Länderberichte
Die Einladung ans Volk, gemeinsam auf die Straße zu gehen, hatte lange auf sich warten lassen. Erst vor acht Wochen war sich Argentiniens außerparlamentarische Opposition einig geworden und hatte die Einzelheiten durchgegeben: Donnerstag, 18. April, in der Hauptstadt und in den Provinzen, ja weltweit, also überall, wo mindestens ein Argentinier unzufrieden ist mit der Regierung. Name der Kundgebung? 18A. In Anlehnung an die Vorgänger und passend für die Sozialen Netzwerke.
„Sydney: anwesend.“
„Düsseldorf: anwesend.“
„London: anwesend.“
„Berlin: anwesend.“
„Tokio: anwesend.“
„Miami: anwesend.“
Bis zuletzt hat mancher gefürchtet, die allgemeine Wut auf Präsidentin Cristina Kirchner und ihre Regierung habe in den vergangenen Wochen sosehr nachgelassen, dass womöglich die großen Plätze und breiten Straßen in Buenos Aires und anderswo ziemlich leer bleiben könnten. Aber spätestens, als die Argentinier im Ausland den Zeitvorsprung nutzten, mit Plakaten vor den Botschaften standen und Fotos von ihrem Protest auf Facebook und Twitter verbreiteten, war klar: 18A würde wieder ein gesellschaftliches Großereignis werden, vielleicht noch größer als jeder andere Protest in den zehn Jahren, die Argentinien mittlerweile „Kirchnerland“ ist.
Buenos Aires, La Plata, Santa Fe, Puerto Madryn, Rosario (…). Alle anwesend.
Eine Million Menschen sollen allein in der Hauptstadt unterwegs gewesen sein, vielleicht waren es einige Zehntausend weniger auf der Plaza de Mayo vorm Präsidentenpalast. Aber wer soll schon so genau zählen können, wenn die Bürger aus allen Himmelsrichtungen im Dunklen zusammen strömen und mancher – die argentinische Unpünktlichkeit ernst nehmend – erst kommt, wenn der andere schon wieder geht?
Vieles war noch wie am 13. September (13S) und 8. November (8N), bei den ersten zwei Massendemonstrationen gegen die Regierung der Präsidentin Cristina Kirchner, die im Oktober 2007 ihren Mann Néstor an der Spitze des Staates abgelöst hatte und vor eineinhalb Jahren mit fast 54 Prozent triumphal wiedergewählt worden war. Seitdem sind ihre Beliebtheitswerte und die Zustimmungsraten für ihre Regierung dramatisch eingebrochen.
Klopfzeichen an die Regierenden
Friedlich ging es auf der Plaza de Mayo, es wurde gesungen, getanzt, gehüpft. Eltern hatten ihre Kinder mitgebracht, Oma hängte sich beim Enkel ein, Enkelin stützte Opa. Ein Hauch von Volksfest auch – mit Cacerolazo. Natürlich wurde wieder auf Töpfe und Pfannen getrommelt, das blecherne Plak, Plak, Plak, Plak, Plak ist in Argentinien seit der großen Krise von 2001/2002 eine Art Klopfzeichen an die Herrschenden. Die Botschaft lautet: Wir sind unzufrieden.
Anders war diesmal: Dem organisierten, aber immer noch recht volkstümlichen, also ein bisschen chaotischen Jedermannsprotest hatten sich Gewerkschaften und Oppositionsparteien angeschlossen. Und die Fernsehsender, die live übertrugen, pickten sich die bekannten Politiker aus der Menge heraus und holten sich Interviews, während ringsum die Masse dem Land eine Zukunft ohne diese Präsidentin („Argentina sin Cristina“) wünschte oder Schnellurteile über Minister fällte: „Ladron! Ladron!“ („Dieb, Dieb!“).
Die Präsidentin, das Kabinett, Abgeordnete und Senatoren der Regierungspartei Frente para la Victoria: abwesend.
