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Länderberichte

Die Niederlande auf dem Weg zur Regierungsbildung

von Dr. Beatrice Gorawantschy, Kai Gläser

Außerparlamentarisches Experiment in Den Haag

Sechs Monate nach den vorgezogenen Neuwahlen in den Niederlanden haben sich vier Parteien auf eine Zusammenarbeit verständigt und Dick Schoof, ehemaliger Chef des Geheimdienstes AIVD und ranghöchster Beamter im Justizministerium, als Kandidaten für das Amt des Premierministers vorgeschlagen. Dass dieser zuvor kein politisches Amt innehatte, steht symbolisch für die angestrebte Form der Kooperation in der neuen Regierung – es soll ein außerparlamentarisches Kabinett gebildet werden, dem 50 Prozent Vertreter der es tragenden Parteien und 50 Prozent politisch unabhängige Experten angehören. Hintergrund dieser Entscheidung ist das komplizierte Wahlergebnis vom November 2023 sowie die starke Polari-sierung um den rechtspopulistischen Wahlsieger Geert Wilders. Das neue Kabinett soll Anfang Juli von König Willem-Alexander vereidigt werden.

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Bereits unmittelbar nach der vorgezogenen Wahl zur Zweiten Kammer der Generalstaaten (vergleichbar mit dem Deutschen Bundestag) hatte sich abgezeichnet, welche vier Parteien sich eine grundsätzliche Zusammenarbeit im Rahmen einer rechtsgerichteten Regierung vorstellen könnten. Neben der rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid (PVV) des am längsten amtierenden Abgeordneten Geert Wilders, waren dies die rechtsliberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) des scheidenden Premierministers Mark Rutte sowie die beiden neuen Parteien Nieuw Sociaal Contract (NSC) und BoerBurgerBeweging (BBB), die 2023 bzw. 2019 von den ehemaligen Christdemokraten Pieter Omtzigt und Caroline van der Plas gegründet worden waren. Während NSC versucht, sich als konservative Partei an der politischen Mitte zu orientieren, nahm BBB seit ihrer Gründung verstärkt populistische Züge an. Am Tag nach der Parlamentswahl schloss VVD-Spitzenkandidatin Dilan Yeşilgöz eine aktive Beteiligung ihrer Partei an einem Kabinett Wilders zwar aus, zeigte sich jedoch offen für eine parlamentarische Tolerierung. Ähnlich äußerte sich NSC-Parteichef Pieter Omtzigt, der vor allem rechtsstaatliche Bedenken mit Blick auf Wilders extreme Forderungen bezüglich Zuwanderung und Islam geltend machte, da diese nicht mit der niederländischen Verfassung vereinbar seien.

Obwohl Geert Wilders bereits früh in der ersten Sondierungsphase von seinen Maximalforderungen in den genannten Bereichen Abstand genommen hatte, schienen die Verhandlungen über eine – wie auch immer geartete – Zusammenarbeit der vier Parteien in den ersten zwei Monaten nicht voran zu kommen. Am 6. Februar 2024 erklärte Pieter Omtzigt die Verhandlungen schließlich für gescheitert und begründete dies mit den Budgetvorstellungen der anderen Parteien, welche NSC nicht mittragen könne, da diese unrealistisch seien und falsche Versprechungen machten. Dessen ungeachtet sprach der vom Parlament eingesetzte Informateur Ronald Plasterk, der die Gespräche der Parteien moderierte, in seinem Abschlussbericht die Empfehlung aus, dass die vier Parteien weiterverhandeln sollen.

