Corona-Spezial
Spannungen zwischen Regierungen der Stadt und Provinz Buenos Aires
Sie war zu erwarten und scheint die argentinische Führungselite dennoch überrascht zu haben, die zweite Sars-Cov-2-Infektionswelle. Im Gegensatz zum Vorjahr herrschte daher auch keine Einigkeit beim Krisenmanagement. Viel mehr wurden ad hoc-Entscheidungen getroffen, über deren Rechtmäßigkeit und Effektivität sich die Geister schieden. Wie im März 2020 ist auch dieses Mal der Ballungsraum Buenos Aires das Epizentrum des Infektionsgeschehens und viele Anwohner haben Angst vor einem déjà vu. Während Axel Kiciloff (Frente de Todos), Gouverneur der bevölkerungsreichsten Provinz Argentiniens, angesichts der bis zu 11,7 Tausend Neuinfektionen pro Tag in Buenos Aires einen harten und bezirksübergreifenden Lockdown wie im Vorjahr forderte, machte sich der regierende Bürgermeister Horacio Rodríguez Larreta (PRO) für punktuelle Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der Autonomen Stadt Buenos Aires, in der drei Millionen Bürger leben, stark. Schulschließungen, wie sie die Nationalregierung ab dem 19. April beschloss, sollten hiervon ausgeklammert werden. Rodríguez Larretas Standfestigkeit lag, neben seiner persönlichen Überzeugung davon, dass Bildung das beste Instrument zur Entwicklungsförderung und Armutsbekämpfung ist, nicht zuletzt im Rückhalt der zunehmend organsierteren Zivilgesellschaft begründet. Deren Anhänger fordern mehr Planungssicherheit im Alltag und sinnvolle, nachvollziehbare Schutzmaßnahmen, die auch die Besonderheiten der verschiedenen Sektoren berücksichtigen. Die Stadtregierung stützte die bisher verabschiedeten Einschränkungen daher vor allem auf eigens erhobenen Daten und Erkenntnisse internationaler, wissenschaftlicher Arbeiten. In der Provinz Buenos Aires hingegen gab es keinen politischen Konsens über die Entscheidungsgrundlagen der eingeleiteten Maßnahmen. Gouverneur Kiciloff stützt sich vor allem auf ihm ideologisch nahestehende Politiker und machte die Oppositionsregierung der Stadt Buenos Aires, in der sich täglich mehr als sechs Millionen Pendler und Anwohner fortbewegen, für die angespannte Lage in ihrem Umkreis verantwortlich: Bürgermeister Rodríguez Larreta habe die Freizügigkeit zugunsten wirtschaftlicher Interessen nicht weit genug eingeschränkt und darüber hinaus die Einhaltung der aktuellen Bestimmungen nicht genug kontrolliert. Auch das Öffnen der Schulen nach den Sommerferien sowie die Freigabe der Betten der Intensivstationen für planmäßige Operationen sei ein Fehler gewesen. Infolgedessen habe die Provinz Covid-19-Patienten trotz Sauerstoff- und Beatmungsgerätemangel sowie Bettenknappheit aufnehmen müssen. Einige Gemeinden müssten sogar das Aufbauen von Lazaretts in Betracht ziehen. Der linkspopulistische Amtsinhaber geht hierbei allerdings nicht auf die unzureichenden Tests, unverlässliche Datenlage und die Nichteinhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln in vielen Teilen der Provinz ein, die eine schnelle Ausbreitung des Coronavirus‘ ermöglichen. Auch die mangelnde strategische Planung verschiedener Szenarien und die versäumte Aufrüstung des Gesundheitssystems für eine zweite Infektionswelle wird hierbei verschwiegen. Diese war aufgrund der Erfahrungswerte der nördlichen Hälfte des Globus, aber auch angesichts der Feiertage und sinkenden Temperaturen absehbar. Viele Bewohner des Großraums Buenos Aires, die in der Hauptstadt arbeiten, lassen sich inzwischen dort testen, wenn sie Covid-kompatible Symptome aufweisen und erscheinen folglich gar nicht in der Statistik der Provinz. Gegenwind bekommt Gouverneur Kiciloff inzwischen nicht nur von der Opposition, die die Zunahme der Neuinfektionen mit der Vernachlässigung der Sicherheitsprotokolle in privaten Haushalten in Verbindung bringt, sondern angesichts der Schulschließungen vor allem auch von erzürnten Eltern, die nach einem Jahr Homeschooling und den nachweislich geringen Infektionsraten in den Bildungseinrichtungen ihren Unmut bekunden, einerseits durch friedliche Proteste, andererseits aber auch vor Gericht. Der Präsenzunterricht ist nicht nur für die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und somit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig, sondern vor allem auch, weil er den Alltag der Schüler strukturiert, deren sozialen und intellektuellen Fähigkeiten ausbaut und so die psychologische Belastung der Pandemie, verursacht durch häusliche Gewalt, Kinderarbeit, Existenzangst, Stress oder Einsamkeit, abmindert. Weiterhin ist mehr als die Hälfte der Schüler auf die Essensausgaben in den Bildungseinrichtungen angewiesen. Sind die Schulen geschlossen, dann sind vor allem die Kinder nichtregistrierter Arbeitnehmer und Selbstständiger auf die Armeinspeisungen angewiesen, da ihre Eltern ohne Betreuungsmöglichkeiten ihrer Tätigkeit nicht nachgehen können und folglich keine Vergütung erhalten. Oft müssen die Kinder auch mitarbeiten, wenn sie zuhause sind, und verlieren so jeglichen Anschluss zum Schulsystem. Häufig brechen sie ihre Schullaufbahn dann ganz ab. Aus diesen Gründen soll der Schulbetrieb angesichts der erfolgreich implementierten Hygienevorschriften nicht mehr unterbrochen werden.
