Länderberichte
Edi Rama, der Führer der bisherigen Oppositionspartei (SP), sah sich als neuer Premierminister und war zutiefst enttäuscht, dass die mit nur vier Abgeordneten in das Parlament eingezogene Partei SMI nicht mit ihm, sondern zusammen mit der DP von Sali Berisha (dem bisherigen Premierminister), eine Regierungskoalition schlossen. Im 140 Abgeordnete zählenden Parlament hatte somit die DP von Sali Berisha, zusammen mit der SMI, unter Führung des Vorsitzenden Ilir Meta, eine knappe Mehrheit von vier Sitzen.
Die Enttäuschung beim Oppositionsführer Edi Rama war natürlich groß, dass er nicht zusammen mit der SMI die Regierung stellen konnte. In einer solchen Konstellation wäre Rama Premierminister geworden. Sein Wahlziel war ja, Premierminister Berisha abzulösen. Von diesem Zeitpunkt an bestritt Rama die Rechtmäßigkeit der durchgeführten Wahlen zum Parlament und sprach davon, dass die Regierung Berisha/Meta unrechtmäßig im Amt sei. Das führte im Jahr 2010 zu einem fast permanenten Boykott des Parlaments, zu Protesten auf der Strasse und zu einem Hungerstreik von Abgeordneten der SP im Zentrum der Hauptstadt Tirana.
Mitte Januar 2011 tauchten Videos auf, die den früheren Wirtschaftsminister Prifti (SMI) im vertraulichen Gespräch mit dem Vorsitzenden der Partei SMI, Ilir Meta, zeigen und belegen sollen, dass über korrupte Praktiken bei der Vergabe von Infrastrukturinvestitionen gesprochen wurde. Meta bestritt die Vorwürfe und bezeichnete die Videos als von seinen Gegnern fabriziert. Bei der Oppositionspartei SP wird dies natürlich anders gesehen und im Parlament spielten sich bei der Diskussion um die Vorwürfe erneut tumultartige Szenen ab.
Meta trat als Minister zurück und gab die parlamentarische Immunität auf, um die Vorwürfe klären zu lassen. Für den Führer der Opposition Edi Rama, war damit ein weiterer Beleg gegeben, die Regierung massiv zu kritisieren. Er sprach fortan davon, dass die Regierung durch Wahlbetrug, also unrechtmäßig im Amt sei und dass die Regierung völlig korrupt sei. Beide Argumente sind bis heute Grundlage seiner Forderung eines Rücktrittes von Berisha und seiner Regierung.
Zwischen den beiden politischen Hauptrivalen (Demokratische Partei, DP und Sozialisten, SP) gibt es seit 20 Jahren, nicht nur Meinungsverschiedenheiten, sondern tiefgründige Abneigung und ritualisierten Streit. Die DP ging vor 20 Jahren aus einer studentischen Protestbewegung gegen die Kommunisten hervor, die SP war die Nachfolgepartei der albanischen Kommunisten. Die parlamentarischen Auseinandersetzungen waren und sind seit rund 20 Jahren geprägt von permanentem Gezänk zwischen DP und SP über ideologische Zuordnungen des Lagers, über Verbindungen zum früheren kommunistischen Regime, über inhaltliche Themen, um die Rechtsmäßigkeit der Wahlen und z.B. um die Besetzung von Richterpositionen. Das Parlament Albaniens funktioniert durch diesen Dauerstreit nur sehr eingeschränkt, ein konstruktiver, politischer Dialog ist bis heute nicht gegeben. Die Politik boykottiert sich durch diesen Dauerstreit selbst und ist in permanente Auseinandersetzungen zur Bekämpfung und Beseitigung des politischen Gegners verstrickt.
Durch die Unruhen in der arabischen Welt fühlte sich Oppositionsführer Edi Rama ermutigt, sich auch in Albanien umstürzlerisch zu betätigen. Gewaltanwendung war nicht ganz neu: Im Parlament Albaniens gab es mehrfach tumultartige Auseinandersetzungen mit enormem Körpereinsatz und im Jahr 2010 gab es lautstarke, aber friedliche Proteste der SP auf den Strassen und einen mehrwöchigen Hungerstreik der oppositionellen Partei. Rama machte immer deutlich, dass er solange kämpfen wolle, bis die in seinen Augen, unrechtmäßig gewählte Regierung Berisha’s, gestürzt sei. Natürlich wollte Rama auch seinen Traum realisieren: Premierminister von Albanien zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt, hielt sich Rama an die demokratischen Spielregeln, zumindest mit Bezug auf Demonstrationen oder Streiks.
Mitte Januar 2011 spitzte Edi Rama die Situation zu, als er im Fernsehen sagte: „Berisha wird meine Forderungen nach einem Rücktritt der Regierung akzeptieren müssen, ansonsten wird Berisha über Leichen gehen“. Er machte seine Drohung war: Die Opposition und insbesondere Edi Rama, sahen den großen Tag des Umsturzes gekommen und die SP forderte ihre Anhänger auf, am Freitag, den 21. Januar 2011 zu einer Großdemonstration in das Zentrum von Tirana zu ziehen. Allerdings sollte das nicht mit den Fahnen und Farben der Oppositionspartei SP geschehen, sondern mit Spruchbändern, die den Rücktritt der Regierung von Berisha und die Machtübergabe fordern sollten.