Cristina Kirchner und ihre wichtigsten Männer – Außenminister Héctor Timerman, Planungsminister Julio De Vido, ihre Staatssekretäre Carlos Zannini, Oscar Parrilli und Alfredo Scoccimarro – hatten sich tagsüber in den Norden Südamerikas abgesetzt. Zuerst leisteten sie dem umstrittenen Sieger der Präsidentenwahl in Venezuela, Nicolás Maduro, auf einem Unasur-Sondergipfel in Peru Beistand und gaben ihm Rückendeckung.
Danach reiste die Präsidentin weiter nach Caracas, um zu erleben, wie aus dem Getreuen des verstorbenen Hugo Chávez ein Kollege Kirchners und Freund Argentiniens wird. Die Verbindung zwischen der argentinischen Präsidentin und den bolivarischen Revolutionären in Venezuela ist seit Jahren eng. Nicht nur einmal hatte Chávez den Kirchners mit Devisen unter die Arme gegriffen. Doch gerade diese Partnerschaft ärgert viele Argentinier. Sie blicken mit Unbehagen und Geringschätzung auf Venezuela, das trotz Dauerwahlen keine richtige Demokratie sei und wirtschaftlich nur überlebe, weil es auf Öl gebaut ist. Und sie fürchten, dass ihre Präsidentin dem Sozialismus à la Caracas nacheifert und die Republik Argentinien umbaut.
Noch immer aber fehlte dem geplanten Cacerolazo der große Aufreger, der zornig macht, eine Art Köder mit Massengeschmack. Natürlich gibt es eine allgemeine Unzufriedenheit, vor allem in der Mittelschicht, die am meisten zu verlieren hat – das Leben mit zwei oder drei Kindern auf der Privatschule, großer Wohnung in ruhiger Lage, mit Hausangestellter und zwei Autos. Aber diese Unzufriedenheit ist mittlerweile auch ein Art Dauerzustand, der hingenommen wird.
Der Protest Ende 2012 war vielleicht zum großen Teil tatsächlich, wie es Senator Aníbal Fernández ausdrückte, einer von Cristina Kirchners engen Freunden, „mehr eine Gruppentherapie als eine politische Nachricht“.
Für den Prostest am 13. September 2012 hatte die Präsidentin ihre Gegner selbst mobilisiert, als sie ihre einstündige Rede zum Tag der Industrie – wieder einmal – ohne Vorwarnung auf alle frei empfangbaren Fernseh- und Radiokanäle schalten ließ und laufende Sendungen unterbrach. Viele fühlten sich – wieder einmal – in Habitus und Ideologiehärte an Hugo Chávez und Fidel Castro erinnert. Doch diesmal hatten sie genug. Und das Gefühl, dass sich diese Präsidentin an keine Regeln hält und das Land beherrscht, als gehöre es ihr, verband sie. Allein 100.000 Menschen waren in Buenos Aires zusammengekommen. „Se va a acabar/Se va a acabar/La dictadura de los K“, sangen sie. „Sie wird verschwinden/Die Diktatur der Kirchneristen. “
Bis zum 8. November, dem Tag der nächsten Protestwelle, hielt Cristina Kirchner weitere lange Ansprachen. Sie redete über allerlei, nur nicht über die Probleme des Landes: Inflation, Kriminalität, Korruption. Sie sagte auch nichts zur Fregatte „Libertad“, die wegen der argentinischen Auslandsschulden in Ghana beschlagnahmt worden war; sie sagte nichts zur möglichen Verfassungsänderung, um ein drittes Mal zu kandidieren, nichts zum Wahlrecht für 16-Jährige, das das Parlament fast ohne Debatte beschlossen hatte. Und sie sagte nichts zum Mediengesetz, dem Köder mit Massengeschmack. Denn es geht bei diesem Gesetz nicht nur darum, ob Clarín, der größte Medienkonzern des Landes, Fernseh- und Radiosender verkaufen muss, weil die Regierung keine Meinungsmonopole wünscht. Es geht darum, ob Clarín zerschlagen werden soll, weil seine Journalisten zu regierungskritisch sind. Und wenn man das Thema grundsätzlich versteht, geht es am Ende auch um die Pressefreiheit in Argentinien.
