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Länderberichte

Nicht die einzige Krise

Die Türkei in Zeiten von Corona

Corona ist nur eine von vielen Krisen in der Türkei: eine zuvor bereits geschwächte Wirtschaft, die Versorgung der Flüchtlinge und die Auseinandersetzungen in Nordsyrien addieren sich hinzu. Arbeitslosigkeit beunruhigt die Türken jedoch mehr als das Virus. Deutschland bleibt in diesen Zeiten ein wichtiger Partner der Türkei. Schafft die Türkei es, alle Feuer gleichzeitig zu löschen? Eine Analyse.

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Die Türkei kennt Krisen. Kann sie Corona?


Die Zeiten sind bedrückend, aber ein wenig Humor sollte bleiben. Was haben Deutsche und Türken gemeinsam? Döner als de facto Nationalgericht? Sicher. Ein bilaterales Handelsvolumen von 33,4 Milliarden Euro? Auf jeden Fall. Und außerdem: Bricht eine Coronakrise aus, hamstern Türken wie Deutsche wild Toilettenpapier.  Denn das neuartige Virus hat inzwischen auch die 80-Millionen-starke Bevölkerung im Südosten befallen. Nun gilt es, Maßnahmen zu ergreifen. Von einer Ausgangssperre für Senioren über gestrichene internationale Flüge und Zwangsquarantäne für Rückkehrer bis zu importierten Schnelltest-Kits aus China ist da vieles mit dabei. Doch nicht jeder in der Türkei ist damit glücklich. So erlangte vor kurzem eine 65-jährige Bürgerin nahe Izmir an der Ägäis landesweite Berühmtheit dafür, dass sie mit ihrem Gehstock auf den Bürgermeister einschlug, nachdem dieser sie von der Straße nach Hause verweisen wollte. Dabei gibt es durchaus einiges Positives zu berichten darüber, wie die Türkei hinsichtlich Covid-19 aufgestellt ist.

Lange Zeit schien die Türkei vom Coronavirus verschont zu bleiben. Am 26. Februar 2020 kam ein Flugzeug aus dem Iran, dessen Passagiere direkt in ein Krankenhaus in Ankara in Quarantäne geschickt worden sind. Der erste offiziell bestätigte Fall eines infizierten Türken wurde am 6. März in Frankreich gemeldet. Am 11. März folgte dann der erste Fall in der Türkei selbst: ein aus Europa zurückgekehrter türkischer Tourist. Laut türkischem Gesundheitsministerium wurde dieser mit seiner Familie umgehend in Istanbul in Quarantäne gebracht. Das Virus wurde als vorwiegend europäisches Problem betrachtet, doch angesichts der geographischen Nähe zum Iran und des internationalen Flughafens in Istanbul war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch die türkische Republik betroffen sein würde. Seitdem steigen die Fallzahlen schneller als in Italien. Bereits am 30. März stieg die Zahl der bestätigten Fälle nach Angaben des türkischen Gesundheitsministers Fahrettin Koca auf 10.827, die Zahl der Toten auf 168. In Istanbul haben sich bereits 24 Ärzte und Krankenpfleger infiziert. Laut Johns-Hopkins-Universität hat sich die Zahl der Fälle bis zum 25. März innerhalb von sechs Tagen verzehnfacht. Hinzu kommt eine vermutlich hohe Dunkelziffer, auf die  jüngst die türkische Ärztekammer hinwies und gleichzeitig die Regierung zu mehr Transparenz aufrief. Die Bürgerinnen und Bürger müssten über das wahre Ausmaß der Coronavirus informiert werden, um sich  aktiv an der Bekämpfung der Pandemie zu beteiligen.

