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Länderberichte

Andauernder Lockdown verschärft sozioökonomische und politische Krise Argentiniens

Mehr als 150 Tage soziale Isolierung und über 11.000 Corona-Neuinfektionen pro Tag

Trotz der seit März andauernden strikten Ausgangsbeschränkungen in vielen Teilen Argentiniens erfasste das nationale Gesundheitsministerium in den vergangenen Tagen Rekordwerte von bis zu zwölftausend COVID-19-Neuinfizierten pro Tag. Angesichts dieses Panoramas stellen viele argentinische Bürger die Sinnhaftigkeit der verpflichtenden sozialen Isolierung immer mehr infrage. Auch aufgrund der steigenden Kriminalität und der sich durch den Lockdown verschärfenden Armut, litt die Popularität des Staatspräsidenten Alberto Fernández (Frente de Todos) erheblich. Weiterhin hat sich die Gesellschaft hinsichtlich der drohenden Verstaatlichung von Unternehmen, der teuren Justizreform inmitten der Pandemie, des Eingriffs der Regierung in die Tarifstruktur der audiovisuellen Medien und des Internetdienstes sowie der Wirtschaftsrezession polarisiert.

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Präsident Fernández, der von vielen Wählern als Vertreter des politischen Zentrums gesehen wurde, und von dem sich viele Argentinier versprochen hatten, dass er sich gegenüber den populistischen Bewegungen der Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner zu behaupten wüsste, scheint sich immer mehr dem Willen des linkspopulistischen Flügels seiner Regierungsallianz zu beugen. Dies steht im Gegensatz zum angeblichen Leitmotiv seiner Regierung „Argentina Unida“ (geeintes Argentinien). Auch seine Angstkampagne zur Vorbeugung von Neuinfektionen spaltet die politischen Lager immer mehr. Dies wird unter anderem in den Interviews, Debatten im Parlament sowie durch die politische Schikane im Rahmen der regelmäßigen stattfindenden Pressekonferenzen mit dem Bürgermeister der Stadt Buenos Aires der Oppositionspartei Propuesta Republicana (PRO), Horacio Rodríguez Larreta, und dem regierungsnahen Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kicillof, zur Verlängerung der verpflichtenden sozialen Isolierung deutlich. Die Tatsache, dass Argentinien gemeinsam mit Mexiko den sogenannten „Oxford-Impfstoff“ AZD1222 zur Bekämpfung des Coronavirus produzieren wird und die Regierung durch Verhandlungen mit den Gläubigern letztendlich eine Staatspleite abwenden konnte, trugen kaum zur Aufheiterung der Stimmung bei. Stattdessen fanden in den vergangenen Monaten massive Proteste gegen die per präsidentiellem Dekret eingeleitete Justizreform, die Verstaatlichung des Agrarunternehmens Vicentin sowie gegen die Verbreitung der Angst vor dem Coronavirus, die die Regierung vorantreibt, statt. Das präsidentielle Dekret zum Verbot sozialer Kontakte insbesondere mit Angehörigen der Kernfamilien, die nicht im gleichen Haushalt leben, schürte die Unzufriedenheit der Bevölkerung weiter.
 

Wirtschaftliche Maßnahmen und vorläufige Abwendung der Staatspleite

Um die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns abzuschwächen und die Gemüter zu besänftigen, hatte Präsident Fernández seit Beginn der Pandemie mehrmals Bonuszahlungen an registrierte bedürftige Familien, Gesundheits- und Sicherheitskräfte sowie staatliche Hilfsleistungen für Haushaltshilfen, Unternehmen und für informell Beschäftigte angekündigt. Zudem bestehen die Nullzinskreditlinien für Unternehmer und Selbstständige weiter. Auch Wohnungsräumungen aufgrund des Zahlungsausfalls der Mieten, das Abstellen der öffentlichen Dienstleistungen (Wasser, Gas, Strom, Personennahverkehr und neuerdings auch Internet, Fernsehen und Telekommunikation), die Inflationsanpassungen der Hypotheken „UVA“ sowie Entlassungen sind weiterhin untersagt. Darüber hinaus dürfen keine Strafzinsen bei Zahlungsverzögerungen erhoben werden. Für Lebensmittel, Hygieneartikel und Reinigungsmittel gelten weiter die gesetzlich beschlossenen Maximalpreise.

