Die Vergangenheit ist stets präsent.
123 Jahre. So lange war Polen kein eigener Staat. Von 1795 bis 1918 waren Polinnen und Polen offiziell entweder Österreicher, Preußen oder Russen. Die Erinnerung daran ist Polens “Nie wieder!”. Nie wieder abhängig, nie wieder auf andere verlassen, nie wieder nicht sein. Auch der Zweite Weltkrieg ist darum, noch heute, eine lebendige Erinnerung. Denn trotz der Nichtangriffspakte mit der Sowjetunion und Deutschland, trotz des Beistandspaktes mit Frankreich und Großbritannien, wurde Polen überfallen, eingenommen und aufgeteilt – ohne, dass andere Staaten einschritten.
Diese Perspektive prägt sowohl die Politik als auch das polnische Nationalgefühl vieler Bürgerinnen und Bürger sowie die Beziehung zur EU immens. Diese wurde zu einem großen Teil von ehemaligen Kolonialmächten gegründet. Polen hingegen, wie so viele Staaten Ostmitteleuropas, entstand aus dem Zerfall kontinentaler Imperien. Unabhängigkeit und Existenz sind deshalb von fundamental anderer Bedeutung. Patriotismus ist ein viel präsenteres Thema. Obwohl Polen seit 2004 Teil der EU ist, fühlen sich viele Polinnen und Polen immer noch vor allem als Polen. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit, gegen alle Widerstände, erklärt auch den starken Patriotismus aller Parteien. Ob links oder rechts, Nationalstolz ist zentrales Dogma. So erklären sich zum Beispiel auch die vielen Nationalflaggen auf linken Demonstrationen – in Deutschland kaum vorstellbar.
Trotz – aber vielleicht auch wegen – dieser Unterschiede, ist das polnische Verhältnis zu Deutschland mittlerweile größtenteils freundschaftlich. Da Deutschland die Verletzungen der Vergangenheit anerkannt hat, rückt die gemeinsame Zukunft in den Fokus. Doch zu einem vollständigen Abschluss mit den Gräueltaten der Deutschen im Zweiten Weltkrieg ist Polen nicht bereit. Dies kommuniziert die abgewählte PiS-Regierung beispielsweise durch Reparationsforderungen: 1,3 Billionen Euro fordert Polen von Deutschland. „Alle wissen, dass die Summe absurd hoch ist. Aber es geht darum zu zeigen: ‚Wir wollen Anerkennung für unser Leid!‘“, erklärt eine Referentin des Seminars. Denn circa 60% der Opfer des Holocaust stammten aus Polen, so wie 15% aller nicht-jüdischen Opfer des deutschen Regimes. 5,7 Millionen Polinnen und Polen, die Hälfte von ihnen jüdische Bürgerinnen und Bürger, wurden ermordet, Verbrechen wie das „Massaker von Wola“ verübt. Viele Städte, besonders Warschau, lagen nach dem Krieg in Schutt und Asche. Wichtig ist außerdem: Nach dem Krieg fiel Polen der sowjetischen Einflusszone zu – es folgten über 40 Jahre der kommunistischen Diktatur.
Die Gegenwart ist zerrissen.
Heute umfasst Polen ungefähr 300.000 km2. Es grenzt an Deutschland, die Tschechische Republik, die Slowakei, die Ukraine, Belarus, Litauen und Russland. Damit einher geht für Polen eine andere „threat perception“. Für die meisten Polinnen und Polen ist äußere Sicherheit das wichtigste Thema, bedroht wird diese besonders von Russland. Kyjiw ist gerade einmal 800 km von Warschau entfernt, genauso weit wie Hamburg von München. Die Kampfplätze im Krieg Russlands gegen die Ukraine sind also ganz nah. Und deshalb auch die Angst vor einer russischen Invasion, die Solidarität mit der Ukraine und der Frust über das als zu gering wahrgenommene Tempo bei der Hilfe für die Ukraine durch die EU.
Die Sorgen in Polen sind groß: Was passiert, wenn die Ukraine den Krieg verliert? Welche weiteren imperialistischen Pläne wird Putin dann umsetzen? Wird die NATO helfen, wenn es zum Angriff auf Polen kommt? Wer wird Polen verteidigen? All diese Fragen beschäftigen die Polinnen und Polen seit zwei Jahren. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Polen 2023 die höchsten relativen Ausgaben für das Militär (3.9% vom BIP) von allen Ländern der NATO hatte. Außerdem hat Polen die zweitmeisten Ukrainerinnen und Ukrainer (2 Mio.) aufgenommen, sie begegnen uns in Warschau überall. Von vielen westlichen EU-Mitgliedsstaaten fühlt sich Polen mit der russischen Bedrohung im Stich gelassen. Während nämlich das Baltikum und Polen voller Angst nach Osten blicken, beschäftigen sich die Mittelmeeranrainer intensiv mit Themen wie Wirtschaftskrise und Migration über das Mittelmeer. Gleichzeitig stimmt auch: Obwohl Polen Solidarität mit der Bedrohung aus dem Osten fordert, verweigert das Land die Aufnahme Geflüchteter über die Solidaritätsmechanismen der EU. Das mag auch daran liegen, dass sich die Meinung der Polinnen und Polen in vielen Fragen im stark rechts-konservativen Spektrum verorten lässt. Einwanderung von Menschen aus dem EU-Ausland wird kritisch gesehen, genauso wie das Recht auf körperliche Selbstbestimmung von Frauen sowie die Rechte queerer Menschen.