Da NSC in der Folge deutlich machte, dass – trotz offensichtlicher Unvereinbarkeiten –eine Tolerierung im Parlament auch für sie die bevorzugte Form der Zusammenarbeit wäre, machte im politischen Den Haag erstmals der Begriff eines „außerparlamentarischen Kabinetts“ die Runde. Dieses Konzept, welches zunächst nicht näher definiert wurde, ist in der niederländischen Geschichte nicht beispiellos, die letzte Regierung dieser Art liegt jedoch bereits fast 100 Jahre zurück. Da sich die Bedenken bei VVD und NSC auch in der zweiten Verhandlungsrunde nicht gänzlich ausräumen ließen, verzichtete Geert Wilders am 13. März 2024 offiziell auf das Amt des Premierministers und betonte, dass das Zustandekommen einer Regierung wichtiger sei als seine persönliche Rolle in einem neuen Kabinett. Da zeitgleich auch die Spitzenkandidaten der anderen Parteien auf Kabinettsposten verzichteten und ihren Verbleib im Parlament verkündeten, rückte die Bildung eines außerparlamentarischen Kabinetts näher.

Nach zwei weiteren Monaten der Verhandlungen in unterschiedlichen Konstellationen, bei denen erneut vor allem finanz- und migrationspolitische sowie den Rechtsstaat betreffende Fragen eine herausgehobene Rolle spielten, deutete sich Mitte Mai schließlich eine Einigung auf die thematischen Grundzüge einer Zusammenarbeit an. Am 16. Mai 2024 wurde in Den Haag schließlich ein 26-seitiges sogenanntes Rahmenabkommen vorgestellt, welches die Grundlage der neuen Regierung in den Niederlanden bilden soll. In diesem Zuge wurde auch festgelegt, dass die zu bildende Regierung zu 50 Prozent aus Mitgliedern der sie tragenden Parteien und zu 50 Prozent aus externen Experten bestehen soll. Trotz langwieriger Verhandlungen und vor allem bei VVD und NSC durchaus ausgeprägten parteiinternen Debatten, stimmten die Parlamentsfraktionen von PVV, VVD, NSC und BBB noch am selben Tag einstimmig für das Abkommen.

Da der Spitzenkandidat der stärksten Partei in der Zweiten Kammer normalerweise der Zusammensetzung des Kabinetts sowie der detaillierten Ausarbeitung des Regierungsprogramms als designierter Premierminister vorsteht – durch den Verzicht von Geert Wilders jedoch diesmal eine andere Ausgangslage bestand – wurde die Frage nach dem Kandidaten für das Amt des Regierungschefs besonders aufmerksam verfolgt. Nachdem zunächst Ronald Plasterk (vormaliger Informateur) als Möglichkeit genannt worden war, aufgrund von Unregelmäßigkeiten in einem vorherigen Amt jedoch zurückzog, wurde am 28. Mai 2024 Dick Schoof als Kandidat vorgestellt und von allen vier beteiligten Parteien bestätigt.  

 

Von Migration bis Landwirtschaft – Vorhaben in den Niederlanden

Das Rahmenabkommen zwischen den vier Parteien, welches den Titel „Hoffnung, Mut und Stolz“ trägt, sieht in zahlreichen politischen Bereichen eine deutliche Kursänderung vor – innen- wie außenpolitisch.

Eines der wichtigsten innenpolitischen Themen ist und bleibt die Migrationspolitik, in welcher die neue Regierung die Regeln deutlich verschärfen will und bereits jetzt vom „strengsten Migrationssystem aller Zeiten“ spricht. So soll die Zahl der Ankommenden deutlich reduziert werden, eine selektivere Auswahl von Studenten und Arbeitskräften erfolgen, mehr Abschiebungen vorgenommen und der automatische Familiennachzug bei Asylbewerbern bis auf weiteres ausgesetzt werden. Zudem soll das erst Anfang des Jahres von der geschäftsführenden Regierung durch das Parlament gebrachte sogenannte „Verteilungsgesetz“ zurückgenommen werden, welches Migranten und Asylsuchende auf verschiedene Kommunen im Land verteilen sollte, um das nationale Aufnahmezentrum in Ter Apel zu entlasten.

Im Bereich des Klima- und Umweltschutzes bekennt sich die Koalition zwar zu den bestehenden Zielen, spricht sich jedoch für ein Memorandum für neue Maßnahmen aus. In den kommenden Jahren sollen vier statt bisher zwei neue Atomkraftwerke gebaut werden, die Subventionen für E-Autos werden ab 2025 gestrichen und die verpflichtende Nutzung von Wärmepumpen wird ausgeschlossen. Die tagsüber aufgrund des erhöhten Abgasausstoßes eingeführte Geschwindigkeitsbegrenzung auf niederländischen Autobahnen wird abgeschafft und von 100 km/h wieder auf die zuvor gültigen 130 km/h erhöht.