Der öffentliche Personennahverkehr sowie der Fernverkehr ist weiterhin systemrelevanten Berufsgruppen vorbehalten. Dies führte dazu, dass unter anderem das chilenisch-brasilianische Luftfahrtunternehmen Latam seine argentinische Filiale schloss. Ebenso kündigten Air New Zealand, Qatar Airways und Emirates die endgültige Streichung ihrer direkten Flugverbindungen nach Argentinien an. Frühestens im Oktober oder November wird eine eingeschränkte Wiederaufnahme des kommerziellen Langstreckenbus- und Luftfahrtverkehrs erwartet. Auch die Bildungseinrichtungen bleiben in 21 der 23 argentinischen Provinzen sowie in der Hauptstadt Buenos Aires bis auf Weiteres geschlossen.

Die am 8. Juni angekündigte Verstaatlichung des wirtschaftlich angeschlagenen Agrarunternehmens Vicentin spaltete die öffentliche Meinung. Nachdem Präsident Fernández zunächst einen Insolvenzverwalter zur Verstaatlichung des Unternehmens per Dekret eingesetzt hatte, erklärte der zuständige Handelsrichter dies für verfassungswidrig und degradierte den staatlichen Verwalter zum Berater. Infolge landesweiter Proteste aus Angst vor einem Präzedenzfall staatlicher Intervention in der Privatwirtschaft, ruderte Präsident Fernández inzwischen zurück und nahm von seinem Vorhaben Abstand.

Erfolgreicher verlief die Umstrukturierung der fälligen Auslandsschulden Argentiniens. Am Nachmittag des 31. Augusts gab Wirtschaftsminister Martín Guzmán die Details des Abkommens mit den Gläubigern bekannt: 99 Prozent der Anleiheninhaber nahmen das von der argentinischen Regierung unterbreitete Angebot an. Dies bedeute einen Schuldenschnitt in Höhe von 37,7 Milliarden US-Dollar, eine Senkung der Zinsen von sieben auf 3,7 Prozent sowie einen Aufschub der Rückzahlungsfrist.

Auch wenn die Regierung das Abkommen mit den Gläubigern feiert, ist das Grundproblem der Schuldenkrise noch nicht gelöst. Es wurde lediglich auf die Amtszeit zukünftiger Regierungen vertagt. Dies bedeutet, dass trotz des Schuldenschnitts ein Großteil der Schulden aufrecht erhalten bleibt. Angesichts der schwindenden Reserven der argentinischen Zentralbank infolge der Finanzspekulation und Wechselkursregulierung, der hohen Notenausgabe, der abgewerteten Kreditwürdigkeit Argentiniens sowie der andauernden Exportbeschränkungen ist offen, inwiefern der argentinische Staat auch ohne unmittelbare Auszahlungen an die Gläubiger in der Lage sein wird, die Folgen der Pandemie zu bewältigen. Nicht zu vergessen ist außerdem die ausstehende Tilgung des Kredits vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der keine Schuldenschnitte vornehmen kann. Um eine reale Entschuldung zu erreichen, müsste der argentinische Staatshaushalt saniert werden. Dies steht unter anderem im Konflikt mit den hohen Personal- und Sozialausgaben sowie den kürzlich angekündigten Großbauprojekten der öffentlichen Hand.
 

