Systemkonkurrenz im Südkaukasus
Der Krieg in der Ukraine ist auch Ausdruck eines Systemkonfliktes zwischen Russland und dem Westen, insbesondere der Europäischen Union. In den Ländern des Südkaukasus ist dieser Konflikt besonders spürbar, denn die Region war schon immer, geografisch wie kulturell, ein Punkt der Konfluenz zwischen Europa und Asien. Noch nie war die geografische Verortung so klar mit der Wahl eines Systems verbunden. Der Schriftsteller Lasha Bugadze formuliert es für Georgien: „Heute ist die Frage, europäisch zu sein, eine Frage danach, in was für einer Gesellschaft, in was für einem System wir leben wollen. Die EU will wissen, wo wir stehen und wer wir sind. Diese Frage müssen wir nicht nur Europa beantworten, sondern vor allem für uns.“ Dabei hatte sich Georgien über die letzten zwei Jahrzehnte klar positioniert: Das zentrale Ziel der Präsidentschaft von Micheil Saakaschwilli (2004-2012) war die nachhaltige Abkoppelung des Landes vom russischen Einflussbereich und die konsequente euroatlantische Ausrichtung Georgiens. 2008 beantragte Georgien gemeinsam mit der Ukraine den Beitritt zur NATO, ab 2009 wurde mit der EU über ein Assoziierungsabkommen verhandelt, das 2014 zusammen mit der Moldau und der Ukraine unterzeichnet wurde und bei dessen Umsetzung Georgien lange Zeit die größten Fortschritte machte. Seit 2016 ist die euroatlantische Integration in der georgischen Verfassung verankert. Wie die Ukraine und die Moldau beantragte Georgien im März 2022 den Beitritt zur EU.
Ein russisches Agentengesetz
Wie zugespitzt die Systemkonkurrenz zwischen Russland und der EU in Georgien wahrgenommen wird, zeigen die Ereignisse im März 2023: Die Regierung hatte in den Monaten zuvor zahlreiche Entscheidungen getroffen, die ernsthafte Zweifel aufkommen ließen, ob sie – trotz gegenteiliger Bekundungen – an der EU-Integration des Landes festhalten wolle. Saakaschwilli ist seit Oktober 2021 in Haft, weitere politisch motivierte Gerichtsverfahren folgten in 2022 und die wesentlichen Entscheidungen werden von einem Oligarchen getroffen, der seinen Reichtum in Russland gemacht hat. Dann versuchte die Regierung, ein „Agentengesetz“ durch das Parlament zu peitschen. Es sah vor, dass sich Nichtregierungsorganisationen, Medien und möglicherweise sogar Individuen, die mindestens 20% ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, künftig als „ausländische Einflussagenten“ registrieren müssen. Die EU, der Europarat, zahlreiche Botschaften, sogar die UN erklärten, das Vorhaben laufe den EU-Ambitionen zuwider, es sei Ausdruck sich verstärkender autoritärer Tendenzen und ein großer demokratischer Rückschritt. Der internationale Protest kam auch in der breiten georgischen Gesellschaft an. Zahlreiche Künstler, Wissenschaftler und Sportler schlossen sich der Kritik an, Chwitscha Kwarazchelia, Stürmerstar beim SSC Neapel und gegenwärtig einer der prominentesten Georgier, postete auf Facebook, Georgiens Zukunft sei in Europa. In den sozialen Medien wurde die Initiative der Regierung dann als das „russische Agentengesetz“ diskutiert. Damit wird Bezug genommen auf ein Gesetz, das der frisch für eine dritte Amtszeit gewählte Präsident Putin 2012 in Russland annehmen ließ und das in den Folgejahren die rechtliche Grundlage für eine schrittweise Schließung praktisch aller unabhängigen NGOs im Land bildete. Nach massiven Protesten in der Hauptstadt, die von Slogans wie „No to Russian law“, „No more Russia“, „We are Europe“ bestimmt waren, musste die Regierung das Gesetz zurückziehen. Die europäischen Institutionen hatten das Einbringen des Gesetzes kritisiert, die russische Regierung kritisierte nun seine Rücknahme.
