Die Positionierung der Kandidaten nach den Vorwahlen vom 13. August
Am Sonntag, den 13. August, fanden in Argentinien die Primarias Abiertas, Simultáneas y Obligatorias, kurz PASO, statt. Seit 2009 werden in den für alle wahlberechtigten Bürger verpflichtenden offenen Vorwahlen die Kandidaten der Parteien für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bestimmt. Überraschenderweise und entgegen aller Meinungsumfragen hieß der Sieger der Vorwahlen mit 29,86% der Stimmen Javier Milei, Führungsfigur der von ihm gegründeten libertären Partei La Libertad Avanza. Das Oppositionsbündnis Juntos por el Cambio, das mit zwei Kandidaten 28% der Stimmen erlangte, kürte nach einem erbitterten internen Machtkampf die bis zu Beginn der offiziellen Kampagne amtierende Parteivorsitzende der Propuesta Republicana (PRO) Patricia Bullrich zur Präsidentschaftskandidatin. Die Peronisten konnten mit ihrem Wahlbündnis Unión por la Patria 27,28% der Wähler von sich überzeugen; Präsidentschaftskandidat ist nun der amtierende Wirtschafts- und Finanzminister Sergio Massa. Auch die Partei Hacemos por Nuestro País mit Juan Schiaretti (3,71%) und das Linksbündnis Frente de Izquierda, das Myriam Bregman zur Kandidatin bestimmte, erreichten die 1,5% Hürde. Diese Anzahl an Stimmen ist Voraussetzung für eine Partei, um zu den Wahlen zugelassen zu werden.
Obwohl die Vorwahlen in erster Linie der Auswahl der Kandidaten dienen und noch nicht über die realen Kräfteverhältnisse im Land ab dem 10. Dezember entscheiden, sind sie ein wichtiger Gradmesser für die politische Stimmung im Land. Verlierer der Vorwahlen sind ganz klar die Peronisten, die ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren und überraschenderweise bei der eigenen Klientel viele Stimmen an Javier Milei verloren haben, doch auch Juntos por el Cambio wurde für die um sich selbst und die Kandidatenfrage kreisenden Diskussionen klar abgestraft. Javier Milei ist es durch sein gutes Wahlergebnis gelungen, die politischen Debatten im Land zu verändern und die Themen im Wahlkampf zu setzen, auf die die anderen Kandidaten lediglich wie Getriebene reagieren. Ob er jedoch wirklich, wie plötzlich in vielen Meinungsumfragen und von Analysten vermutet, siegreich aus den Wahlen hervorgehen wird, ist in einem Land, in dem die Umfragen bei allen im Laufe des Jahres stattgefundenen Wahlen falsch lagen, nur schwer vorherzusagen. Trotz Wahlpflicht lag die Wahlbeteiligung bei lediglich 69% und somit auf einem historischen Tiefstand. Es ist mit einer deutlich höheren Wahlbeteiligung am 22. Oktober zu rechnen und somit können sich alle Kandidaten noch Hoffnungen auf einen Sieg machen. Aufgrund der sich abzeichnenden Kräfteverhältnisse ist ein Wahlsieg im ersten Wahlgang unwahrscheinlich, für den ein Kandidat mehr als 45% der Stimmen oder mehr als 40% mit einem Abstand von mindestens 10% zum Zweitplatzierten erreichen müsste. Sollte das keinem gelingen, findet am 19. November eine Stichwahl statt.
Selbsternannter Anarcho-Kapitalist Javier Milei: für einige schillernde Hoffnungsfigur, für andere populistisches Schreckgespenst
Seit den Vorwahlen beherrscht Javier Milei klar die Medienberichterstattung über Argentinien. Der 52-jährige Wirtschaftswissenschaftler gründete im Juli 2021 die Partei La Libertad Avanza und sitzt ebenfalls seit 2021 im argentinischen Abgeordnetenhaus. Er propagiert ultraliberale Positionen in der Wirtschaftspolitik und forderte vor den Vorwahlen die Abschaffung der Zentralbank, die radikale Verkleinerung des Staates mit einer Konzentration auf absolut unabdingbare Kernaufgaben, umfassende Kürzungen von Sozialleistungen, eine Dollarisierung des Finanzsystems und eine radikale Öffnung der Märkte. Die Erhebung von Steuern bezeichnete er mehrfach als moderne Form der Sklaverei. Leitschnur des Diskurses ist der Protest gegen das politische Establishment, das er als „Kaste“ bezeichnet. Während seine Linie in der Wirtschaftspolitik klar zu sein scheint, fällt eine gesellschaftspolitische Einordnung schwerer. Milei ist Abtreibungsgegner und sprach sich wiederholt für freien Waffenbesitz und eine Liberalisierung des Organhandels aus. Gerne wird er mit Donald Trump oder Jair Bolsonaro verglichen. Durch fremdenfeindliche oder homophobe Äußerungen ist er jedoch bisher nicht aufgefallen und auch seine Wählerbasis ist in erster Linie als liberal und nicht als konservativ zu bezeichnen.
