Sozial angespannte Lage bei steigenden Armutsraten
Trotz der seit einem halben Jahr andauernden gesetzlich verpflichtenden sozialen Isolierung, die noch mindestens bis zum 11. Oktober gelten wird, füllen sich die Straßen in vielen Teilen Argentiniens immer öfter mit Demonstranten. Medizinisches Fachpersonal, Lastkraftwagen- und Busfahrer, Angestellte der Low Cost-Airlines, Gegner der Justizreform, Polizisten, Gewerkschaftsvertreter, Landwirte, Indigene und Vertreter sozialer Organisationen verschafften sich im September an symbolischen Orten Gehör. Zu ihren Forderungen zählen eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, Planungs- und Rechtssicherheit, die Wahrung demokratischer Grundwerte, eine angemessene Vergütung, ein Anrecht auf angestammtes Land sowie eine Aufstockung der staatlichen Sozialleistungen. Die Regierung stellte daher unter anderem einen siebenprozentigen Inflationsausgleich für öffentliche Angestellte, erneute einmalige Bonuszahlungen für Sozialhilfeempfänger, eine Verlängerung des Kündigungsschutzes, die Wiederaufnahme des Flugverkehrs und das anhaltende Einfrieren der Lebensmittelpreise sowie eine bessere Ausrüstung für die Polizei in Aussicht. All diese Maßnahmen sind angesichts der strukturellen Herausforderungen und Folgen der Pandemie jedoch Tropfen auf den heißen Stein: 40,9 Prozent der argentinischen Bevölkerung leben Berechnungen der staatlichen Statistikbehörde INDEC zufolge derzeit unterhalb der Armutsgrenze, die Mittelschicht verringert sich zunehmend. Dies liegt unter anderem im Verlust von mehr als 2,5 Millionen Arbeitsplätzen seit Beginn der Pandemie, vor allem im informellen Sektor, aber auch im Dienstleistungsbereich und Immobiliengewerbe begründet. Angesichts der finanziellen Einbußen kündigten zahlreiche ausländischen Unternehmen bereits ihren Rückzug aus Argentinien an. Neben der brasilianisch-chilenischen Airline Latam reihen sich Medienberichten zufolge nun auch das deutsche Chemieunternehmen BASF, die chilenische Kaufhauskette Falabella und der Dienstleister Glovo ein. Immer mehr argentinische Familien und Berufsanfänger ziehen zudem eine Auswanderung ins Nachbarland Uruguay, nach Europa und in die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) in Betracht. Präsident Alberto Fernández‘ Mahnung im Rahmen einer Krankenhauseinweihung in der Provinz Buenos Aires am 28. September, dass vor allem junge Erwachsene beim Wiederaufbau Argentiniens eine wichtige Rolle spielten, beschwichtigen kaum die Zukunftsängste.
Innenpolitische gesehen vertieften sich die Spannungen zwischen der Nationalregierung (Frente de Todos) und der Regierung der Autonomen Stadt Buenos Aires (PRO). Diese wurden durch eine Budgetkürzung des Länderfinanzausgleichs zulasten der Hauptstadt um mindestens 0,92 Prozentpunkte per Dekret intensiviert. Auch hinsichtlich baldiger Schulöffnungen konnten sich die Stadt- und Nationalregierung auf kein Datum und Protokoll einigen.
Auch in der Provinz Buenos Aires ist die Lage angespannt. Gouverneur Axel Kiciloff (Frente de Todos) gelang es bisher nicht eine friedliche Lösung in Bezug auf die seit dem 20. Juli illegal besetzten Grundstücke in der Gemeinde Guernica herbeizurufen. Er hatte eine Umsiedlung, die Auszahlung von Sozialleistungen sowie den Einzug in neue Sozialbauten innerhalb der nächsten drei Jahre in Aussicht gestellt. Lediglich 30 Prozent der rund zweitausend bedürftigen und obdachlosen Familien gingen hierauf ein. Derzeit besetzen sie mehr als 100 Hektar Privateigentum in provisorischen Unterkünften aus Plastikplanen und Wellblech, ohne jeglichen Zugang zur öffentlichen Infrastruktur.
Den sozialen Organisationen, die sich als Vermittler zwischen den Obdachlosen und der Regierung fungieren, wird eine Politisierung des Konflikts vorgeworfen. Sie riefen vermehrt zu Protesten auf und fordern eine zehntprozentige Enteignung der Privatgrundstücke. Von einer Räumung, die gerichtlich bis zum 23. September angeordnet worden war, musste die Polizei aufgrund mangelnder Kapazitäten absehen. Inzwischen hat der zuständige Richter einen Aufschub derselben auf den 15. Oktober gestattet. Bis dahin soll eine Einigung zwischen den Konfliktparteien herbeigeführt werden.
Hinter den Landbesetzungen in Argentinien stecken häufig kriminelle Banden, die gefälschte Eigentumsrechte unrechtmäßig aufgeteilter Privatgrundstücke an Obdachlose und Bedürftige verkaufen. Letztere sind oft Opfer dieses millionenschweren illegalen Geschäfts.