Präsident Alberto Fernández‘ Glaubwürdigkeits- und Rückhaltsverlust
Die zunehmend widersprüchlichen, ambivalenten und polarisierenden Aussagen von Präsident Alberto Fernández (Frente de Todos) bei seinen öffentlichen Ansprachen in verschiedenen Teilen des Landes kosteten ihn privaten Meinungsforschungsinstituten zufolge bereits mehr als 40 Prozent seiner Beliebtheit und Wählergunst. Nicht zuletzt im Rahmen der Bildungsdebatte verstrickte er sich in polarisierenden Widersprüchen. So hatten unmittelbar vor der Bekanntgabe der Ausgangssperren und Schulschließungen in Hochinzidenzgebieten vom 16. April sowohl Gesundheitsministerin Carla Vizzotti, als auch Bildungsminister Nicolás Trotta Homeschooling eigentlich von den bevorstehenden Einschränkungen ausgeschlossen. Nach Fernández‘ Alleingang am Abend desselben Tages mussten sie ihre Aussagen jedoch revidieren. Vor allem die moderaten Wähler sind von der Wankelmütigkeit und Unberechenbarkeit des argentinischen Staatsoberhauptes enttäuscht. Sie hatten am Wahltag auf Fernández‘ Dialogbereitschaft und ernsthaften Willen zur Konsensfindung gesetzt. Stattdessen schlägt dieser immer häufiger linkspopulistische, aggressive und teilweise auch beleidigende Töne gegenüber der Opposition und Medienvertretern an. Daher wird ihm immer öfter Charakterschwäche, Nähe zum Linkspopulismus von Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner und Realitätsverlust nachgesagt. Mit seinen improvisierten und emotionsgeladenen Reden und unbedachten Äußerungen zog er nicht zuletzt die Wut der Eltern und des Gesundheitspersonals auf sich. Der politische Konflikt zwischen der Regierung und Opposition eskalierte auch insofern, als dass Bürgermeister Rodríguez Larreta unmittelbar nach der präsidentiellen Bekanntgabe der zeitweisen Schulschließungen Mitte April Klage beim Obersten Gerichtshof einreichte. Bildungspolitik ist in Argentinien nämlich seit der Verfassungsreform 1994 Angelegenheit der autonomen Städte und Provinzen. Eine entsprechende Urteilssprechung erfolgte zwar nicht vor Ablaufen des Dekrets, fiel Anfang Mai jedoch unter Vorbehalt zugunsten der Stadt Buenos Aires aus. Um die politischen Wogen zu glätten, zog Bürgermeister und potentieller Präsidentschaftskandidat der Opposition Rodríguez Larreta nun gestaffeltes Homeschooling für Sekundarschüler in Betracht.