Im Umgang mit der Krise gibt es aber auch positive Entwicklungen. Die Türkei ist bereits ein äußerst „digitaler Staat“, so dass sich nahezu alle Behördengänge Online durchführen lassen. Selbiges trifft auf Dienstleister im Bereich der Wasser- und Stromversorgung sowie Telefonie zu: mit ein paar Klicks lassen sich fast alle geschäftlichen Angelegenheiten von Zuhause erledigen. Die türkischen Schulen waren gut auf die Krise vorbereitet, da schon seit einiger Zeit ein digitales System erfolgreich implementiert wurde.  „Über das Online Portal Eba (Eğitim Bilişim Ağı, auf Deutsch „Bildungsinformationsnetzwerk“) können Schüler bereits seit Jahren Übungsaufgaben abrufen oder Nachhilfe beantragen. Das System ist erprobt, weil es auch vor der Krise regelmäßig von Schülerinnen und Schülern genutzt worden ist“, schreibt das deutsche Handelsblatt. Die Lernenden erhalten hierfür außerdem vom Staat ein Datenvolumen von 8GB, um ihre Teilnahme zu garantieren. Das Gesundheits- und Bankenwesen zieht ebenfalls mit: ob Untersuchungsergebnisse oder Online-Banking, die Türkinnen und Türken können diese Dienste per Telefon-Banking oder Smartphone abrufen. anders als in Deutschland hast sich die digitale Technik über alle Altersgruppen hinweg etabliert Trotzdem bleibt die türkische Gesellschaft eine gesellige. Sozialkontakt gerade beim Essen ist von größter Bedeutung. Doch in den letzten Jahren ist auch der Lieferservice-Sektor enorm gewachsen und mittlerweile von einer Qualität, die im internationalen Vergleich hervorsticht. Denn nicht nur Restaurants, sondern auch Supermärkte und Trinkwasser-Firmen funktionieren in der Türkei schon seit Langem auf Abruf mittels Smartphone-App – und liefern oftmals innerhalb kürzester Zeit. Ein System, das laut türkischem Statistikamt und Handelsblatt 88,3 Prozent der Türken bereits nutzen und in Zeiten von Social Distancing jetzt gelegen kommt.

Ein herausragendes Beispiel türkischer Innovationskraft und Solidarität im Kampf gegen das Coronavirus  ist der türkische Unternehmer Cinar Topaloglu, der mit der Produktion von Gesichtsschutzvisieren  aus Plastik begonnen hat. Angesichts auch des in türkischen Krankenhäusern herrschenden Mangels an Atemschutzmasken  begann er die Produktion mit Hilfe eines 3D-Druckers. Die Herstellung erfolgt auf der Grundlage eines im Internet frei erhältlichen gemeinnützigen internationalen Projektes. So  entstehen  täglich 300 Schutzschilder gegen Corona und der Unternehmer plant inzwischen, die Produktion auch auf Schutzanzüge auszuweiten.

Eine Ausweitung der Schutzmaßnahmen plant auch der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Am Samstag, den 28. März verkündete er, dass ab sofort alle Zugverbindungen eingestellt, internationale Flüge ausnahmslos suspendiert (zuletzt wurden noch 5 internationale Hauptrouten bedient) und Inlandsflüge drastisch verringert, sowie dass alle türkischen Großstädte sogenannte Pandemieräte einrichten würden. Zuvor hatte der Präsident bereits Medikamente sowie Corona-Schnelltests aus China einführen lassen. Nach anhaltender öffentlicher Kritik soll das Testvolumen auf 10 bis 15.000 täglich erhöht werden. Angestellte im medizinischen Bereich wurden gebeten, sich auf 10-Tage-Schichten vorzubereiten, die türkischen Schulen bleiben bis  zum 30. April geschlossen. Bürgerinnen und Bürger rief der türkische Staatspräsident auf, sich freiwillig in Quarantäne zu begeben und das Haus nur für lebensnotwenige Besorgungen zu verlassen.

