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Länderberichte

Wahlen in Israel

Demokratie auf dem Prüfstand

In Israel finden am 1. November 2022 erneut Knesset-Wahlen statt. Es sind die fünften Wahlen zum israelischen Parlament innerhalb von nur drei Jahren. Diese politische Instabilität ist Resultat einer Überlagerung des ohnehin zerklüfteten politischen Systems durch die Frage, wie man sich zum Langzeitpremierminister und derzeitigen Oppositionsführer Benjamin Netanjahu positioniert. „Wie hast Du’s mit Bibi [Netanjahu]?“ bleibt die politische Gretchenfrage in Israel. Übergangspremierminister und gefährlichster Gegner Netanjahus, Yair Lapid, versucht indes den Nimbus des Staatsmännischem, den ihm sein Amt verleiht, für den Wahlkampf zu nutzen. Über die politische Zukunft Israels dürfte die Wahlbeteiligung entscheiden – nicht zuletzt die der arabischen Israelis oder Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Der Wahlkampf wird mit kompromissloser Härte geführt und die politischen Führungsfiguren stehen nicht nur vor der Mammutaufgabe, eine Koalition zu schmieden. Auch die Risse innerhalb der israelischen Gesellschaft treten immer deutlicher zutage und wo Kompromiss und Annäherung geboten wäre, scheinen sich Abgrenzung und Ablehnung durchzusetzen.

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Die vielen Gesichter Israels

Innerhalb von dreieinhalb Jahren werden die gut 6,5 Millionen israelischen Wahlberechtigten zum fünften Mal zur Wahlurne gebeten. Israel entwickelt sich damit zu einer parlamentarischen Demokratie mit höchster „Wahlfrequenz“. Das Experiment der „Regierung des Wandels“, der ambitionierten Acht-Parteien-Koalition, die das komplette politische Spektrum von links nach rechts inklusive einer arabisch-islamischen Partei umfasste, war im Juni gescheitert. Letztlich hatte die Heterogenität des Bündnisses, eine sich mit nur sieben Sitzen in der Minderheit befindliche Regierungspartei und die auf Dauer zu knappe Mehrheit der Regierungskoalition, die stets am seidenen Faden hing, zum Zusammenbruch der Regierung geführt. Es mussten zu viele Kompromisse gemacht werden, und man konnte sich langfristig nicht auf gemeinsame Politikbereiche und Reformprojekte verständigen, die über das Bestreben, eine weitere Amtszeit von Benjamin Netanjahu verhindern zu wollen, hinausgingen. Nicht zuletzt gelang es Oppositionsführer Netanjahu durch geschickte Machtpolitik, gezielt die rechten Kräfte innerhalb der „Regierung des Wandels“ anzugreifen und die damit ohnehin schon knappe Mehrheit zu Fall zu bringen.

Mehrheitsbildungen in Israel gestalten sich u.a. deswegen so schwer, weil die Gesellschaft von zahlreichen Konflikten und sozialen Spaltungen durchzogen ist. Das hängt mit der einzigartigen Geschichte Israels sowie der diversen Einwanderungshistorie des Staates zusammen. Ethnische, religiöse, identitätspolitische Konflikte durchkreuzen und überlagern sich, sodass ein komplexes Geflecht von politischen Interessen zustande kommt, das sich in zahlreichen politischen Parteien ausdrückt. Hinzu kommen unterschiedliche Haltungen im israelisch-palästinensischen Konflikt, der zwar nicht dominantes Thema ist, unterschwellig aber maßgeblich die politische Zuordnung vieler Bürger beeinflusst.

Diese komplexe gesellschaftliche Realität wird seit einiger Zeit von der Frage überlagert, wie man sich zum derzeitigen Oppositionsführer und langjährigen Premierminister Benjamin Netanjahu positioniert. Allein seine Person spaltet das Land in Befürworter und Gegner und treibt politische Kräfte unterschiedlichster Couleur zusammen.

Diese besonderen Umstände schlagen sich in einer politischen Volatilität nieder, die sich in vier Eigenheiten im Gegensatz zu den letzten Wahlen äußert. Erstens spielt die einstige Regierungspartei des ehemaligen Premierminister Naftali Bennett, Jamina, keine politische Rolle mehr. Zweitens haben sich die Fraktionen des ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz (aktuell Verteidigungsminister), Blau-Weiß, und des ehemaligen Likud-Mitglieds Gideon Sa’ar (aktuell Justizminister), Neue Hoffnung, zur Nationalen Einheitspartei zusammengeschlossen. Drittens zerbrach die Vereinte Liste, ein Zusammenschluss dreier arabischer Parteien, der mit der kommunistischen Chadasch und nationalistischen Ta’al jetzt nur noch zwei Parteien angehören. Viertens sind es die ersten Knessetwahlen nach Zusammenbruch einer Regierung, an der mit Ra’am erstmals eine arabische Partei beteiligt war.

