Programmatische Fragen liegen nicht im Trend. Wenn die Rede aber doch auf sie zu sprechen kommt, werden schnell Lösungen empfohlen, die wahlweise mal pragmatisch, mal technisch und mal wissenschaftlich heißen. Aber auf politische Fragen gibt es immer unterschiedliche Antworten, denn die Sicht auf die Wirklichkeit ist von Wertentscheidungen geprägt. Wir wollten daher wissen, welche Grundentscheidungen liegen den politischen Lösungsvorschlägen z.B. in der Klima-, Migrationsdebatte, aber auch bei Koalitionsentscheidungen auf europäischer Ebene zugrunde. Es wäre gleichwohl ein Irrtum anzunehmen, dass man aus Grundsatzüberlegungen und -überzeugungen nicht auch unterschiedliche Konsequenzen ziehen kann. Aus diesem Grund wollten wir zum Auftakt der Miniserie über die europäische Familie der Christdemokraten uns zunächst ein klares Bild über das einigende
Band machen: Worin besteht ungeachtet der nationalen und politischen Pluralität ihre politische Identität, die sie von anderen politischen Mitbewerbern unterscheidet? Worin besteht das Alleinstellungsmerkmal der in der Europäischen Volkspartei zusammengeschlossen Fraktionsmitglieder und welche Rolle spielt das christlich demokratische Element dabei? In der zweiten und dritten Folge (17.10. und 16.11.) schauen wir uns näher an, dass aus gemeinsamen Grundüberzeugungen auch durchaus unterschiedliche Folgerungen gezogen werden, weil sie auf unterschiedlichen Erfahrungen und Traditionen erwachsen sind.
Welche Grundüberzeugungen werden von den 42 in der EVP-Fraktion zusammengeschlossenen Parteien geteilt, wollten wir wissen? Klaus Welle, langjähriger Organisator von Partei und Fraktion und strategischer Kopf der europäischen Christdemokraten sprach von drei in der EVP zusammenlaufen Modellen der europäischen Christdemokratie nach 1945: Der katholische Einfluss der Italiener, der gewerkschaftliche aus den BeNeLux-Staaten und der auf den Ausgleich und damit auf eine Politik der Mitte zielenden Ansatz der deutschen Christdemokraten. Welle hatte dabei den Interessenausgelich zwischen den Konfessionen, zwischen Kapital und Arbeit (Soziale Marktwirtschaft), Bund und Ländern, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen (Nachhaltigkeit) und gesellschaftlichen Interessen (Pluralismus) im Blick. Die deutschen Christdemokraten besäßen mit diesem Konzept daher eine starke integrierende Kraft zur Überwindung von nationalistischen und identitätspolitischen Spaltungen. Konservativ seien europäische Christdemokraten, weil sie sich den Grundideen Adenauers verpflichtet fühlten: europäische Integration, transatlantische Partnerschaft und Westbindung. Ihr liberales Gen sah Welle in der Bindung an den Rechtsstaat. Daraus ließ sich eine Art Lackmustest für das parlamentarische Zusammenarbeiten mit andern Parteien ableiten: Bündnisfähig sei, wer für die EU, für die Ukraine und für die Rechtsstaatlichkeit sei, zitierte Welle den Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber. Damit war auch die Frage geklärt, wie sich die EVP zu Separatismus, nationalem Egoismus und einer Politik des „Wir zuerst“ stellen würde, wie sie die AfD in Deutschland, die PiS in Polen und der Fidesz in Ungarn politisch vertreten. Bei der Frage, wie sich die EVP zur Partei der italienischen Regierungschefin Meloni stellen sollte, waren sich Welle und Janssen nicht einig, denn Janssen bezweifelte, dass die pro-europäische und pro-ukrainische Haltung Melonis nachhaltig sein und vermutete auch taktische Motive.
Die Zusammenarbeit mit Melonis Fratelli d’Italia rief auch die Frage auf, wie künftig Mehrheiten im Parlament jenseits von Konservativen (ECR) und rechtsextremen Anti-Europäern (I&D) möglich sein sollen. Nicht nur aufgrund der Unterschiede zwischen dem politischen Systems der EU und Deutschlands, zwischen dem des Europäischen Parlaments auf der einen, Bundestag und Bundesrat auf der anderen Seite, sind feste Koalitionen im Brüsseler Parlament eher Ausnahmen. Koalitionen bilden sich in Brüssel entlang von Einzelfragen (jüngstes Bsp. Naturschutzgesetz), so dass auch in Ausnahmen eine Kooperation mit den Konservativen (ECR) praktiziert werde, wie die Sozialdemokraten umgekehrt mit Kommunisten zuweilen gemeinsame Sache machten. Für die EVP könnte die Frage der Zusammenarbeit mit den europäischen Konservativen (ECR) bei der Suche nach einer Stimmenmehrheit zur Besetzung des Amtes eines Kommissionspräsidenten auftauchen. Auf die Frage, welche Parteien die Basis der EVP erweitern könnten fand Welle lobende Worte für Meloni – sie unterscheide sich sichtlich von der polnischen Regierung, setze sich für einen Verteilungsmechanismus ein und spreche mit der Politik in Afrika, verhalte sich also insgesamt sehr konstruktiv, während er die Zusammenarbeit mit den Grünen mangels Verlässlichkeit kritisch betrachtete, da sie sich bei der Wahl von der Leyens 2019 verweigert hätten, obwohl diese ihnen mit dem Green Deal doch entgegengekommen sei.
Einig waren sich Welle und Janssen in der Bilanz der von der Leyen-Kommission. In der Klima- und Ukrainepolitik habe sie die Kommission exzellent gesteuert und für den Zusammenhalt der EU gesorgt. Sie trage auch einen wesentlichen Anteil daran, dass die amerikanisch-europäische Partnerschaft in der politischen Haltung zur Ukraine gestärkt worden sei. Die neue Kommission aber müsse der Wettbewerbsfähigkeit Europas, dem Mittelstand und der Landwirtschaft mehr Aufmerksamkeit widmen und weitere Schritte zu einer Sicherheits- und Verteidigungsunion gehen. Die Rede war von einer europäischer DARPA, jener amerikanischen Behörde, die zukunftsweisende Forschungsprojekte im Bereich Verteidigung fördert.
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