„Dieselben Personen, mit demselben Gedankengut blieben an der Macht“
Oberrabbiner Goldschmidt ist seit 2011 der Vorsitzende der europäischen Rabbinerkonferenz, die über 700 kommunale Rabbiner von Dublin bis Chabarowsk vereint. Er sehe seit dem russischen Angriff eine Zäsur für das jüdische Leben in Russland und beschreibt diskriminierende Verhaltensweisen und offenen Hass im Alltag, die an die Zeit des Stalinismus erinnern und nun erneut hervorbrechen. Da nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie eine historische Aufarbeitung stattgefunden habe und dieselben Menschen mit demselben Gedankengut an der Macht geblieben seien, werde das Leben für Jüdinnen und Juden aktuell immer schwerer. Echte Veränderung im Land könne letztlich nur von innen kommen. Professor Dr. Norbert Lammert betonte diesbezüglich im Rückgriff auf Deutschlands Vergangenheit die Schwierigkeit, aber auch die Notwendigkeit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte: „Demokratie schafft die strukturellen Voraussetzungen für die manchmal schmerzhafte, aber deshalb gerade so notwendige Aufarbeitung.“ Weiter stellte er heraus, dass ohne diese Aufarbeitung Deutschland ein Paria geblieben wäre.
„Sehr viele Widerstandskämpfer in Russland sind Juden“
Auf die Frage von Frau Staroselski, ob es etwas wesenhaft Jüdisches im Kampf gegen totalitäre Strukturen gäbe, antwortete Oberrabbiner Goldschmidt mit der Feststellung, dass er dies nicht genau festmachen könne, aber ihm auffalle, dass sehr viele Widerstandskämpfer in Russland Juden seien. Die wahren Helden, über die viel zu wenig Menschen sprechen würden, seien laut Oberrabbiner Goldschmidt die Oppositionellen in den Gefängnissen von Russland und Belarus. Völlig unabhängig von der Religion der Oppositionellen müsse der Westen mehr von ihnen sprechen und sie energischer unterstützen.
„Religionsfreiheit ist eines der zentralsten Menschenrechte“
Professor Dr. Norbert Lammert ordnete die Frage nach der in der Vergangenheit begangenen Fehler Deutschlands im Umgang mit Russland systematisch ein, indem er für mehr Aufklärung und weniger reflexhafte Verteidigung von Handlungen einzelner Abgeordneter oder Parteien plädierte. Nur so könne aus der Vergangenheit gelernt werden. Darüber hinaus gab er zu bedenken, dass Demokratien im Gegensatz zu totalitären Staaten grundsätzlich unter Rechtfertigungszwang gegenüber der eigenen Bevölkerung ständen. Daher sei zu nicht zu vergessen, dass aktuell ganz sicher von Deutschland nicht genug für die überfallene Ukraine, aber nach wie vor auch beeindruckend viel – und vor kurzer Zeit noch völlig Undenkbares – getan würde. Oberrabbiner Goldschmidt beschrieb auf die Frage nach der Religionsfreiheit in Russland und Europa die paradoxe Situation, dass vor der russischen Invasion der Ukraine, Russland das Land gewesen wäre, in dem Jüdinnen und Juden sich sogar sicherer fühlen konnten als in Europa. In Moskau konnte vor dem 24. Februar 2022, im Gegensatz zu Teilen von Berlin, ein Junge mit Kippa ohne Aufsehen über die Straße laufen. Weiter ordnete er Religionsfreiheit als eines der zentralsten Menschenrechte ein. Durch die Säkularisierung in Europa müsse für das Menschenrecht nun stärker geworben werden. Hinsichtlich der Säkularisierungsthese eröffnete Professor Dr. Norbert Lammert eine erweiterte Perspektive und gab u.a. zu bedenken, dass dies ein eher europäisches Phänomen sei und der Trend zu religiöser Orientierung weltweit über 80 % betrage und sich verstärke. Besonders einig waren sich die Gesprächspartner darin, dass der Schutz von Menschenrechten und dem aufklärerischen Bildungsideal besonders schützenswert seien. Dies gelte besonders für Zeiten, in denen Desinformationskampagnen, Antisemitismus und andere Verschwörungsideologien derart Vorschub leisten, wie in der aktuellen – durch Russland verursachten – Kriegssituation.
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