In diesen Fragen – ähnlich wie beim Wahlverhalten – ist ein ausgeprägtes Stadt-Land-Gefälle zu beobachten: Während die ländliche Bevölkerung rechts wählt und progressiven Positionen ablehnend gegenübersteht, gehen in Warschau Zehntausende beim Christopher Street Day, einer Demonstration von und für die LGBTQ-Community, auf die Straße. In den Städten reüssieren progressive Parteien seit Jahren. Eine Ursache für die stark konservativen Meinungen vieler Polinnen und Polen sehen die Referentinnen und Referenten des Seminars in der wichtigen, identitätsstiftenden Rolle der Kirche. Besonders im 19. Jahrhundert, den Jahren der polnischen Nicht-Existenz, war die Kirche für die Erhaltung polnischer Kultur und Identität zentral. Hinzu kommt die Verehrung des ersten polnischen Papstes, Johannes Paul II. Sein Wirken hatte große Bedeutung für das Ende der sozialistischen Diktatur in Polen und damit für die Freiheit und Unabhängigkeit des heutigen Polens.
Diese Freiheit war in den letzten Jahren jedoch immer stärker in Gefahr. Die von 2005 bis 2007 und 2015 bis 2023 regierende PiS ist eine nationalistische, populistische, EU-kritische Partei, die unter anderem bürgerliche Rechte, Pressefreiheit und Gewaltenteilung beschädigte. Beispielsweise hat die PiS-Regierung in den vergangenen zehn Jahren die öffentlich-rechtlichen Medien für ihre Zwecke instrumentalisiert. Journalistinnen und Journalisten wurden ausgetauscht, politischer Druck aufgebaut, die öffentlich-rechtlichen Medien für Propagandazwecke missbraucht. Vergangenes Jahr verloren die PiS und ihre Koalitionspartner ihre Mehrheit im Sejm, dem polnischen Unterhaus. Europaorientierte Beobachter waren erleichtert, denn eine weitere PiS-Regierung hätte eine immense Verschiebung ins Autoritäre bedeutet.
Der Wiederaufbau des verlorenen Vertrauens der Polinnen und Polen in die Medien wird Zeit brauchen. Erst letztes Jahr schaffte es ein Zusammenschluss dreier Parteien die PiS an den Urnen zu schlagen. Donald Tusk, Gesicht der Partei „Bürgerplattform“ und aktueller Ministerpräsident, schaffte es, 54% der Stimmen hinter sich zu vereinen und so mit 248 der 460 Sitze im Sejm eine Regierung zu bilden. Bis 2014 war er bereits Ministerpräsident gewesen und dann Präsident des Europäischen Rates geworden. Einige der Referentinnen und Referenten des Seminars bezeichneten seine Rückkehr, als „Rückkehr, um sein Land zu retten“. Als Vertrauensvorschuss gab die EU nach der Wahl Tusks Gelder in Höhe von 138 Milliarden Euro frei und beendete das Rechtsstaatsverfahren. Hohe Erwartungen wird die neue von Donald Tusk geführte Regierung in den nächsten fünf Jahren erfüllen müssen. Bisher blockiert der PiS-nahe polnische Präsident Andrzej Duda mit seinem Vetorecht jedoch viele Reformvorhaben. Die nächste entscheidende Wahl wird also die Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2025 sein.
Polen und die EU – eine delikate Beziehung.
Von 2017 bis 2019 wuchs Polens Wirtschaft jedes Jahr um über 4%. Nach der Pandemie erholte sie sich schneller als Deutschland. Für 2024 wird Polen ein Wachstum um 2,8% prognostiziert, fast dreimal höher als der EU-Durchschnitt. Dieses Wachstum ist auch durch Polens Mitgliedschaft in der EU möglich. Dass Polen so stark von der EU profitiert, beschrieben die Referentinnen und Referenten des Seminars als zentral für den Verbleib in der Europäischen Union. Eine starke ideologisch-emotionale Bindung gäbe es nämlich nicht. Vielmehr würden besonders der freie Markt, die Bewegungsfreiheit und die Unterstützungsgelder geschätzt. Polen ist der größte Nettoempfänger der EU, über 12 Milliarden Euro erhielt das Land 2022 aus dem EU-Haushalt. Niemand weiß, was passiert, wenn sich dies ändert, etwa wenn die Konkurrenz um EU-Gelder zunimmt, z.B. bei einer Mitgliedschaft der Ukraine.
Insgesamt haben wir Stipendiatinnen und Stipendiaten inhaltlich viel aus dieser Woche gelernt. Gleichzeitig bleiben viele Fragen offen: Innenpolitisch ist das Ringen der rechtsnationalen und liberalen Kräfte noch lange nicht ausgefochten, außenpolitisch hängt vieles ab vom Ausgang des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Und so gibt es gerade wenige Gewissheiten, außer der ungebrochene Wille der Polinnen und Polen, ihr Land selbst in die Zukunft zu führen.
Ein Seminarbericht von: Gloria Timm, Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung und Teilnehmerin des Kompaktseminars „Polen zwischen Moderne und Tradition – die gesellschaftliche Spaltung eines Landes im Herzen Europas“.
Leitung: Dr. Kerim Kudo, Referent der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Bereitgestellt von
Hauptabteilung Begabtenförderung und Kultur
Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung, ihre Bildungsforen und Auslandsbüros bieten jährlich mehrere tausend Veranstaltungen zu wechselnden Themen an. Über ausgewählte Konferenzen, Events, Symposien etc. berichten wir aktuell und exklusiv für Sie unter www.kas.de. Hier finden Sie neben einer inhaltlichen Zusammenfassung auch Zusatzmaterialien wie Bilder, Redemanuskripte, Videos oder Audiomitschnitte.