Javier Milei schien vom Wahlergebnis am 13. August und von der realen Möglichkeit, zum Staatspräsidenten gewählt zu werden, selbst überrascht zu sein. Während er vor der Wahl bevorzugt mit Lederjacke zu lauter Rockmusik und mit der Kettensäge in der Hand als Zeichen des von ihm propagierten Umbruchs durch Kahlschlag vor Wut auf die politische „Kaste“ laut brüllend auftrat, hielt er bereits die Siegesrede am Wahlabend betont bedacht und mit Professorenbrille. Inzwischen tritt er auch inhaltlich deutlich moderater auf und sein Team führt zahlreiche Gespräche mit Politikern anderer Parteien und gesellschaftlich relevanten Gruppen wie Gewerkschaften, um eine mögliche Regierungsverantwortung vorzubereiten. Die Zentralbank soll nun nicht mehr „in die Luft gesprengt“, sondern nur noch reformiert werden, viele Ministerien nicht mehr abgeschafft, sondern verschlankt und die Dollarisierung als Kern des Wirtschaftsprogramms nicht mehr sofort umgesetzt, sondern in einem graduellen Prozess etabliert werden.
In den Umfragen scheint der Aufstieg des Shooting-Stars der argentinischen Politik vorerst gebremst, aber er positioniert sich auf einem stabilen ersten Platz. Javier Milei hat es geschafft, zum Sprachrohr der wütenden und enttäuschten Bürger zu werden. Gelang es ihm in einer ersten Phase vor allem, bei jungen Menschen zu punkten, brachte die Analyse der Wahl vom 13. August Überraschendes zutage. Milei wurde von vielen Menschen gewählt, die landesweit in prekären Verhältnissen leben, von Staatsleistungen abhängig sind und traditionellerweise zur typisch peronistischen Klientel gehörten. Dies stellt eine tiefgreifende Zäsur im politischen System des Landes dar. Trotz der neuerdings moderateren Positionen halten viele Wähler Milei für nicht berechenbar, einerseits aufgrund des wenig ausgearbeiteten Regierungsprogramms, andererseits aufgrund seines exzentrischen Charakters: er wird als kompromisslos bezeichnet und ist für seine Wutanfälle bekannt. Auf Reisen teilt er sich ein Zimmer mit seiner Schwester, die ihm regelmäßig die Tarot-Karten legt, und den Wahlsieg im August widmete er seinen teilweise aus einem vorherigen Haustier geklonten fünf Hunden.
Patricia Bullrich zwischen den Stühlen
Aufgrund der unterirdischen Performance der aktuellen Regierung war man sich in Juntos por el Cambio des Wahlsieges wohl allzu sicher und bemerkte kaum, welch abschreckende Wirkung der interne Machtkampf um die Präsidentschaftskandidatur zwischen dem regierenden Bürgermeister von Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta, und der damaligen Parteivorsitzenden der PRO, Patricia Bullrich, auf die Wähler hatte. Den Wandel im Namen tragend meinte das Bündnis, automatisch als die Kraft des Wandels wahrgenommen zu werden und an den Erfolg des PRO-Politikers Mauricio Macri anschließen zu können, der von 2015-2019 das Land regierte. Dabei wurde Javier Milei zu lange nicht als ernst zu nehmender Konkurrent identifiziert und umso größer war die Überraschung und die Enttäuschung über das Wahlergebnis am 13. August.
