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Länderberichte

Die Ukraine setzt sich NATO-Beitritt zum Ziel

von Dr. Manfred Lohmann, Henri Bohnet

Ende der 'multivektoralen Politik'?

Bei seinem Besuch in der NATO-Zentrale am 29.-30. Mai informierte der ukrainische Außenminister Slenko Generalsekretär Robertson über die Zielsetzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates (NSVR) in dessen Erklärung vom 23. Mai, dem Bündnis in absehbarer Zukunft beitreten zu wollen.

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Laut Präsident Kutschma ist diese Entscheidung für die Ukraine von epochaler Bedeutung. Damit verabschiedet sich das Land offiziell von seiner seit der Unabhängigkeit betriebenen außenpolitischen Neutralität und hebt die Zusammenarbeit mit der euro-atlantischen Sicherheitsorganisation - zumindest nominell - auf eine neue Ebene. Nach der einstimmigen Entscheidung im NSVR äußerte sich der Vorsitzende Martschuk, dass es nach den "Veränderungen in Europa für die Ukraine keinen Sinn macht, ihre Neutralität beizubehalten. In einigen Fällen könnte dies sogar nachteilig sein." Seiner Meinung nach könnte die Ukraine der NATO in acht bis zehn Jahren beitreten.

Noch einen Monat zuvor hatte Martschuk in einem Interview mit der Tageszeitung "Denj" betont, dass für eine derartige außenpolitische Richtungsänderung ein breiter Konsens sowohl innerhalb der Bevölkerung als auch zwischen dem Parlament und dem Präsidenten als Voraussetzung bestehen müsse. Als Reaktion auf die Entscheidung des NSVR - der gemäß Verfassung nur Konsultativstatus besitzt - kritisierte der oppositionelle Sozialistenführer Moros denn auch das "politische Abenteurertum" Kutschmas, der als oberster politischer Entscheidungsträger den Ratsbeschluss guthieß, ohne vorher das Parlament in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen oder die Bevölkerung darüber zu informieren.

Einer kürzlichen Umfrage von "Denj" zufolge sehen nämlich nur 11 bzw. 14% der Befragten einen NATO-Beitritt ihres Landes in den nächsten fünf bzw. zehn Jahren als wahrscheinlich an, 21% sind dagegen der Meinung, dass die Ukraine der NATO niemals beitreten wird. 54% hatten keine Meinung zu dieser Frage. In einer anderen Umfrage, die im April vom Razumkow-Zentrum durchgeführt wurde, sah ein Drittel der Bevölkerung die NATO immer noch als ein aggressives Militärbündnis an.

Bisherige Impulse für eine engere Kooperation mit dem westlichen Bündnis sind mit Rücksicht auf den Nachbar Russland und die in den letzten Jahren immer enger gewordenen Beziehungen nicht umgesetzt worden. Die graduelle Annäherung zwischen dem Sicherheitsbündnis und Russland nach den Ereignissen des 11.September, die schließlich zur Bildung eines neuen NATO-Russland Rates auf dem Gipfeltreffen in Moskau am 28.Mai führte, in dem der ehemalige Gegner erweiterte Mitspracherechte erhielt, hat jetzt offensichtlich zu einem außenpolitischen Umdenken der ukrainischen Führung geführt.

Dies wird durch die Aussage Martschuks belegt, dass "im Zuge der NATO-Erweiterung und Annäherung an Russland der Beitritt der Ukraine als nützlich und notwendig angesehen" werde. In einer ersten Reaktion auf den ukrainischen Beschluss kommentierte Russlands Präsident Putin, er respektiere die "eigenständige Entscheidung" des Nachbarn. Diese ungewöhnlich schnelle positive Reaktion deutet darauf hin, dass Kutschma sich schon vorher auf dem Treffen in Sotschi (Krim) Mitte Mai mit Putin diesbezüglich abgestimmt hatte.

Nicht erst seit dem vergangenen September ist es für die Ukraine von großer Bedeutung, im europäischen Kontext politisch, wirtschaftlich und militärisch nicht noch weiter in die Bedeutungslosigkeit abzudriften. Dieses Bestreben macht auch das vom Präsidenten dem neu gewählten Parlament Ende Mai vorgelegten Strategiepapier "die europäische Wahl" deutlich, das eine EU-Assoziierung bis zum Jahre 2007 vorsieht.

Eine NATO-Beitrittsoption kann für die EU-Integration des Landes nur von Nutzen sein, wie das Beispiel Polen, Tschechien und Ungarn - die aussichtsreichsten EU-Beitrittskandidaten - zeigt. Angesichts weltweit veränderter sicherheitspolitischer Bedingungen kann die Integration des Landes in die euro-atlantischen Strukturen nur förderlich sein und nicht zuletzt auch sein militärisches Potential aufwerten. Dass hierfür auch ein Bedarf im Ausland besteht, zeigen die zahlreichen Peacekeeping-Missionen unter NATO bzw. UNO-Schirmherrschaft, an denen (z.B. in Bosnien, Sierra Leone, Kosovo) ukrainische Truppeneinheiten beteiligt sind.

Das seit 1997 bestehende "spezielle" Partnerschaftsabkommen zwischen NATO und Ukraine, das sich im Juli zum fünften Mal jährt, hat dazu beigetragen, dass schon Ansätze zur Weiterbildung und Verringerung einzelner Teile der Streitkräfte mit gleichzeitiger Effizienzsteigerung entwickelt wurden. Intensive Zusammenarbeit war jedoch bisher neben "ziviler Notfallplanung und -bereitschaft" auf gelegentliche gemeinsame Manöver beschränkt.