Insgesamt treten 40 Parteien zur Wahl an, von denen etwa ein Viertel politisch relevant sind und die Chance haben, die 3,25%-Hürde zu überwinden. Diese Parteien bzw. –Bündnisse sind der rechts-konservative Likud unter Benjamin Netanjahu, die liberale „Zukunftspartei“ (Yesh Atid) von Übergangspremier Lapid, das o.g. neue Mitte-Rechts-Bündnis, die sog. „Nationale Einheitspartei“ unter Führung von Benny Gantz und unter Einbeziehung hochrangiger Militärs. Die Protagonisten dieses neuen Parteibündnisses wollen sich klar von den extrem rechten Parteien abgrenzen und streben eine entscheidende Rolle bei der nächsten Regierungsbildung an. Hinzu kommt die säkular-nationalistische Partei Yisrael Beitenu („Unser Haus Israel“) unter Avigdor Liebermann. Im linken Parteienspektrum sind die Arbeiterpartei Avoda, die grüne Meretz und insgesamt vier arabische Parteien - Ra‘m und Balad sowie das Wahlbündnis Vereinte Liste bestehend aus Chadash und Ta‘al - verortet und im ultrarechten Spektrum, der Religiöse Zionismus unter Bezalel Smotrich, dem sich Itamar Ben-Gvirs extrem-rechte Partei „Otzma Yehudit“ angeschlossen hatte und ferner die beiden religiösen Fraktionen Schas und Vereinigtes Thora Judentum. Während es im extrem-rechten Parteienspektrum unter Einflussnahme von Netanjahu schon häufiger zu Wahlbündnissen kam, ist im linken Parteienspektrum eine zunehmende Zersplitterung und damit Schwächung festzustellen.

 

Dem Feinde die Stirn: Der Wahlkampf in Israel

Nicht zuletzt wegen des Dauerwahlkampfs in Israel verlieren die Kampagnen immer mehr an Inhalt. Der Modus der politischen Auseinandersetzung läuft häufig über Ad-Hominem-Argumente. Inhalte sind nachrangig gegenüber dem persönlichen Angriff auf den politischen Gegner. Gerade die Aufspaltung des Landes in einen Netanjahu- und Anti-Netanjahu-Block begünstigt diesen Trend. Bereits die rechten Teile der Opposition unter Netanjahu hatten die damals noch über eine Mehrheit verfügende Regierung scharf angegriffen. Insbesondere die rechtsextreme Fraktion der Religiösen Zionisten unter Bezalel Smotrich, die mit Itamar Ben-Gvir einen Abgeordneten einschließt, der der neofaschistischen kahanistischen Bewegung nahesteht, diskreditierte häufig die Regierung Bennett-Lapid. Ben-Gvir bezeichnete mehrmals prominente arabische Politiker Israels als „Terroristen“.[1]

Ebenso versucht der Block der Netanjahu-Gegner „mit“ Netanjahu Wahlkampf zu machen – nur dahingehend, dass alles unternommen werden müsse, eine erneute Amtszeit Netanjahus ggf. mit einem Minister Ben-Gvir zu verhindern. Der Vorsitzende von Ra’am, Mansour Abbas, erklärte zudem, Netanjahu sei die Ursache für alle Probleme in der arabischen Gesellschaft Israels – auch für die steigende Kriminalität.[2]

Bei diesem Wahlkampf steht weniger die inhaltliche Wählerüberzeugung als vielmehr die umfassende Wählermobilisierung - insbesondere der zahlreichen jungen Wähler  - im Vordergrund. Daher wird ein Großteil des Wahlkampfes über die Sozialen Medien, wie beispielsweise die Plattform Tik Tok, ausgetragen, bei dem Netanjahus Follower aktuell führend sind. Der Wählermobilisierung wird bei ca. einem Viertel Wechselwähleranteil eine entscheidende Rolle zukommen.[3] Im Countdown vor den Wahlen haben der Likud und das rechtsextreme Bündnis Religiöser Zionismus vereinbart, gemeinsam in ihrer Kampagne die Nichtwähler der letzten Wahl zu mobilisieren.

