In den vergangenen sechs Wochen, zwischen dem 11. April und dem 19. Mai, fanden in Indien die Wahlen für das Unterhaus (Lok Sabha) statt. Aus Sicherheitsgründen erfolgten diese in sieben Wahletappen, bei denen die föderalen Staaten zur Wahl aufriefen. Sieben nationale und mehr als 50 regionale Parteien bewarben sich um 543 Sitze im Parlament. Es gab insgesamt eine Million Wahllokale und ca. elf Millionen Wahlhelfer. Mehr als 900 Millionen Inder, darunter 84 Millionen Erstwähler, waren bei einer der teuersten Wahlen weltweit stimmberechtigt. Trotz der hohen Investitionssummen in Wahlkämpfe gab es nicht viele inhaltliche Botschaften sondern eher persönliche Angriffe auf gegnerische Kandidaten. Die Wahlbeteiligung lag bei 67,11 Prozent und überstieg damit leicht die Beteiligung von 66,4 Prozent in 2014. Laut Hindustan Times werden 14,6 Prozent und damit 78 Sitze im neuen indischen Parlament von Frauen besetzt sein. Dennoch standen nur knapp 9 Prozent weibliche Kandidaten zur Auswahl.
Modi 2.0
Der Mann, der das neue Indien ausrief, wird von der Bevölkerung für seine Entwicklung vom Teeverkäufer zum Wächter der Nation verehrt und von den Massen bejubelt. Er wird als jemand betrachtet, der nicht korrupt ist, was ihm das Bild eines selbstlosen Premiers verschafft. „Ihr seid mein Kapital”, erklärt er den indischen Wählern. Das kommt gut an und steht im Gegensatz zu Rahul Gandhi vom INC, der in eine Führungsposition und eine Welt von Privilegien hineingeboren wurde. Für viele Inder macht das Modi zum Vorbild. In einer gänzlich personenbezogenen Wahlkampagne, geprägt von Hindu-Nationalismus und islamfeindlicher Rhetorik, schaffte es Modi, das Narrativ festzulegen und sich gleichzeitig zum Symbol der BJP zu machen. Der Ausbau der Infrastruktur, die Errichtung von Bankkonten für alle (einschließlich vieler Dorfbewohner) und die Bereitstellung vieler öffentlicher Toiletten, die zuvor nicht üblich waren, verbesserten das Alltagsleben vieler Inder. Außerdem ist die Zahl derjenigen, die in extremer Armut leben, zurückgegangen. Diese Erfolge sind allgegenwärtig. Mit der BJP wählte man nicht nur einen Kandidaten, man wählte Modi. Seine von BJP-Präsident Amit Shah konzipierte Wahlkampagne hatte dabei eher präsidentielle Züge. Bedruckte Bordkarten mit seinem Gesicht, Modi-Pappmasken, ein eigener Film - der alte und neue Premier war omnipräsent.
Der Siegeszug der BJP
Nach den verlorenen Bundesstaatswahlen im vergangen Dezember hatten wenige mit einem so eindeutigen Sieg der BJP bei den diesjährigen Parlamentswahlen gerechnet. Sogar in den Bundesstaaten, die seit Ende letzten Jahres durch den INC regiert werden, konnte die BJP die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen. „BJP has breached the eastern wall” lautete eine Schlagzeile im unter indischen Politikern beliebten Kurznachrichtendienst Twitter. Dies ist nicht zuletzt der Antwort der Regierung auf den Terroranschlag im Februar in Jammu und Kaschmir geschuldet, Terrorcamps in Pakistan anzugreifen. In diesem Kontext verlagerte der Premier den Schwerpunkt seiner Botschaft sorgfältig auf die nationale Sicherheits- und Identitätspolitik und konnte so das Sicherheitsbedürfnis der indischen Bevölkerung entscheidend auffangen.
Als herber Rückschlag für den traditionsreichen INC wird der Verlust des Lok Sabha-Sitzes aus Amethi in Uttar Pradesh gewertet. Seit Generationen wird dieser Wahlbezirk von der Gandhi-Familie bestritten und gewonnen - nun fiel Congress-Spitzenkandidat Rahul Gandhi hinter der rivalisierenden Kandidatin der BJP zurück.
Wirtschaftsmacht Indien?