Schwindende Zentralbankreserven führen zu weiteren Devisenrestriktionen
Die sich verringernden US-Dollar Reserven der argentinischen Zentralbank beunruhigen die amtierende Regierung zunehmend. Aufgrund des Einbruchs der Investment- und Handelsgeschäfte sowie der panischen Käufe und Abhebungen der argentinischen Sparer, die wegen der historischen Abwertung der Landeswährung kaum in den argentinischen Pesos vertrauen, verringern sich die staatlichen Rücklagen zunehmend. Am 15. September gab die Behörde daher eine Verschärfung der Zugangsbeschränkungen und Besteuerung der Devisengeschäfte bekannt. Seither können Sozialhilfe- und Kurzeitarbeitergeldempfänger (sowohl Arbeitnehmer, als auch Arbeitgeber), Kreditnehmer der Corona-Sonderkredite, informell Beschäftigte und hochrangige Beamte nicht einmal die einst monatlich freizugänglichen 200 US-Dollar erwerben. Alldiejenigen, die noch Zugang zum Devisenmarkt haben, müssen zusätzlich zu den 30 Prozent Solidaritätssteuer weitere 35 Prozent abführen, die mit der Einkommenssteuererklärung verrechnet werden können. Durch diese Maßnahmen soll die Nachfrage nach den US-Dollar sowie die Wechselkursspekulationen eingedämmt werden. Ferner können Handelsgeschäfte nun auch elektronisch in chinesischen Yuan abgewickelt werden. Zwischen Argentinien und China besteht ein 130 Milliarden Yuan schweres SWAP-Abkommen (rund 18 Milliarden US-Dollar).
Weiterhin ambivalente außenpolitische Positionierung Argentiniens
Am Dienstag, den 22. September hielt Präsident Alberto Fernández anlässlich der Generalversammlung der Vereinten Nationen seine erste Rede als argentinisches Staatsoberhaupt vor den Vertretern der Mitgliedsländer. In seiner Videobotschaft hob er die Bedeutung der multilateralen und solidarischen Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Folgen der Pandemie und des Klimawandels hervor. Weiterhin ging er auf die Notwendigkeit der Armutsreduzierung, vor allem in den Entwicklungs- und Schwellenländern ein. Hierfür seien der Technologietransfer und die Entwicklungshilfe der Industrieländer unabdingbar, ebenso wie die Anpassung der multilateralen Organismen an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Er hob außerdem die Errungenschaften Argentiniens im Bereich Geschlechtergleichstellung und Bemühungen des Landes im Bereich Erinnerungskultur hervor. Abschließend unterstrich er die Hoheitsansprüche auf die Malwinen/Falklandinseln.
Am 29. September führte Präsident Fernández zudem ein Telefonat mit dem Präsidenten Xi Jinping der Volksrepublik China, indem die beiden Staatsoberhäupter den Ausbau der argentinisch-chinesischen Beziehungen verständigten. China gehört zu den wichtigsten Investoren in Argentinien und ist nach Brasilien der zweiwichtigste Handelspartner: 10,8 Prozent der argentinischen Rohstoffexporte und Agrarerzeugnisse wurden im Laufe dieses Jahres nach China ausgeführt und 19,2 Prozent chinesische Waren importiert. Präsident Xi Jinping bat unter anderem um Argentiniens Unterstützung bei der Einbindung der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) und des südamerikanischen Wirtschaftsblocks MERCOSUR in die One Road, One Belt-Initiative. Präsident Fernández sicherte weiterhin einen baldmöglichen Staatsbesuch zu.
Nicht nur der Ausbau der diplomatischen und Wirtschaftsbeziehungen Argentiniens zu China, sondern auch die Enthaltung Argentiniens bei der Wahl des Vorsitzenden der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) sowie die unglücklichen Äußerungen des argentinischen Botschafters Carlos Raimundi vor den Vertretern der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen des Maduro-Regimes in Venezuela trübten das Verhältnis zu den USA. Botschafter Raimundi hatte den von den Vereinten Nationen erarbeiten Bericht über die aktuelle Lage in Venezuela als „parteiisch“ und „Einmischung in innere Angelegenheiten“ bezeichnet. Auf Anweisung von Präsident Fernández revidierte er seine Aussagen inzwischen. Ferner glättete Außenminister Felipe Solá bei einem Besuch der US-amerikanischen Botschaft in Buenos Aires die Wogen. Im Gespräch mit Botschafter Edward Prado verständigten sich die beiden Diplomaten auf eine enge Zusammenarbeit im Bereich Bildung, Wissenschaft und Gesundheit. Ferner sicherte Botschafter Prado Minister Solá die Unterstützung bei den Verhandlungen der Auslandsschulden mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) zu. Am 6. Oktober wird eine Beobachtermission Argentinien zur Einschätzung der aktuellen Lage besuchen. Die gegenwärtigen Wechselkursbeschränkungen kritisierte der ebenfalls anwesende Staatssekretär für westliche Angelegenheiten Kevin O‘Reilly hingegen scharf. Sie beeinträchtigten das Geschäftsklima negativ. Darüber hinaus bekräftigte er sein Unwohlsein hinsichtlich der sich vertiefenden chinesisch-argentinischen Beziehungen.
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Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Argentinien möchte allen Interessierten einen besseren Zugang zu den politischen Ereignissen des Landes ermöglichen. Dafür veröffentlichen wir monatlich ein kurzes Briefing mit den wichtigsten Nachrichten aus dem Land.
Susanne Käss
Leiterin des Auslandsbüros Argentinien / Leiterin des Auslandsbüros Brasilien (kommissarisch)