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„Mehr Realismus - weniger Naivität…“

Prof. Michael Wolffsohn über den aktuellen Antisemitismus in Deutschland

Gespräch mit Prof. Dr. Michael Wolffsohn über Antisemitismus in Deutschland.

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Zu Beginn des Gesprächs begrüßte Professor Wolffsohn die kritische Resolution des Deutschen Bundestages vom Mai 2019 gegen die transnationale BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen), die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will. Diese Bewegung solle nach der Resolution nicht finanziell unterstützt werden. Zu bemängeln sei aber die Umsetzung dieses Beschlusses. Im jüngst verabschiedeten Haushalt spüre man von dieser Entscheidung nichts, vielmehr verstoße der Bundestag gegen die eigene Resolution. So widerspräche dem etwa die finanzielle Unterstützung der UNRWA, eines Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen nur für palästinensische Flüchtlinge. Der BDS verlange ein Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge, wobei es heute um rund sieben Millionen Menschen gehe. Was dies für Folgen für Israel hätte, sei vorstellbar. Eine Unterstützung solcher Forderungen sei aus analytischer Sicht inakzeptabel.

Wolffsohn wies Klagen über ein „Klima der Zensur“ in Bezug auf Kritik an Israel ab. Dies sei eine falsche Analyse, die in Deutschland besonders oft vorgebracht werde. Kaum ein Land stehe wie Israel derart im Zentrum vieler Debatten, dabei werde oft übersehen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nicht mehr der zentrale Konflikt im Nahen Osten sei. Inzwischen trennten sich immer mehr arabische und islamische Staaten von dieser Sicht und normalisieren ihre Beziehungen zu Israel. Hauptgegner seien nun vor allem die beiden destabilisierenden Faktoren in der Region, die Islamisten und der Iran.

Die Zunahme physischer und verbaler Gewalt gegen Juden sei der Grund, warum viele – besonders - Frankreich, jedoch in wachsendem Umfang auch Deutschland verlassen. Ein Beispiel für mörderische Gewalt sei etwa der Anschlag in Halle gewesen, als ein Attentäter versuchte, in eine Synagoge einzudringen, um Juden zu töten. Im Alltag machten viele Juden inzwischen die Erfahrung, dass sie  mit einer Kippa oder einem anderen  jüdischen Symbol in bestimmten Stadtteilen nicht sicher sind. Aus Sicht junger Juden stelle sich die Frage: Kannst Du ohne Gefahr für Leib und Leben dauerhaft in Deutschland leben? Dies bedeute, betonte Wolffsohn, zwar keineswegs, dass Institutionen des Staates nicht bereit seien, Juden zu schützen - sie könnten es aber nicht.

Zwar gebe es keinen rasanten Anstieg des Antisemitismus in den Meinungsbildern, jedoch habe die verbale und physische Gewalt in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren zugenommen. Dies gehe zurück auf eine Zunahme von Konflikten, die die Aggressivität im Alltag wachsen lasse. Politische Auseinandersetzungen fänden zunehmend gewalttätig auf der Straße statt, ein Beispiel sei das G-20-Treffen in Hamburg 2017. Er sei dagegen, den Antisemitismus einer Gruppierung , ob von Rechts- und Linksextremisten oder Islamisten, als Hauptgefahr zu gewichten. Der Staat müsse vielmehr alle Taten gleichermaßen verfolgen und bestrafen. Europaweit stünden bei Gewalttaten gegen Juden an erster Stelle Islamisten, gefolgt von Linksextremisten und dann von Rechtsextremisten. Diese Daten erfasse die FRA, die European Union Agency for Fundamental Rights in Wien. Politik und Sicherheitsorgane in Deutschland sollten deshalb nicht nur eine Seite in den Blick nehmen. Allerdings gebe es in Deutschland eine „politisch manipulierte Wahrnehmung“, dass der Antisemitismus zu achtzig Prozent von Rechtsextremen ausgehe bei gleichzeitiger Verharmlosung des Antisemitismus im linken Milieu und unter Muslimen. Was auch auf eine falsche statistische Erfassung rechtsextremer Taten zurückzuführen sei. Es gehe aber nicht um eine Verkleinerung oder Verharmlosung rechtsextremistischer Taten, sondern um die Notwendigkeit einer ergebnisoffenen Verfolgung und Bestrafung nach allen Seiten. Zwar habe sich die Polizeiarbeit bei der Bekämpfung antisemitischer Gewalt insgesamt positiv entwickelt, er stelle jedoch weiterhin eine „gewollte Verharmlosung“ des linken und muslimischen Antisemitismus fest.