Neue Maßnahmen trotz Haushaltsloch wegen stockender Impfkampagne erforderlich
In seiner ungewohnt ausgewogenen und sachlichen Ansprache vom 27. April kündigte Präsident Alberto Fernández schließlich die Verlängerung der Mitte des Monats erlassenen Ausgangssperren und Einschränkung des öffentlichen Lebens bis zum 21. Mai an. Für Einwohner risikobehafteter Distrikte bedeutet dies Homeoffice, Homeschooling, eingeschränkte Öffnungszeiten, Stornierung geplanter Veranstaltungen, Reisen und Bauarbeiten sowie eine genehmigungspflichtige Nutzung des Personennahverkehrs. Infolge der zahlreichen Proteste der Zivilgesellschaft stockte die Regierung die sozialen und wirtschaftlichen Hilfsleistungen zur Minderung der sozioökonomischen Folgen des Lockdowns um drei Milliarden argentinischen Pesos (ungefähr 26 Millionen Euro) auf. Gleichzeitig solle das Gesundheitssystem weiter aufgerüstet werden. Die Einschränkung der Freizügigkeit sei erforderlich, um einer noch schnelleren Ausbreitung des Virus‘ und somit einem Kollaps des Versorgungssystems vorzukommen. Nichtsdestotrotz ist auch das gegenwärtige Haushaltsdefizit in der Höhe von sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts besorgniserregend. Die kontinuierliche Notenausgabe der Zentralbank (bisher 3,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) gleicht diese kaum aus. Argentinien kann aufgrund seines hohen Länderrisikos (mehr als 1.500 Punkte), der unabgeschlossenen Umstrukturierung seiner bereits aufgenommenen Auslandsschulden und der damit einhergehenden mangelnden Kreditwürdigkeit im internationalen Finanzmarkt derzeit kaum neue Auslandsschulden aufnehmen, um seinen Haushalt zu sanieren. Das Wirtschafts- und Produktionsministerium versuchen daher die Folgen der steigenden Inflation durch Preiskontrollen auszubremsen. Dies gelingt jedoch nur teilweise und ist langfristig nicht haltbar. Die Konsequenzen tragen dabei vor allem die einkommensarmen Haushalte sowie die untere Mittelschicht, die nach und nach ganz in die Unterschicht abrutscht.
In Anbetracht der schleppenden Impfkampagne scheint an den neuen Einschränkungen kein Weg vorbeizuführen. Probleme beim Abfüllen in Mexiko des in Argentinien produzierten Impfstoffs von AstraZeneca, der Exportstopp der indischen Produktion von AstraZeneca (Covishield) aus Indien aufgrund der dortigen Gesundheitslage, unerfüllte Lieferverträge des russischen Labors Gamaleya - Hersteller des Vakzins Sputnik V -, sowie die geringfügige Beteiligung Argentiniens an der Covax-Inititative der Weltgesundheitsorganisation führten hierzu. Auch das Ausbleiben der BioN-Tech-Pfizer-Lieferung 2020 aufgrund ungeklärter Haftungsfragen verschlechtert die gegenwärtige Situation. Ebenso trugen die Bemühungen der einzelnen Provinzen, Kaufverträge mit ausländischen Labors zu unterzeichnen, bisher nicht die erhofften Früchte. Daher setzt das argentinische Labor Richmond nun auf die lokale Produktion von Sputnik V. Ein erster Batch befindet sich momentan zur Qualitätssicherung in Russland. Sollten die Standards erfüllt werden, könnte im Juni die Massenproduktion aufgenommen werden. Auch eine lokale Herstellung des chinesischen Impfstoffs Sinopharm ist im Gespräch. Weiterhin wird der Impfstoff des Tübinger Biotechunternehmens CureVac momentan im Ballungsraum Buenos Aires klinisch untersucht und könnte nach erfolgreichem Abschluss der Testphasen unter Umständen erworben werden. Wegen all dieser Herausforderungen konnte die argentinische Regierung bis Ende April lediglich 2,2 Prozent der Bevölkerung vollimmunisieren, 15,5 Prozent erhielten eine erste Impfdosis.
Bisheriger Verlauf der Pandemie
Im Jahresrückblick infizierten sich Daten des nationalen Gesundheitsministeriums zufolge bisher trotz des strengen Lockdowns 2020 über drei Millionen Personen mit Covid-19 in Argentinien. Mehr als 65 Tausend Personen erlagen den Folgen der Krankheit. Mit bis zu 503 Neuinfektionen pro Millionen Einwohner befand sich Argentinien im April im internationalen Vergleich auf dem sechsten Platz, noch vor Indien und Brasilien. Weiterhin war eine stärkere Auslastung des Gesundheitssystems zu beobachten, verursacht unter anderem durch schwerwiegendere Krankheitsverläufe der unter 60-Jährigen. 60 Prozent der nun positiv Getesteten haben sich mit der britischen oder brasilianischen Virusvariante infiziert, die sich deutlich schneller ausbreiten und aggressiver sind, als der ursprüngliche Virus. Gemessen an der Infektionszahl pro hunderttausend Einwohner in den vergangenen vierzehn Tagen ist die Ansteckungsgefahr in der Mehrheit der argentinischen Provinzen hoch.
Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Argentinien möchte allen Interessierten einen besseren Zugang zu den politischen Ereignissen des Landes ermöglichen. Dafür veröffentlichen wir monatlich ein kurzes Briefing mit den wichtigsten Nachrichten aus dem Land.
Susanne Käss
Leiterin des Auslandsbüros Argentinien / Leiterin des Auslandsbüros Brasilien (kommissarisch)