Freiwilligkeit war auch bisher das bevorzugte politische Mittel in der Türkei. So bekräftigte Innenminister Süleyman Soylu in einem Interview mit der regierungsnahen Zeitung Hürriyet am 25. März, dass eine Ausgangssperre oder sogar ein Ausnahmezustand nicht notwendig seien, wenn sich jeder an die beschlossenen Regeln hielte. Dieser Ansatz ist verständlich: Ausgangsperren erinnern viele Türken an vergangene Staatsstreiche, Stabilität ist in der Türkei ein hohes Gut. Doch wie lässt sich diese am besten bewahren? Die oppositionelle Zeitung Cumhuriyet hingegen verstand das Gespräch als eine Andeutung, dass eine totale Ausgangssperre bald folgen könne: sollte sich die Lage nicht bessern, würden weitere Maßnahmen ergriffen, so der Minister. Über 40 Ortschaften sind seit dem 30. März bereits unter Quarantäne gestellt worden. Gegen Senioren, die sich nicht an die für sie geltenden Ausgangsbeschränkungen halten, wird bereits mit einer Geldstrafe von bis zu  450€ verhängt. Von einer strikten Befolgung der Regeln kann bisher in der Türkei allerdings nicht die Rede sein. Umfragen der Zeitung Cumhuriyet ergaben, dass 40% aller Türken keine persönlichen Maßnahmen gegen eine Infektion ergreifen. Am Sonntag, den 22. März strömten in Istanbul weiterhin Heerscharen zum üblichen Picknick an den Bosporus, viele aus der Altersgruppe 65+ hätten die Anweisungen willentlich missachtet und die Polizei berichtete von Fällen aus der Quarantäne entflohener Patienten, welche aufgespürt und ins Krankenhaus zurückgebracht werden mussten. Umfragen mögen dieses Verhalten erklären, denn noch vor der Sorge um das Virus steht dort die Sorge um die Arbeitslosigkeit an Platz eins. Corona ist bei Weitem nicht die einzige Krise, der die Türkei nach wie vor ausgesetzt ist.

 

Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise, Syrienkrise

 

Viele Länder befürchten angesichts der Coronakrise und der eingeleiteten Maßnahmen den wirtschaftlichen Rezess. In der Türkei begann die Rezession allerdings schon vor dem Ausbruch der Pandemie. So lag die Inflationsrate schon 2019 bei 15,7 Prozent, die Arbeitslosenquote im vierten Quartal bei 13,2 Prozent. Auch die türkische Lira verlor bereits vor dem Bekanntwerden des ersten Falls in der Türkei weiter an Wert, vermutlich aufgrund der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens und dem daraus resultierenden Streit mit den europäischen Partnern. Der Wechselkurs verschlechterte sich von 6,50 TL für 1 Euro Mitte Februar auf 7,20 TL Ende März. Das am 25. März angekündigte Konjunkturpaket half zwar kurzzeitig und der Wechselkurs verbesserte sich auf 6,90 TL. Erdogan erließ einen Steueraufschub für Millionen von Bürgern in Wirtschaftsbereichen, in denen Höhere-Gewalt-Regelungen gelten. Kredite für kleine und mittlere Unternehmen sollen folgen. Auch 1,9 Millionen Steuerzahler in den Bereichen Landwirtschaft und Einzelhandel sowie Solo-Selbstständige sollen von zeitweiligen Steuererleichterungen profitieren. Außerdem versprach der Präsident 7 Milliarden Lira Soforthilfe für Angestellte im Mindestlohnsektor. Zwei Millionen Geringverdiener-Familien sollen 1000 Lira erhalten. Er selbst spendete sieben Monatsgehälter an Bedürftige.

Auch die Privatwirtschaft zieht mit: Dem Sprecher der Vereinigung Türkischer Exporteure, Ismail Gulle, zufolge planen türkische Unternehmen 10 Millionen Schutzmasken und 100.000 Tonnen Desinfektionsmittel an Mitarbeiter im Gesundheitswesen zu spenden, schrieb die regierungsnahe Zeitung Yeni Safak am 24. März. Auch Parlamentsabgeordnete würden spenden, heißt es und der einzelne Bürger kann per SMS-Spenden beitragen. So seien schon elf Millionen Dollar für die am härtesten Betroffenen wie z.B. Geringverdiener und Arbeitslose zusammengekommen. Im Privatsektor wie auch im öffentlichen Sektor gelten flexible Arbeitszeiten, um den Sozialkontakt trotz Produktivität zu minimieren, während Banken flexiblere Kreditpakete mit längeren Laufzeiten und niedrigen Zinssätzen anbieten. Die Türkei führte Exportkontrollen für Beatmungsgeräte ein. Erkrankt in vielen Ländern nach der Bevölkerung auch die Konjunktur an Corona, muss die Türkei als gesundheitlich vorbelastete unter den Volkswirtschaften nun besonders aufpassen. Deutschland sollte hier die Türkei soweit wie möglich unterstützen.