Die Landwirtschaftspolitik, die in den vergangenen Jahren durch die massiven Bauernproteste verstärkt im Fokus war, stand bei der Vereinbarung ebenfalls unter genauer Beobachtung. Hier einigten sich die vier Parteien darauf, „alles in ihrer Macht stehende“ zu tun, um die europäischen Grenzwerte beim Stickstoffausstoß einzuhalten, zusätzliche Maßnahmen sind dafür jedoch nicht mehr vorgesehen. Die mögliche Enteignung oder Schließung von Bauernhöfen, welche einer der Hauptgründe für die andauernden Proteste war, ist vom Tisch. Gleichzeitig wird der 2013 abgeschaffte, jedoch deutlich preiswertere, „rote Diesel“ für Landwirte wieder eingeführt. Die Maßnahmen wurden in den Verhandlungen vor allem von der BBB durchgesetzt.

Im innenpolitischen Bereich soll stärker als bisher gegen organisierte Kriminalität, Geldwäsche und gewalttägige Demonstrationen vorgegangen werden, zudem sollen die Strafmaße für Terrorismus, schwerwiegende Gewaltverbrechen und Sexualdelikte erhöht werden. Institutionell soll eine Wahlrechtsreform die regionale Repräsentation in der Zweiten Kammer verbessern, darüber hinaus soll ein Verfassungsgerichtshof eingerichtet werden, der bei Gesetzesänderungen tätig werden und diese auf den Einklang mit der Verfassung prüfen kann. Dieser Bereich war vor allem für NSC von Bedeutung, die im Wahlkampf um Zustimmung für eine neue Form des Zusammenwirkens von staatlichen Institutionen und Bevölkerung geworben hatte.

 

Von Ukraine-Hilfen bis Erweiterung – Vorhaben auf europäischer Ebene

Auch mit Blick auf die EU hat Geert Wilders seine radikalste Forderung nach einem Austritt seines Landes zwar fallen gelassen, nichtsdestotrotz sieht das Rahmenabkommen zur Koalitionsbildung weitreichende Forderungen vor. So wollen die Niederlande unter der neuen Regierung auf ein Opt-Out im Bereich der EU-Migrationspolitik hinarbeiten, um bei der Umsetzung nationaler Vorhaben mehr Spielraum zu haben. Der neue EU-Asyl- und Migrationspakt war erst vor wenigen Wochen unter Zustimmung der Niederlande final verabschiedet worden.

Darüber hinaus sieht die Einigung der vier Koalitionspartner vor, dass das Land seine Beiträge zum Gesamtbudget der EU perspektivisch kürzen wird, was mit Blick auf die in der kommenden Legislaturperiode anstehenden Verhandlungen über einen neuen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) zu Problemen führen könnte. Bereits in der Vergangenheit hatte die niederländische Verhandlungsposition immer wieder für Ärger in anderen Teilen Europas gesorgt und Mark Rutte den Spitznamen „Mr. No“ eingebracht.

Auch mit Blick auf eine mögliche EU-Erweiterung legen sich die Koalitionspartner in ihrem Rahmenabkommen bereits fest: demnach seien die Niederlande allgemein skeptisch, was die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten angehe und stünden dafür ein, dass es keine Aufweichung der Beitrittskriterien zur Europäischen Union gebe.

Mit Blick auf die europäische Unterstützung der Ukraine scheint die befürchtete 180 Grad-Wende dagegen auszubleiben. Im Abkommen betonen die vier Koalitionspartner, dass man die politische, militärische, finanzielle und moralische Unterstützung des Landes gegen den russischen Aggressor auch in Zukunft aufrechterhalten werde, ohne dies im Folgenden jedoch genauer auszuführen. Grundsätzlich wolle man ein konstruktiver Partner auf europäischer Ebene bleiben.  