2014 war Modi für sein Versprechen gewählt worden, mit entscheidenden Reformen die Wirtschaft des Landes und die Öffnung der Märkte voranzubringen. Doch er blieb hinter den Erwartungen einer Bevölkerung zurück, die sich durch den Machtwechsel 2014 vor allem mehr Arbeitsplätze erhoffte. Tatsächlich erreichte die Arbeitslosigkeit unter der BJP ein 45-Jahres-Hoch, nach unabhängigen Angaben gingen 2018 elf Millionen Arbeitsplätze verloren. Die entscheidende herstellende Industrie des Landes schaffte es in den vergangenen drei Jahren ihren Anteil an der Wirtschaftsleistung des Landes um nur 1,5 Prozent auf insgesamt 18 Prozent zu erhöhen. Was bei den Menschen ankam: Preise für Getreide und Feldfrüchte fielen. Modi hat daher kürzlich höhere Subventionen für die leidenden Bauern angekündigt. Dass ihm dieses Versprechen abgenommen und weiter an seinen Reformkurs geglaubt wurde, spiegelt sich im Wahlergebnis wider.
Dieser Reformkurs beinhaltete unter anderem die drei Slogans „Make in India“, „Skill India“ und „Digital India“, die sich auch an ausländische Unternehmen richteten. Aber auch diesen wurde nach anfänglicher Euphorie klar, dass es in Indien, allein aufgrund bürokratischer Hürden, einen langen Atem braucht. Nichtsdestotrotz gilt Modi weiterhin als wirtschaftsfreundlicher Premier, der nicht zuletzt aufgrund seines guten wirtschaftlichen Abschneidens als Regierungschef des Bundesstaates Gujarat hohes Ansehen genießt. Im Bereich der Wirtschaftsreformen konnte Modi zudem mit der Einführung der „Goods and Services Tax“ (GST) punkten, einer einheitlichen Umsatzsteuer für Indien. Im „Doing-Business-Index” der Weltbank, in dem gemessen wird, wie schwer bzw. leicht eine Unternehmensgründung und -führung in einem Land ist, hat sich Indien seit der Regierungsübernahme durch Modi von Rang 140 auf 77 verbessert. Hinzu kommen deutliche Verbesserungen bei der Vergabe von Baugenehmigungen und Krediten, die die Wachstumskräfte Indiens beflügeln konnten. Indiens Wirtschaft ist 2018 um 7,4 Prozent expandiert, was einerseits deutlich mehr als beim Rivalen China darstellt. Andererseits ist diese Zahl mit Vorsicht zu genießen, zumal Indien von einer viel niedrigeren Basis als der ständige Kontrahent China startete.
Ausblick
Narendra Modi hat die Chance, den eingeschlagenen Weg der Reformen die nächsten fünf Jahre weiterzugehen. Auch die Mehrheit im Oberhaus wird sich in der neuen Legislaturperiode zugunsten der BJP ausrichten. Die herbe Niederlage des INC muss dem gesamten Parteivorstand zu denken geben. Eine Neuausrichtung bei Themen und Personal liegt nahe. Gleichzeitig bleibt Indiens Aufholbedarf, u.a. bei Gesundheit, Bildung und Umwelt unübersehbar. Erneuerbare Energien, Krankenversicherung, Zugang zu Bildung und verheerende Luftverschmutzungswerte müssen stärker ins Zentrum der Reformen rücken. Der Brookings-Bericht „India 2024” rät zudem: Es geht vor allem um mehr indische Initiativen und weniger reaktives Verhalten in Südasien, um dem Kontrahenten China zumindest bei „soft connectivity” und „governance” voraus zu sein. Natürliche Partner wie Bangladesch, Sri Lanka oder Nepal werden sich Indien nur zuwenden, wenn es hier liefert.
Diese Wahlen haben aber auch gezeigt, dass es ein starker Anführer wie Narendra Modi ist, der die Wahlen gewinnt. Die Frage ist nun, welche Lehre die BJP aus ihrem letzten Sieg ziehen wird. Innenpolitisch wird die Zeit zeigen, ob die aufgebauschte Kluft zwischen Hindus und Muslimen in der nächsten Legislaturperiode eine Rolle spielen wird und Modi ein Premierminister aller 1,3 Milliarden Inder sein kann.
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