Ein Teil dieser Vorbelastungen geht auch auf die Flüchtlingskrise zurück. Wie bekannt, beherbergt das Land laut UNO-Flüchtlingskommissar mit über 4 Millionen Menschen die meisten Geflüchteten der Welt, etwa 3,6 Millionen davon aus Syrien. Seit Längerem verlangt die Türkei eine Aufstockung der EU-Gelder für deren Versorgung. Am 28. Februar kündigte Präsident Erdogan das EU-Türkei-Abkommen auf und öffnete  die türkische Grenze zur EU.

Inzwischen fanden wieder wechselseitige Besuche zwischen Ankara und Brüssel statt. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und der türkische Außenminister, Mevlüt Cavusoglu, wurden beauftragt, die bisherige Umsetzung des Abkommens gemeinsam zu evaluieren, um eine gemeinsame Grundlage an Fakten zu schaffen – ein erster Schritt zurück zur Kooperation. Auch die deutsche Kanzlerin kam am 17. März zu Beratungen mit dem türkischen und französischen Staatspräsidenten sowie dem britischen Premier zusammen – am Telefon, nicht am Bosporus. In Zeiten von Corona sind internationale Zusammenarbeit und Koordination zwar deutlich erschwert aber umso weniger kann auf sie verzichtet werden. Denn die Türkei verlangt nicht nur eine Ausweitung des Flüchtlings-Fonds, sondern eine Beschleunigung der EU-Beitrittsgespräche, die Aufhebung der Visumspflicht sowie die Modernisierung der Zollunion.

Deutschland erkennt die enormen Leistungen Ankaras und der türkischen Gesellschaft in der Flüchtlingskrise in hohem Maße an und wird auch hier der Türkei beistehen. Die Stiftung Wissenschaft und Politik riet der EU derweil, ab jetzt einen „umfassenden Ansatz“ in Sachen europäisch-türkischer Migrationspolitik zu verfolgen: neben neuen Finanzmitteln für die Türkei sollten auch Griechenland und Syrien mit „massive[n] Hilfen“ unterstützt sowie eine internationale Schutzzone im Norden des Nachbarstaats errichtet werden – nur so ließen sich die migrations-, außen- und sicherheitspolitischen Interessen der EU effektiv verfolgen und eine Dramatisierung der Flüchtlingskrise angesichts von Covid-19 auch auf Lesbos und in Idlib vermeiden. Denn „alles ist Wechselwirkung“, wie die Bundeskanzlerin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2019 bereits von Humboldt zitierte. Auch die Türkei dürfte für solch einen umfassenden Ansatz zu gewinnen sein, schließlich sah schon Artikel 9 des Flüchtlingsabkommens die gemeinsame Verbesserung der humanitären Bedingungen in Nordsyrien vor.

 

Eine neue Krise löst die alten nicht

 

Am Freitag, den 13. März titelte die oppositionelle Zeitung Sözcü mit den Worten: „Das fehlte noch!“ Gemeint war die Heuschreckenplage, welche sich allmählich von Ostafrika auf den Iran und den Irak ausbreitete und nun gen Türkei steuert. Die Vereinten Nationen seien aufgrund dessen „alarmiert“. Wer dem christlichen Glauben anhängt, kommt dieser Tage nicht umhin an die sieben biblischen Plagen zu denken. Die Türkei ist krisenerfahren, erst vor vier Jahren durchlebte sie in der Nacht des 15. Juli noch einen Putschversuch. Doch die jüngsten Ereignisse beuteln das Land an der südöstlichen Spitze Europas ganz besonders. Trotzdem kündigte der türkische Staatspräsident am 30. März an, Hilfsgüter nach Italien und Spanien zu schicken. Als geopolitischer Partner bleibt Ankara für die Europäische Union derweil in vielerlei Hinsicht unverzichtbar. Durch die Offensive Frühlingsschild und die Öffnung der türkischen Grenzen Richtung EU, erwischte die Türkei die Mitgliedsstaaten wieder in ihrer Untätigkeit – in Nordsyrien, gegenüber der Türkei und auf Lesbos. Trotz der Corona-Krise bleiben die bisherigen Herausforderungen bestehen, mehr noch: sie verschlimmern sich. Der Aufruf der Kanzlerin zu einem besonderen Maß an Solidarität in dieser Zeit wurde auch in Ankara vernommen.

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