Zu lange drehte sich Juntos por el Cambio im Wahlkampf um sich selbst, obwohl das Bündnis durchaus ein sehr konkretes wirtschaftsliberales und konservatives Regierungsprogramm und qualifiziertes Personal für dessen Umsetzung vorzuweisen hat. Nach den Vorwahlen musste das Team von Patricia Bullrich kommunikativ umsteuern, da es aufgrund der Wahlergebnisse nicht mehr möglich war, sich als alleinige Kraft des Wandels zu inszenieren. Die ehemalige Sicherheitsministerin von Mauricio Macri setzt nun auf einen realistischen und umsetzbaren Wandel mit Erfahrung, um sich so von Javier Milei mit seinen extremen Ideen einerseits und den regierenden Peronisten andererseits abzusetzen. Allerdings fällt es Patricia Bullrich schwer, sich zwischen den beiden Polen zu inszenieren, da sie im internen Machtkampf vor allem durch pointierte Positionen aufgefallen war, während sich ihr Gegenspieler Horacio Rodríguez Larreta als moderater und dialogbereiter Kandidat der Mitte inszeniert hatte. Die große Herausforderung für Patricia Bullrich besteht nun darin, an Glaubwürdigkeit als Führungsfigur des umsetzbaren Wandels zu gewinnen, um es in die Stichwahl zu schaffen und nicht zwischen Milei auf der einen Seite und dem Peronismus auf der anderen Seite zerrieben zu werden.
Ein amtierender Wirtschaftsminister, der sich als Figur der Erneuerung zu inszenieren sucht
Dass die Wähler kein „weiter so“ mehr wollen, ist auch dem peronistischen Kandidaten Sergio Massa nicht verborgen geblieben. Allerdings birgt es eine gewisse Ironie, sich als Lösung des Inflationsproblems vermarkten zu wollen, obwohl die Teuerungsrate mit ihm als Superminister für Wirtschaft und Finanzen in Rekordhöhen geklettert ist. So lag die Inflation allein im Monat August bei 12,4% und erreichte somit den höchsten in einem Monat gemessenen Wert seit der Hyperinflation im Jahr 1991. Obwohl die Startbedingungen für Sergio Massa in diesem Wahlkampf ungünstig sind, kann er auf die stabilen Strukturen des peronistischen Apparats im ganzen Land zurückgreifen. Als amtierender Minister langt er zudem seit Ende August tief in die Staatskasse, um sich die Gunst der Wähler zu erkaufen, u.a. durch die Hochsetzung der Gehaltsgrenze für die Einkommenssteuer, finanzielle Erleichterungen für Selbständige, verordnete Einmalzahlungen an abhängig Beschäftigte und Rentner und Umsatzsteuererstattungen bei Käufen mit EC-Karte unter bestimmten Voraussetzungen. Somit hinterlässt Massa als Wirtschafts- und Finanzminister dem nächsten Regierungschef ein noch schwereres Erbe als erwartet. Experten gehen davon aus, dass die jüngst beschlossenen Maßnahmen zu einer signifikativen weiteren Beschleunigung der Inflation führen werden. Es stellt sich die Frage, ob Sergio Massa selbst nicht an die Möglichkeit des eigenen Sieges bei der Wahl glaubt und den Erfolg einer zukünftigen Regierung verhindern will, oder aber – was durchaus wahrscheinlicher ist – für die, wenn auch geringe, Möglichkeit des eigenen Sieges die ohnehin schon stark wankende zuletzt noch verbleibende Stabilität des Landes aufs Spiel setzt.
Regierbarkeit des Landes und reale Machtverhältnisse
Im Oktober werden die Hälfte der Abgeordneten und ein Drittel der Senatoren des argentinischen Nationalkongresses neu gewählt. Schon jetzt ist absehbar, dass weder Unión por la Patria, noch Juntos por el Cambio, geschweige denn La Libertad Avanza im Abgeordnetenhaus oder Senat eine eigene Mehrheit erreichen können. Sollten alle drei Bündnisse bzw. Parteien an die Ergebnisse im August anknüpfen, würde Juntos por el Cambio mit 107 Abgeordneten die stärkste Kraft im Abgeordndetenhaus stellen, vor Unión por la Patria mit 92 und La Libertad Avanza mit 41 Sitzen. Im Senat läge Unión por la Patria mit 33 Sitzen vor Juntos por el Cambio mit 31 und La Libertad Avanza mit acht Mandaten. Somit wäre jede der möglichen Führungsprogramme zur Implementierung eines Regierungsprogramms auf Allianzen angewiesen. Zahlenmäßig hätte Javier Milei die schlechteste Ausgangsbasis, allerdings kann er zumindest bei einigen wirtschaftsliberalen Reformen auf die Unterstützung von Juntos por el Cambio hoffen. Patricia Bullrich befände sich in der besten Ausgangslage, wohingegen ein peronistischer Präsident Sergio Massa wohl nur sehr vereinzelt mit der Unterstützung der anderen Kräfte rechnen könnte.