Der konfrontative Modus der politischen Auseinandersetzung forderte gar den israelischen Staatspräsidenten, Jitzchak Herzog, heraus. Herzog wandte sich in den letzten Wochen mehrfach über die Medien mit Appellen an die Öffentlichkeit: „the System must be stabilized, because the Israelis are tired of these endless election cycles“.[4] An anderer Stelle warnt der Präsident vor der Eskalation politisch motivierter Gewalt, die in den letzten Wochen ebenfalls stark zugenommen hat: „Verbal violence never remains that way. Concerningly, we see insults turning into physical violence, into curled fists, into assaults, into bloodshed. One cannot avoid the disturbing thought: What’s next?” Dabei handelt es sich in erster Linie um einen Appell an die politischen Entscheidungsträger auf allen Seiten des politischen Spektrums, vor allem mit Blick auf die Art und Weise der Wahlkampfführung und die Aggression, die einigen Wahlkampagnen innewohnt.[5]

Ob der Appell des Staatsoberhauptes Früchte trägt, wird sich indes noch zeigen müssen. Der Wahlkampf könnte nun, nachdem die höchsten jüdischen Feiertage zu Ende gegangen sind, an Fahrt gewinnen und möglicherweise auch noch mehr an Aggression aufnehmen.

Außenpolitische Themen spielen traditionell bei Wahlen eine geringe Rolle, doch der israelisch-palästinensischen Konflikt, der in den vorhergehenden Wahlkämpfen nur unterschwellig Thema war, wurde mit Yair Lapids Rede vor der UN Vollversammlung plötzlich zum Wahlkampfthema. Politische Beobachter gehen davon aus, dass Lapid mit diesen Aussagen vor allen Dingen die politische Linke innerhalb Israels ansprechen will. Allerdings ist nicht klar, ob dieser Schachzug gelungen ist. Wenngleich sich Lapid während der Konfrontation zwischen Israel und dem Palestinian Islamic Jihad (PIJ) Anfang August als Staatsmann, der die Sicherheit Israels garantieren kann, präsentieren konnte, birgt das Manöver vor der UN-Vollversammlung auch politische Risiken. Der Zeitpunkt inmitten der anschwellenden Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern kann ihn letztlich auch die Wahlen kosten.[6] Das liegt auch daran, dass Lapid schon immer eine Zweistaatenlösung gefordert hat und er damit glaubwürdiger ist als Netanjahu, bei dem solche Äußerungen eher den Charakter von Lippenbekenntnissen hatten.

Hinzu kommt die jüngst mit US-Vermittlung zwischen Israel und Libanon erzielte „historische“ Einigung über die Seegrenzen; während Yair Lapid den „deal“ als „historische Errungenschaft“ preist, verurteilt Benjamin Netanjahu zu Wahlkampfzwecken die Entwicklungen als „historische Kapitulation gegenüber der Hisbollah.[7]

Letztlich wahlentscheidende Themen werden nicht so sehr wirtschaftspolitische Faktoren als vielmehr innere wie äußere „Sicherheit“ und „leadership“ sein; Personen und nicht Parteiprogramme stehen im Vordergrund der Wahlentscheidung.

 

Partizipation oder Resignation

Eine entscheidende Rolle wird auch bei dieser Wahl die Wahlbeteiligung spielen. Traditionell ist die Wahlbeteiligung unter den Ultraorthodoxen und der Mittelschicht am höchsten.[8] Insofern werden sowohl die arabischen Israelis als auch die sozioökonomisch schlechter gestellten jüdischen Bevölkerungsschichten eine entscheidende Rolle spielen.

Benjamin Netanjahu wird versuchen, Letztere gezielt zu mobilisieren. Bereits in der Vergangenheit hat er im Hinblick auf eine (befürchtete) hohe Wahlbeteiligung der arabischen Israelis Mobilisierungskampagnen geführt. Im Jahr 1996 warb er mit „Netanjahu ist gut für die Juden“ und im Wahlkampf 2015 veröffentlichte er ein Video, in dem er davor warnte, dass „die Araber in Scharen zur Wahl“ gehen würden.[9]