 

Von NATO bis Nahost – Vorhaben auf internationaler Ebene

Im außenpolitischen Bereich bekennt sich die Koalition zum Zwei-Prozent-Ziel der NATO und will dieses als Gesetz festschreiben. Die Mittel für Entwicklungshilfe sollen gekürzt werden und ab 2027 maximal 2,7 Milliarden Euro betragen, im vergangenen Jahr wurden noch 3,6 Milliarden Euro dafür vorgesehen. Zudem möchte die neue Regierung prüfen, ob die niederländische Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt werden kann.                

 

Die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer neuen Regierung

Nach der Einigung auf die wichtigsten Punkte einer Zusammenarbeit sowie der Benennung eines Kandidaten für das Amt des Premierministers, haben der designierte Regierungschef Dick Schoof und Richard van Zwol, ein Christdemokrat, der nach erfolgreichem Abschluss der ersten Verhandlungsrunden formal als Formateur eingesetzt worden war, nun bis Ende Juni Zeit, ein Kabinett zusammenzustellen, welches den Absprachen der kommenden Koalitionspartner Rechnung trägt. Sobald die Minister und Staatssekretäre vorgeschlagen sind, werden diese im Parlament befragt und von König Willem-Alexander vereidigt. In der Folge wird das Kabinett – dann bereits im Amt – die konkrete Ausarbeitung eines Koalitionsvertrages angehen, in dem die Umsetzung der im Rahmenabkommen niedergeschriebenen Vorhaben konkretisiert wird. Erst dann wird sich zeigen, ob die bereits abgestimmten Vorhaben tatsächlich wie geplant umsetzbar sind, oder sich – wie von zahlreichen Oppositionsvertretern vorausgesagt – als „Wunschdenken“[1] oder „Luftschlösser“[2] entpuppen. Eine komfortable Mehrheit hätte die neue Koalition in der Zweiten Kammer, wo 88/150 Sitze auf die Regierungsfraktionen entfallen.

 

Rückblick auf das Wahlergebnis: Rechtspopulisten erstmals siegreich

Der komplizierte Weg zu einer neuen Regierung resultiert aus dem Wahlergebnis der vorgezogenen Neuwahlen zur Zweiten Kammer der Generalstaaten im November 2023. Aus diesen waren Geert Wilders und seine Freiheitspartei erstmals in der niederländischen Geschichte siegreich hervorgegangen und konnten 37/150 Sitze in der Parlamentskammer auf sich vereinen. Auf dem zweiten Platz war mit 25 Sitzen das grün-rote Bündnis GroenLinks/PvdA um den ehemaligen Vize-Präsidenten der Europäischen Kommission, Frans Timmermans, gelandet. Dieser hatte jedoch bereits am Wahlabend jedwede Form von Zusammenarbeit mit der Partei von Geert Wilders ausgeschlossen. Auf den weiteren Plätzen folgten die neuen Koalitionspartnern VVD und NSC mit 24 bzw. 20 Sitzen im Parlament. Die Bauern-Bürger-Bewegung (BBB) wurde sechststärkste Kraft und landete bei sieben Sitzen.

Die bisherigen Koalitionspartner von Mark Rutte‘s VVD waren dagegen allesamt abgestraft worden. Neben den linksliberalen Democraten 66 (D66), die von 24 auf neun Sitze abrutschten, galt dies vor allem für den christdemokratischen Christen-Democratisch Appèl (CDA), der zwei Drittel seiner Mandate verlor und nur noch mit fünf Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Der vierte Koalitionspartner, die calvinistische ChristenUnie (CU), verlor dagegen nur leicht und sitzt nun mit drei Vertretern im Parlament. Aufgrund einer fehlenden Sperrklausel für den Einzug ins Parlament, ist die Zweite Kammer der Generalstaaten von großer politischer Fragmentierung geprägt – aktuell sind 15 Fraktionen im Parlament vertreten, zum Ende der letzten Legislaturperiode waren es sogar 20.