Ein bedeutender Faktor für den Erfolg einer Regierung im föderalen Argentinien ist die Machtverteilung in den 23 Provinzen und dem Hauptstadtdistrikt. Juntos por el Cambio konnte im laufenden Jahr bereits Wahlsiege in den Provinzen Chubut, San Luis, Mendoza, San Juan, Jujuy, Santa Fe und Chaco für sich beanspruchen und dabei in fünf Fällen peronistische Amtsinhaber ablösen. In Neuquén, Misiones, Río Negro und Santa Cruz siegten provinzielle Wahlbündnisse. Die Peronisten konnten die Macht in den Provinzen Formosa, La Rioja, Feuerland, La Pampa, Salta, Santiago del Estero und Tucumán behaupten, aber keine einzige Provinz neu für sich gewinnen. Córdoba wird weiterhin von gemäßigten Peronisten regiert. Die Wahlen in Entre Ríos, Catamarca, der politisch sehr bedeutenden Provinz Buenos Aires und in der Hauptstadt Buenos Aires finden ebenfalls am 22. Oktober statt, Wahlen in Corrientes und Santiago del Estero stehen erst 2024 an. Vor allem die Erfolge von Juntos por el Cambio nach den Vorwahlen in den Provinzen Santa Fe, Chaco und Mendoza haben Patricia Bullrichs Position im Wahlkampf gestärkt.
La Libertad Avanza stellt bisher keinen einzigen Gouverneur und ist in den bisherigen Provinzwahlen weit hinter den eigenen Erwartungen zurückgeblieben, was deutlich macht, dass der Erfolg der Partei eng mit der Person Javier Milei verknüpft ist.
Ausblick
Selten wurde eine Wahl in Argentinien mit so viel Spannung erwartet. Nachdem sich bei den Vorwahlen im August drei ungefähr gleichgroße und gleichstarke Lager herauskristallisiert haben und die Umfragen nur bedingt als Stimmungsmesser taugen, scheinen alle Konstellationen möglich, aber einige wahrscheinlicher als andere zu sein. Den Umfragen und der Stimmung im Land nach zu urteilen, ist damit zu rechnen, dass es Javier Milei in eine Stichwahl schafft. Es scheint ebenfalls wahrscheinlich, dass die jetzige Opposition das neue Staatsoberhaupt stellt, da sich rund zwei Drittel der Wähler im August für liberal-konservative Kandidaten entschieden haben. Die Umfragen sagen eine Stichwahl zwischen Javier Milei und Sergio Massa voraus, die Milei wahrscheinlich gewinnen würde. Sollte es jedoch Patricia Bullrich in eine Stichwahl schaffen, ist ihr Sieg nicht unwahrscheinlich. Als Sicherheitsministerin und Parteivorsitzende der PRO hat sie sich landesweit viel Respekt verschafft und ihre politische Erfahrung kommt ihr zugute. Stünde sie gegen Javier Milei zur Wahl, könnten sich viele Wähler für die sicherere und kalkulierbarere Option im liberal-konservativen Spektrum entscheiden. Klar ist schon jetzt, dass die Wahlen 2023 die politische Landschaft im Land zutiefst verändert haben und verändern werden und dass die Ära des Kirchner-Peronismus zu Ende zu gehen scheint.
Ohne Zweifel steht das zukünftige Staatsoberhaupt vor großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen in einem schwer regierbaren Land. Es ist zu hoffen, dass es gelingt, eine breite Basis für eine friedliche Umgestaltung des Landes zu gewinnen, um endlich Lösungen für die großen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen zu entwickeln und den Wählern somit ein Stück weit den Glauben an die Politik und die Demokratie wiederzugeben.