Gebildete seien anfälliger für Antisemitismus, so Wolffsohns Urteil mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus. Besonders Hochschullehrer seien „am schnellsten und heftigsten umgefallen“. Wissen und Aufklärung bedeute eben noch nicht, die nötige „Herzensbildung“ als eine wichtige Voraussetzung für aktiven Widerstand zu besitzen. Im Dritten Reich leisteten nicht die Oberschichten oder Gebildeten den Widerstand der Tat. Schlichten Forderungen, mehr in Bildung zu investieren, stehe er dann skeptisch gegenüber, wenn sie mit dem Glauben verbunden seien, dass Bildung den Menschen an sich besser mache. Dabei sei es vor allem klassische Bildung, die zu der nötigen Herzensbildung beitrage. Diese sei nicht durch Seminare oder ritualisiertes Erinnern zu erreichen.

Düster bewertet Wolffsohn die Zukunft. Die Zunahme der Gewalt mache ihn skeptisch. Solange man Juden gebraucht habe, seien sie in Deutschland willkommen gewesen. Etwa im Zuge der Wiedervereinigung 1990, als es darum ging, die Angst vor Deutschland zu dämpfen. Helmut Kohl holte damals rund 200.000 Juden aus der Sowjetunion. Jetzt brauche man sie nicht mehr, was auch auf Zahlenverhältnisse zurückzuführen sei. Politiker müssten nach Mehrheiten streben, da seien 200.000 Juden wenig im Vergleich zu rund fünf Millionen Muslimen. Notwendig orientiere man sich, auch die Medien, stärker auf die größere Gruppe. Anliegen der jüdischen Gemeinschaft träten so in den Hintergrund: „Man will uns nicht weg haben, nein, man hofiert uns auch, wenn es angebracht ist, am 27. Januar erst recht, aber man braucht uns nicht mehr – glaubt man.“ Juden hätten aber eine starke Alternative, die heiße Israel. Ein Land, in dem man sehr gut leben könne. Es sei Wahnsinn, Juden zu vertreiben, wo Deutschland Innovation dringend brauche und Juden besonders gebildete, erfolgreiche und innovative Staatsbürger seien.

Was kann Deutschland tun, um diese Entwicklung zu stoppen? Prof. Wolffsohn fordert, klarer zu denken, weniger Phrasen zu verbreiten oder Ritualen zu folgen. Es gehe nicht darum, Mauern zwischen der jüdischen oder muslimischen Minderheit zu bauen; nötig sei ein klares Denken in Bezug auf Sicherheit. Die bundesdeutsche Gesellschaft sei eine wohltuend pazifistische, was sie so sympathisch mache; dieser Pazifismus bewirkte aber auch einem naiven Umgang mit Fragen der inneren und äußeren Sicherheit. Wer Polizisten als „Schweine“ bezeichne, könne nicht erwarten, dass innere Sicherheit funktioniert. Den Polizisten und Sicherheitsbehörden gebühre Achtung und Würdigung. Die Bundeswehr dürfe nicht nachlässig behandelt werden. Es gehe um eine stärkere Betonung der Idee der wehrhaften Demokratie, die zur Zeit Konrad Adenauers eine wichtige Rolle gespielt habe. Also um mehr Realismus und weniger Naivität.

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