Nachdem die vorhergehende Regierung an der Einführung strengerer Asylregeln zerbrochen war, hatte vor allem die VVD in ihrem Wahlkampf stark auf Migrationspolitik gesetzt und damit nach Einschätzung zahlreicher Beobachter den weitgehend monothematischen Wahlkampf von Geert Wilders befeuert. Während es in den Umfragen dennoch lange Zeit nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen VVD und NSC ausgesehen hatte, gelang der PVV auf den letzten Metern eine beeindruckende Aufholjagd, welche sie zur mit Abstand stärksten Kraft des Landes aufsteigen ließ. Aktuelle Meinungsumfragen sehen die PVV, noch deutlich stärker als am Wahltag selbst, bei knapp unter einem Drittel der Parlamentssitze.    

 

Fazit und Ausblick

Obwohl die Regierungsbildung in den Niederlanden mit der Einigung auf ein Rahmenabkommen sowie der Benennung eines Premierminister-Kandidaten nach sechs Monaten einen entscheidenden Schritt vorangekommen ist, sind viele Details noch völlig offen. Dies gilt für die Umsetzung der Vorhaben, für die personelle Besetzung der Regierung sowie für die Rückbindung des außerparlamentarischen Kabinetts an die es tragende parlamentarische Mehrheit. Da es kaum Blaupausen für diese Art der Regierungsbildung gibt, sprechen viele Experten von einem „Experiment“, mit komplizierten Wahlergebnissen umzugehen, welches im Erfolgsfall auch in anderen Ländern zur Anwendung kommen könnte.

Vor allem bei den neuen Parteien NSC und BBB, aber auch bei PVV, deren einziges offizielles Mitglied Geert Wilders selbst ist, stellt sich zudem die Frage, welches Personal sie mit Blick auf Minister- und Staatssekretärsposten vorschlagen können. Kandidatinnen und Kandidaten aus den eigenen Reihen verfügen häufig nicht über die nötige Erfahrung, während gleichzeitig nicht jede Expertin und jeder Experte in einem bestimmten Politikbereich Teil dieses demokratietheoretischen Experiments sein möchte. Es soll bereits mehrfach zu Anwerbeversuchen bei anderen Parteien, z.B. PvdA oder CDA, gekommen sein, die jedoch dort nicht notwendigerweise auf positive Resonanz stießen.

Die niederländische Bevölkerung scheint dem Experiment dagegen weitgehend aufgeschlossen oder zumindest pragmatisch gegenüberzustehen. Bereits vor dem Verzicht von Geert Wilders auf das Amt des Premierministers gab es kaum nennenswerte Proteste, von einer politischen „Brandmauer-Debatte“, welche über die Mitglieder einzelner Parteien hinausginge, ganz zu schweigen. In einer aktuellen und repräsentativen Umfrage geben jedoch nur 35 Prozent der Befragten an, Vertrauen in die neue Regierung zu haben, was vermutlich auch mit den zahlreichen noch offenen Fragen zu tun haben dürfte. Die Hälfte der Befragten bewertet das Zustandekommen der Regierung jedoch positiv.

Kritische Stimmen kommen neben der Opposition aus Wirtschaftsverbänden und Universitäten, die vor dem Hintergrund der geplanten Verschärfungen im Migrationsbereich davor warnen, die Zukunft der Niederlande als Wirtschafts- und Innovationsstandort aufs Spiel zu setzen.  

Die kommenden Wochen werden zeigen, ob es gelingt, ein Kabinett zusammenzustellen und im Anschluss die gemeinsamen Beschlüsse umzusetzen. Bereits jetzt steht fest, dass die Koalition dabei auch auf die Unterstützung der Opposition angewiesen sein wird, da sie in der Ersten Kammer der Generalstaaten (Senat) keine eigene Mehrheit hat. Gemeinsam mit vier konservativen Kleinparteien könnte diese Hürde jedoch genommen werden. Dieser Umstand ist in den Niederlanden nichts Neues, auch das aus dem Amt scheidende Kabinett von Mark Rutte hatte seit den Provinzwahlen 2023 keine eigene Mehrheit im Senat und musste sich diese für jedes Gesetz suchen.

