kapazitäten und Instrumentarien zur Verfügung stehen.
Im Zusammenhang mit Veränderungen in organisatorischer Hinsicht lohnt sich ein Blick auf Projekte, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, etwa die UPP und das sistema de metas. Sowohl die UPP als auch sistema de metas sollten, als vielversprechende Ansätze, ausgebaut und reformiert werden. Die UPP sollte sich wieder auf ihren alten Kurs zurück besinnen. Das sistema de metas, sollte betreffend die Auszahlung verhältnismäßiger und finanziell tragbarer Prämien angepasst werden.
Bereitgestellt von
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