Tatsächlich kann die Wahlbeteiligung der arabischen Israelis dieses Mal ausschlaggebend sein. Wenn diese mehrheitlich an der Wahl teilnehmen, schwächt das den Block um Netanjahu, bei geringer Wahlbeteiligung stärkt es diesen Block. Mit Blick auf die teils hasserfüllten Kampagnen, die die politische Rechte gegen die Beteiligung einer arabischen Partei an der Regierung geführt hat, droht allerdings politische Resignation. Als Zeichen der Unzufriedenheit mit ihrer politischen Situation könnten zahlreiche Israelis arabischer Abstammung die kommenden Knessetwahlen boykottieren.[10] Zudem verfestigen sich in dieser Bevölkerungsgruppe  zunehmend Trends, die Opposition außerhalb parlamentarischer Strukturen zu suchen.[11]

Die aktuell zu erwartende besonders geringe Wahlbeteiligung der arabischen Bevölkerung Israels sowie die aggressive Mobilisierung antidemokratischer und anti-rechtsstaatlicher Kräfte, drohen gegenwärtig dahin zu führen, dass Benjamin Netanjahu es im November tatsächlich schaffen könnte, eine ultra-national/rechts-religiöse Regierung zu bilden, die alle ihre Vorgängerregierungen in den Schatten stellen würde.

 

Unsichere Zukunft

Die politischen Rahmenbedingungen in Israel deuten auf eine zunehmende Instabilität hin. Auch wenn es dem Netanjahu- oder Anti-Netanjahu-Block gelingen sollte, politische Mehrheiten in der Knesset zu finden, deuten alle Umfragen auf ein äußerst knappes Wahlergebnis. Das Experiment der „Regierung des Wandels“ hat gezeigt, dass knappe Mehrheiten nahezu jeden einzelnen Koalitionär zum Vetospieler erheben, der die Regierung erpressbar macht.

Politische Instabilität und Unsicherheit verhindern Lösungsentwürfe für die drängenden Probleme Israels: der ungelöste, auf Konfrontation und Eskalation zusteuernde israelisch-palästinensische Konflikt, die steigenden Lebenshaltungskosten, die Bedrohung Israels durch Iran und seine Stellvertreter, die schwelenden, aber immer wieder aufflammenden Kulturkämpfe innerhalb der jüdischen Mehrheitsgesellschaft oder der Reformstau – um nur einige zu nennen. Nicht ausgeschlossen ist zudem ein erneuter Wahlgang, der notwendig wird, sollte keine parlamentarische Mehrheit zustande kommen. Unklar ist in diesem Zusammenhang auch, wie lange der israelische „Wahlmarathon“ noch anhalten wird. In der israelischen Gesellschaft lassen sich bereits Ermüdungserscheinungen wegen der häufig stattfindenden Wahlen, Parteineugründungen und des personalisierten Politikstils beobachten.

Die gesellschaftlichen Risse Israels, die weitaus größere Dimensionen haben als die politische Gretchenfrage um Netanjahu, müssen gekittet werden. Ansonsten droht der israelischen Gesellschaft, das gemeinsame Fundament für eine funktionierende Demokratie zu verlieren.

Die Wahlen am 1. November sind weit mehr als eine Wahl für oder gegen „Bibi“ Netanjahu, sie sind ein Entscheid für ein populistisches System mit antidemokratischen Tendenzen oder für einen liberaldemokratischen Parlamentarismus. Über die Richtung entscheiden letztlich die Wähler.

 

 

[1] https://www.timesofisrael.com/ben-gvir-party-members-caught-admitting-moderated-extremism-a-pre-election-feint/

[2] Israel's Abbas: Netanyahu Does Not Have Ra'am Support - I24NEWS

[3] https://en.idi.org.il/articles/45839

[4]https://www.i24news.tv/en/news/israel/politics/1663497886-israel-s-president-herzog-pledges-to-promote-unity-government-report

[5] Ebd.

[6] Analysis: Yair Lapid’s Gamble On The World Stage - I24NEWS

[7]https://www.i24news.tv/en/news/israel/politics/1665498751-netanyahu-calls-lebanon-deal-historic-surrender

[8] Israel Election: These Three Key Questions Could Decide It All - Israel Election 2022 - Haaretz.com

[9] Ebd.

[10] https://www.haaretz.com/israel-news/elections/2022-10-03/ty-article-magazine/.highlight/eight-israeli-arabs-explain-why-voter-turnout-could-sink-to-a-new-low/00000183-9a17-de97-a5ff-baff51090000

[11] Ebd.

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Michael Rimmel Tobias Koch

Leiter des Auslandsbüros Israel

michael.rimmel@kas.de +972 (0) 2 567 1830 +972 (0) 2 567 1831

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