Obwohl Wilders weder Regierungschef sein wird, noch eine Rolle im Kabinett einnimmt, hat er sein Ziel erreicht – letztlich ist diese Regierung unter seiner Führung zustande gekommen ist. Wilders bleibt Vorsitzender der stärksten Fraktion in der Zweiten Kammer und wird die Geschicke von dort aus lenken. Er hat sich selbst in die komfortable Position gebracht, Regierung und Opposition gleichermaßen zu sein.

Mit Dick Schoof, einem ehemaligen Sozialdemokraten, der nicht nur Chef des Geheimdienstes war, sondern auch die Einwanderungsbehörde und die Anti-Terror-Behörde geleitet hat, soll ein Technokrat die Regierung führen – noch erschließt sich nicht, wieviel Spielraum ihm Wilders gewähren wird. In seiner ersten Pressekonferenz nach der Nominierung betonte Schoof, dass er Premierminister aller Niederländer sein wolle und dabei nicht an der Leine von Geert Wilders hängen wolle.

Über den Bestand dieser neuen Regierungsform kann man nur spekulieren. Es liegt in der Natur der Sache, dass man Macht, wenn man sie einmal innehat – und wie in diesem Fall mühevoll erlangen musste – auch nicht so schnell wieder abgeben möchte. D.h. alle vier Koalitionspartner haben ein nachvollziehbares Interesse daran, an ihren Positionen festzuhalten. Doch das Zusammenspiel aus Technokraten und Fachpolitikern muss erst erprobt werden. Für die Zukunft gibt es mindestens zwei alternative Projektionen, die sich beide an der Person Geert Wilders festmachen. Ist Mäßigung – wie er es während der Regierungsverhandlungen an den Tag gelegt hat – das Gebot der Stunde oder zeigt Wilders irgendwann sein wahres Gesicht und tritt als der alte Hetzer und Islamhasser hervor? Dann werden es die Koalitionspartner auf Dauer nicht mittragen können und die Koalition platzt schneller als gedacht – oder aber die Koalitionspartner sind klug genug, selbst den Rahmen in dieser Regierung zu setzen und Geert Wilders in die Schranken zu weisen, dann könnte das Experiment länger Bestand haben als von manchen vermutet.

Wie sich die neue Regierung auf europäischem Parkett geben wird, bleibt ebenfalls abzuwarten, die Europäische Kommission hat den Opt-Out-Plänen des neuen Kabinetts jedoch unter Verweis auf den erst kürzlich beschlossenen Asyl- und Migrationspakt bereits eine Absage erteilt. Im Hinblick auf Budgetverhandlungen und Fragestellungen wie EU-Erweiterung müssen sich die Institutionen und andere Mitgliedstaaten sehr wahrscheinlich aber auf eine kritischere Haltung der Niederlande einstellen. Wie bereits erwähnt, war die Position Den Haags auch in den vergangenen Jahren nicht immer unumstritten, bei wichtigen Vorhaben hatten die Regierungen unter Mark Rutte schlussendlich aber immer zugestimmt, zuletzt auch bei der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Bosnien-Herzegowina, welchen das Land lange Zeit sehr kritisch gegenübergestanden hatte. Diese Verlässlichkeit könnte bei einer neuen Regierung unter Beteiligung der PVV weniger stark ausgeprägt sein und dadurch auch ein gemeinsames Vorgehen mit anderen EU-Partnern, etwa im Benelux-Raum oder mit Deutschland erschweren. 

 

[1] https://x.com/mirjambikker

[2] https://x.com/RobJetten

 

Rahmenabkommen:

https://www.tweedekamer.nl/kamerstukken/detail?id=2024Z08320&did=2024D19452

Entwicklungen:

https://www.dutchnews.nl/category/election-2023/ (Zeitraum: November 2023-Mai 2024)

https://nos.nl/nieuws/politiek (Zeitraum: November 2023-Mai 2024)

https://www.politico.eu/country/netherlands/ (Zeitraum: November 2023-Mai 2024)

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