Soziale Auswirkungen der Pandemie

Die soziale Isolierung bringt nicht nur wirtschaftliche, sondern vor allem auch psychologische Folgen mit sich. Dies ist unter anderem daran erkennbar, dass immer mehr Bürger gegen die Ausgangsbeschränkungen verstoßen, um Angehörige zu besuchen und soziale Kontakte persönlich zu pflegen. Dadurch lassen sich auch die Rekordwerte der Neuinfektionen erklären. In Hinblick auf die wirtschaftlichen Auswirkungen summierte die Inflation laut Angaben der staatlichen Statistikbehörde INDEC, die im gegenwärtigen Kontext nur bedingt Messungen durchführen kann, zwischen Januar und Juli dieses Jahres 15,8 Prozent. Schätzungen zufolge wird die kumulierte Teuerungsrate im Jahr 2020 die 40 Prozent-Marke erreichen. Da die Mehrheit der Gewerkschaften aufgrund der zahlreichen Unternehmens- und Geschäftsschließungen sowie der andauernden Aktivitätsbeschränkungen kaum Verhandlungsspielraum für einen Inflationsausgleich bei den Löhnen und Gehältern hat, bedeutet dies nicht nur einen Kaufkraftverlust, sondern auch einen Anstieg der Armutsrate. Ende 2019 betrug diese 35,5 Prozent und liegt inzwischen bei rund 45 Prozent. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen. Angesichts der steigenden Arbeitslosenrate (+10,4 Prozentpunkte zwischen dem ersten und dritten Trimester 2020) sowie dem hohen Grad an informeller Beschäftigung (etwa 40 Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung), verschärft sich die soziale Krise zunehmend.

Die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation wird auch durch die vermehrten Proteste eines Großteils der Bevölkerung deutlich. Am 17. August versammelten sich landesweit tausende Bürger auf den zentralen Plätzen der Städte, um ihre Empörung über die eingeleitete Justizreform und verschärften Bewegungskontrollen auszudrücken. Sofern sich die Lage nicht bessert und die Regierung keine Pläne für einen Ausweg aus der Krise vorlegt, sind weitere Proteste zu erwarten.
 

Umstrittene Justizreform

Am 29. Juli 2020 gab Präsident Alberto Fernández die Details der bereits im Dezember 2019 angekündigten Justizreform bekannt. Diese sieht unter anderem eine Erweiterung und Umstrukturierung des föderalen Gerichtsstandes vor, der für Korruptionsfälle, Geldwäsche, Menschen- und Drogenhandel sowie organisiertes Verbrechen zuständig ist. Des Weiteren sollen eventuell die Zahl der Verfassungsrichter erhöht und Fristen für die Urteilssprechungen eingeführt werden. Der Senat, in dem die Regierungsallianz Frente de Todos die Mehrheit innehat, verabschiedete einen entsprechenden Gesetzesentwurf in der ersten Augustwoche. Für Unmut sorgte dabei die Schaffung 600 weiterer Stellen im Landesinneren unmittelbar vor der Abstimmung sowie eine Klausel, die die Richter dazu verpflichtete, jegliche Art von „ausgeübten Druck“, auch seitens der Medien, zu melden. Kritiker werteten diese Klausel als Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit. Infolge der empörten Reaktionen innerhalb der breiten Öffentlichkeit und Medien wurde diese Klausel gestrichen.

Präsident Fernández gründete per Dekret ebenfalls eine Beraterkommission, die die Details der Reform debattiert und unverbindliche Empfehlungen ausspricht. Unter den Mitgliedern befindet sich auch der Anwalt der unter Korruptionsverdacht stehenden Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner, Carlos Beraldi. Vertreter des Oppositionsbündnisses Juntos por el Cambio warnten davor, dass die Reform zugunsten einer Freisprechung Fernández de Kirchner in den laufenden Ermittlungen und Korruptionsverfahren ausgelegt sein könnte und riefen vermehrt zu landesweiten Protesten auf.