Ein offizielles Beitrittsgesuch ist bisher noch nicht erfolgt. Erst ein solcher Schritt könnte den wirklichen politischen Willen einer engeren Zusammenarbeit mit Amerika und Europa und die Abkehr von der bisherigen unberechenbaren 'multivektoralen Politik' des Landes unterstreichen. Immerhin soll eine 'Beitrittsstrategie' rechtzeitig zum Besuch Robertsons am 5.Juli zum Jubiläum des Partnerschaftsvertrages vorliegen und weitere Details bis zum Prager NATO-Gipfeltreffen im November ausgearbeitet werden.

Zur Zeit sind außer der Verlautbarung des NSVR-Beschlusses keine Informationen über Einzelheiten der 'neuen Strategie', deren spezifische Zielsetzungen und die für deren Umsetzung zuständige Institution bekannt. Soll z.B. ein ähnlicher Ausschuss im Parlament geschaffen werden, wie es ihn für die europäische Integration inzwischen gibt? Würde dieser dann einen Gegenpart - ein sogenanntes Staatskomitee - beim vom Präsidenten kontrollierten Ministerkabinett erhalten? Die Werchowna Rada ist bisher in die Entscheidungsfindung nicht einbezogen worden. Vielmehr wird bis heute von dem Reformbündnis unter Ex-Premier Juschtschenko jegliche Einflussnahme am parlamentarischen Willensbildungsprozeß vermißt, was aber nicht nur auf das zahlenmäßige Übergewicht des Präsidentenlagers, sondern auch auf taktische Fehler des Reformers zurückzuführen ist.

Inwieweit das Parlament seinen Einfluss auf die Ausformulierung der Beitrittsstrategie geltend machen kann, hängt u.a. auch von der effektiven Arbeit des neu besetzten Ausschusses für nationale Sicherheit und Verteidigung ab, dessen Vorsitz der Kommunist Krjutschkow hat. Obwohl seit dem Westschwenk Putins die ukrainische KP nicht mehr vehement gegen jegliche außenpolitische Kooperation mit dem Westen eintritt, erscheint die Unterstützung der neuen Strategie in diesem Ausschuss dennoch sehr problematisch.

Ein Konsensfindungsprozess innerhalb der politischen Elite des Landes ist aber auch für die Informationsarbeit in der Bevölkerung unabdingbar. Die Elite des Landes müsste als Motor der Integration fungieren, so der Ex-Außenminister und "Nascha Ukraina"-Abgeordnete Tarasjuk in einem Interview Ende April. Seiner Meinung nach muss eine öffentlich geführte Debatte am Beginn des Annäherungsprozesses stehen.

Einer Umfrage des Razumkow-Zentrums im Februar zufolge ist nämlich immer noch eine knappe Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung (31,6%) für eine engere Kooperation mit Russland, im Unterschied zu einer EU-Orientierung der Außenpolitik (31,4%). Dabei sind diese Unterschiede v.a. auch geographisch genau bestimmbar: Eine Mehrheit der westukrainischen Bevölkerung ist klar für eine Westanbindung des Landes, wohingegen die Zentral-, Ost- und Südukraine eine eher russlandfreundliche Haltung aufweisen. Eine breite Zustimmung in allen Bevölkerungskreisen muss jedoch Voraussetzung für die angestrebte NATO-Mitgliedschaft sein.

Ferner ist zweifelhaft, ob die Ukraine auch nur mittelfristig die Kriterien für einen Beitritt erfüllen kann, da die NATO sich nicht nur als ein transatlantisches Sicherheitsbündnis, sondern auch als Wertegemeinschaft versteht. Die Durchsetzung von demokratischen Reformen und rechtsstaatlichen Prinzipien, Achtung der Menschenrechte, eine freie Marktwirtschaft, soziale Gerechtigkeit, sowie gute nachbarliche Beziehungen und ein konstruktiver militärischer Beitrag zur kollektiven Sicherheit ("Interoperabilität") stehen weiterhin in Frage. Grundlegende Veränderungen sind in dieser Hinsicht mit dem neu gewählten, von Kutschma kontrollierten Parlament bis zu den Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren kaum zu erwarten.

Für eine Umstrukturierung des Militärs, das langfristig gesehen kompatibel mit den NATO-Standards werden soll, sind nach Expertenmeinung jährliche Ausgaben in Höhe von 2,5% des Staatshaushalts notwendig. Momentan erhält die Armee jedoch gerade einmal die Hälfte. Außerdem bleibt zweifelhaft, wie ein Land der NATO beitreten kann, auf dessen Territorium die russische Schwarzmeerflotte noch bis 2017 stationiert ist und ca. 4500 weitere militärische Einrichtungen von den russischen Streitkräften genutzt werden.

Dementsprechend zeigt sich die NATO-Führung gegenüber den ukrainischen Erwartungen noch eher zurückhaltend. So ist wohl auch die Äußerung des amerikanischen Außenministers Powell Ende Mai in St. Petersburg zu verstehen: "Wir sind noch ziemlich weit von der Einleitung eines formalen Beitrittsprozesses mit der Ukraine entfernt." Dabei spielt wohl auch der kürzliche Skandal um angebliche Raketenlieferungen der Ukraine an den Irak eine Rolle. Aber auch der NSVR-Vorsitzende Martschuk scheint ein wenig von seinem anfänglichen Überschwang abgekommen zu sein: "Wenn der ältere Kolja in der Kindergartengruppe die jüngere Katja heiraten will, sagt seine Mutter: 'OK, aber zuerst musst Du erwachsen werden'. Das heißt, wir müssen zuerst die Bedingungen erfüllen."

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