Neutrale Beobachter schätzen, dass sich 20.000 oder 30.000 Menschen (vor allem Anhänger der SP) im Zentrum von Tirana einfanden. Die Menschenmenge traf sich vor dem Gebäude, in welchem sich die Büros des Premierministers und des Ministerrates befinden und forderte den unmittelbaren Rücktritt Berishas und seiner Regierung. Das Regierungsgebäude war von Polizeikräften umstellt, die den Schutz des Gebäudes garantieren sollten. Schnell kam es zu gezielten und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und der Polizei. Dabei waren eindeutig die Demonstranten diejenigen, welche die Gewalt begonnen hatten. Polizeifahrzeuge wurden angezündet und Polizisten mit Steinen und Knüppeln angegriffen. Das Eingangstor zum Gebäude des Premierministers wurde mit einem Auto gerammt und geöffnet.
Die Polizisten, zum Schutze des Regierungssitzes, waren in den rund drei Stunden dauernden Auseinandersetzungen fast immer in der Defensive und einigen gingen wohl die Nerven durch. Aus einem Fenster des Regierungsgebäudes wurden Schüsse abgegeben. Das Ergebnis des Umsturzversuches war äußerst unerfreulich: Vier Menschen kamen ums Leben. Rund 120 Personen, darunter auch viele Polizisten, wurden verletzt.
Die Strategie der Polizei war auf den Schutz des Sitzes des Premierministers ausgerichtet. Die Protestierenden konnten das Gebäude nicht stürmen, obwohl zum Eindringen in das Gebäude und zum Rammen des Tores, ein Auto benutzt wurde. Nach dem Abbruch der Auseinandersetzungen beruhigte sich die Lage in der Innenstadt Tiranas relativ schnell wieder. Oppositionsführer Edi Rama sprach von den Getöteten als Helden, die sich geopfert haben, um Albanien eine bessere Regierung zu bringen. Berisha bezeichnete die Auseinandersetzungen als Versuch der Opposition, die Regierung durch einen Putsch zu stürzen. Damit waren die Themen für die nächste Runde des Streites zwischen Regierung und Opposition vorgegeben.
Premierminister Berisha war in den darauffolgenden Tagen damit beschäftigt, zu erklären, wie es zu der Gewalt und insbesondere zu den Toten und Verletzten kam. Rama machte es sich sehr einfach und nannte Berisha einen Mörder. Er forderte die internationale Gemeinschaft auf, ihre Beziehungen zum faschistischen Regime in Albanien zu überdenken: „Berisha gehe über Leichen, um die Macht in Händen zu behalten“.
Von Seiten der Opposition wurden immer stärker und lauter ein Rücktritt Berishas gefordert und nationale Neuwahlen vorgeschlagen. Solche Neuwahlen seien die einzige Möglichkeit, eine Diktatur durch Sali Berisha zu verhindern. Berisha bestand darauf, dass die vorgesehenen und mit der Opposition vereinbarten Kommunalwahlen am 08. Mai 2011 durchgeführt werden.
Die europäischen Botschaften und die EU versuchten, die Wogen in Albanien zu glätten und verhandelten mit beiden Kontrahenten, um die Lage zu beruhigen. Der amerikanische Botschafter nahm eindeutig Stellung zu den Geschehnissen: Am 06. Februar 2011 gab der Botschafter der USA, Arvizu, ein für die weitere Diskussion richtungsweisendes Interview: „Die vorgesehenen Gemeindewahlen am 08. Mai 2011 in Albanien sollen wie geplant durchgeführt werden und Parlamentswahlen stehen in Albanien im Jahr 2013 an“. Und er fügte hinzu, dass in Demokratien, die Regierungen durch Wahlen abgelöst werden, nicht durch Proteste.
Eine weitere starke und ungemein wichtige Unterstützung erfuhr die Regierung und insbesondere die albanische Polizei erneut durch den amerikanischen Botschafter wenige Tage später. Der Botschafter traf sich öffentlichkeitswirksam mit dem Generaldirektor der Polizei Albaniens, Hysni Burgaj. Botschafter Arvizu lobte den Polizeichef wegen des defensiven und besonnenen Einsatzes der Polizei während der gewaltsamen Auseinandersetzungen am 21. Januar 2011: „Angesichts der schlechten Ausrüstung der Polizei war es eine große Leistung, den Steinen, Knüppeln und Molotow-Cocktails der Angreifer zu widerstehen und nicht zurückzuschlagen, als die Demonstranten die Polizei provozierten.“
Die DP rief Mitte Februar 2011 zu der lange angekündigten Kundgebung in Tirana auf. Das Motto der Kundgebung war, die Überwindung der Diktatur vor 20 Jahren und der weitere Weg Albaniens nach Europa. Diese Kundgebung war der Wahlkampfauftakt von Regierung und Regierungspartei für die Kommunalwahlen im Mai 2011. Schon heute ist zu vermuten, dass der Wahlkampf sich nicht in erster Linie mit den Belangen der Kommunen befasst und auch nicht mit den Sorgen und Nöten der Menschen in den Gemeinden, sondern dass im Dauerstreit zwischen Opposition und Regierung lediglich eine neue Runde eingeläutet wurde.