Das aktuelle Vorhaben lässt einige Fragen unbeantwortet, beispielsweise die der Finanzierung, räumlichen Unterbringung der Gerichtssäle, die Fortsetzung der Anhörungen bei laufenden Verfahren und die der Auswahlkriterien für Neueinstellungen. In den kommenden Jahren müssten mehr als 194 neue Richter ernannt werden. Renommierte Akademiker und Staatsanwälte bezeichneten das Vorhaben als verfassungswidrig, da es die Gewaltenteilung verletze und die ernannten Mitglieder der Beraterkommission nicht unabhängig seien. Des Weiteren stellten sich führende Oppositionsvertreter und Journalisten die Frage, ob die erforderliche Justizreform unbedingt inmitten einer sich vertiefenden Wirtschaftsrezession und eines Gesundheitsnotstands durchgeführt werden müsse, oder ob man die erforderlichen Mittel (umgerechnet etwa 70 Millionen Euro pro Jahr) nicht besser in die medizinische Versorgung bzw. in die Reaktivierung der Wirtschaft investieren könne. Angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, die die Reform mit sich bringen würde, weigert sich außerdem die Opposition virtuell im Abgeordnetenhaus über den vom Senat verabschiedeten Gesetzesentwurf zu debattieren.
 

Ausblick

Argentinien hat die Coronakrise noch lange nicht überstanden. Nachdem im Juli der Anschein erweckt worden war, dass sich die Infektionskurve stabilisiere, mussten inzwischen immer mehr Provinzen die Lockerung der Restriktionen rückgängig machen. Das Gesundheitssystem ist ausgelastet und die Bevölkerung der Quarantäne müde. Da sich in Argentinien die Gesundheitszentren mit hohen Kapazitäten und spezialisiertem Personal in den Ballungsräumen konzentrieren, sind vor allem kleine und mittelgroße Städte mit der medizinischen Versorgung der Patienten überfordert. Doch nicht nur die gesundheitspolitisch düsteren Prognosen beunruhigen die Bevölkerung. Die Spaltung der Gesellschaft in Grundsatzfragen und hinsichtlich inhaltlicher Aspekte der bisher behandelten Gesetzesentwürfe über Telearbeit, wissensbasierte Unternehmen und die Justizreform beschäftigen die Gemüter. Des Weiteren wirkt sich die steigende Kriminalität negativ auf die Stimmung im Land aus. Die abgewendete Staatspleite ist angesichts der sozioökonomischen Herausforderungen somit nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Präsident Fernández‘ Rückhalt in der Mittelschicht leidet stark unter der von ihm verfolgten Stop and Go-Strategie. Seine ambivalenten Positionierungen werfen erste Zweifel hinsichtlich seiner Regierungsfähigkeit auf. Ein klarer Plan für einen Ausweg aus der Krise fehlt. Alberto Fernández befindet sich immer noch zwischen den gemäßigten Peronisten und dem Kirchner-treuen, linkspopulistischen Flügel der Frente de Todos in der Zwickmühle. Innerhalb der stärksten Oppositionspartei PRO sind jedoch ebenfalls Spaltungen zwischen dem gemäßigten Kurs vom regierenden Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta, und der orthodox-liberalen Positionierung der Parteichefin Patricia Bullrich zu erkennen.

Die Auswirkungen von Alberto Fernández‘ Wankelmütigkeit und seiner Angstkampagne sowie die Folgen der Unstimmigkeiten innerhalb der Opposition erschweren eine Prognose der Ergebnisse der Midterm-Wahlen im kommenden Jahr. Wird sich der Präsident von der Vizepräsidentin, der rund 30 Prozent der Wählerstimmen zuzuschreiben sind und deren Einfluss auf die Regierungsentscheidungen immer deutlicher wird, abgrenzen? Ist die Opposition in der Lage sich wieder zu vereinen und die Wählerschaft von sich zu überzeugen? Die Antworten auf diese Fragen sind zum heutigen Zeitpunkt ungewiss.

 

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Olaf Jacob

Olaf Jacob

Leiter des Auslandsbüros Chile

olaf.jacob@kas.de

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