Russen in Tiflis
Das Agentengesetz wurde als direkter russischer Versuch gewertet, Georgien vom europäischen Pfad abzubringen. Aber auch davon abgesehen ist Russlands Krieg gegen die Ukraine etwa auf den Straßen von Tiflis allgegenwärtig. Auf welcher Seite die Georgier stehen, ist nicht zu übersehen. „Ukraine is Georgia is Ukraine“ und „Ruhm für die Ukraine“ steht an Häusern oder auf Billboards. Aber auch „Visa für Russen“ oder „Russki go home“ ist an Wände gesprüht. Die Stadtverwaltung versucht, die Graffitis von Zeit zu Zeit zu entfernen, diese entstehen meist über Nacht wieder neu. Die öffentliche Meinung kontrastiert stark mit dem Umstand, dass nach dem 24. Februar 2022 Zehntausende von Russen nach Georgien geflohen sind und sich jetzt überwiegend in den beiden großen Städten Tiflis und Batumi am Schwarzen Meer aufhalten. Die Zahlen sind ungenau, denn die Regierung weigert sich, die ein- oder ausreisenden Russen etwa mit Registrierungsformularen an der Grenze zu erfassen. Schätzungen zufolge befinden sich gegenwärtig etwa 120.000 russische Exilanten in Georgien, die planen, vorerst im Land zu bleiben. Die kurzfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen der russischen Emigration nach Georgien sind offensichtlich: Boomende Wirtschaft, Tausende neu gegründeter Firmen, starke Währung, hohes Wirtschaftswachstum sowie steigende Miet- und Immobilienpreise. Gleichzeitig reagieren viele Georgier allergisch auf Russisch und vor allem auf Russen, die nicht über den Krieg in der Ukraine sprechen wollen und die sich um Politik nicht kümmern. Im letzten Oktober wollte die umstrittene russische Journalistin Ksenia Sobtschak, Tochter des ehemaligen Bürgermeisters von St. Petersburg und Mentors von Vladimir Putin, eine angesagte Bar in Tiflis betreten. Der Inhaber, Data Lapauri, verweigerte ihr den Zutritt. „Wenn Russen nicht wissen, dass 20% des georgischen Territoriums von Russland okkupiert sind, wenn sie nicht wissen, dass sich die russische Armee in Georgien befindet und russische Panzer 20 km von hier entfernt stehen, dass russische Soldaten, die vorgeben, Friedenstruppen zu sein, sich illegal in Georgien aufhalten und Menschen entführen, wenn sie das nicht wissen, sondern nur hierherkommen, um Chatschapuri zu essen, dann sind sie hier nicht willkommen.“ Das Gespräch, bei dem Sobtschak nur Russisch sprach und Lapauri ihr nur auf Englisch antwortete, ging in kürzester Zeit viral.
Georgien und der mittlere Korridor
Für Europa ist ein demokratisches Georgien auch aus wirtschaftlichen Gründen wichtig: Mit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und den gegen Russland verhängten Sanktionen werden Ausweichrouten für den Frachtverkehr zwischen Ost und West gesucht. Vor allem geht es um die Umleitung des Güterverkehrs China –Europa vom Nördlichen, durch Russland verlaufenden auf den Mittleren Korridor, der durch den Südkaukasus führt. In einer aktuellen Analyse der Jamestown Foundation heißt es „…der Mittlere Korridor ist nicht mehr nur eine alternative Transitroute, er ist eine unabdingbare Notwendigkeit.“ Die Vereinigung Transkaspische Internationale Transportroute prognostiziert, dass sich das Transportvolumen im Jahr 2022 über den Mittleren Korridor im Vergleich zum Vorjahr auf bis zu 3,2 Millionen Tonnen versechsfacht. Zahlreiche internationale Transport- und Logistikunternehmen – darunter Maersk, Nurminen Logistics Services Oy, Nummer oder die chinesischen Unternehmen Juyan und Ruiang (Xi'an) – haben bereits damit begonnen, einen Teil ihre Transporte auf den Mittleren Korridor umzuleiten.
Die Regierung in Tiflis ist unterdessen bestrebt, das Land als wesentliches Teilstück dieses Korridors zu positionieren. Bereits 2017 wurde ein Freihandelsabkommen mit China abgeschlossen, große Infrastrukturprojekte wurden in Angriff genommen, darunter der Bau einer neuen Ost-West-Straßenverbindung durch Georgien, die von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung finanziert wird oder die Modernisierung der Bahnverbindung Baku-Tbilisi-Kars, die Aserbaidschan, Georgien und die Türkei miteinander verbindet. Dabei sind aber immer noch umfangreiche Maßnahmen notwendig, die das Land an europäische Standards und Regularien angleichen. Vor allem müssen politische Verlässlichkeit und demokratische Rahmenbedingungen gegeben sein, damit das Land auch wirtschaftlich von der neuen Konstellation in der Region profitieren kann.
Im Norden an Russland grenzend und damit ähnlich verwundbar wie die Ukraine oder die baltischen Staaten, mit einer Bevölkerung, die unbeirrt nach Europa blickt und einer Regierung, die unübersehbar nach Norden schielt, als ein Schlüsselland für die globalen Lieferketten und letztlich auch als eine alte christliche Kulturnation ist Georgien wichtig für Europa. Baerbocks Besuch unterstreicht dies und ist beides: ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen, die einen europäischen Traum haben und ein klares Signal an die georgische Regierung und an Russland, dass Georgien zu Europa gehören kann, wenn das Land es will.Themen
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Regionalprogramm Politischer Dialog Südkaukasus
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