Versteckspiele der Präsidentin
Schon am 13. September war die Präsidentin samt Stab verreist und hatte in der Provinz San Juan Termine absolviert. Den Abend des 8. November verbrachte sie dann mit einer Hand voll Vertrauter in ihrer Präsidentenresidenz in Olivos, einem Vorörtchen von Buenos Aires. Vor den hohen Mauern standen die Demonstranten und brüllten. Diesmal übertrugen sogar die regierungsfreundlichen Sender. Sie zeigten freilich gern eine Traube von Menschen statt der 700.000, die im ganzen Land unterwegs waren.
Die Präsidentin und die ihr nahestehenden Sender und Blätter hatten sowohl den 13. September als auch den 8. November weitgehend ignoriert und allenfalls abschätzig kommentiert. Ein paar noch nicht in die offensive Opposition abgewanderte Peronisten, wie Daniel Scioli, der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, versuchten sich als Stimme der Vernunft und mahnten, die Regierung möge „den Menschen mit Respekt und Demut zuhören“. Doch im Regierungspalast Casa Rosada plante man nur eine Gegenveranstaltung für den 8. Dezember. Am Vortag wäre ursprünglich die Frist zur Umsetzung des Mediengesetzes verstrichen. Clarín hätte bis dahin den Großteil seiner Senderanteile verkaufen sollen. Doch dann schalteten sich wieder einmal die Gerichte ein, um alles zu verschieben – und der Triumphzug wurde abgesagt.
„Lasst uns alles übernehmen“
Am Sonntag vor dem 18. April kehrte um Punkt 22 Uhr die Fernsehsendung Periodismo para Todos aus der Sommerpause zurück – und die Wut im Land erreichte, eher unerwartet, einen neuen Höhepunkt. Gastgeber der ebenso investigativen wie witzigen Show ist Star-Journalist Jorge Lanata, Typ: Hans Leyendecker mit Entertainerqualitäten. Von seinen Feinden wird er gerne LaRata (Die Ratte) gerufen. Der Titel seiner Sendung ist eine Anspielung auf die „Para-todos“-Regierungsprogramme, deren Warenpalette von „Fleisch für alle“ (Preiskontrolle) bis „Fußball für alle“ (kostenlose Live-Spiele im Fernsehen) reicht. Zudem hatte Cristina Kirchner ihren Anhängern vor einem Jahr aufgetragen: „Vamos por todo.“ Es klang lange ein bisschen kryptisch. „Wir gehen aufs Ganze“, so lässt sich der Satz übersetzen. Oder: „Lasst uns alles übernehmen.“
An diesem Sonntagabend ahnte man, was dahintersteckt. Lanata und sein Team enthüllten Korruption und Geldwäsche in direktem Zusammenhang mit der Präsidentinnenfamilie und einigen ihrer engsten politischen Freunde. Mit versteckter Kamera hatte man Jorge Leonardo Fariña, den jungen Ehemann eines in Argentinien bekannten Models gefilmt, als er laut und deutlich erzählte, wie er 55 Millionen Euro für einen Freund der Kirchners außer Landes gebracht habe. Dieser Freund, Lazaro Baez, soll zehn Tage vor dem Amtsantritt von Néstor Kirchner im Jahr 2003 eine Firma in dessen Heimatprovinz Santa Cruz gegründet haben. Nur ein Jahr später war diese offenbar bereits kräftig gewachsen. Bis zu 80 Prozent aller staatlichen Bauaufträge soll sie erhalten haben – wohl zumeist ohne Ausschreibung. Noch ist nicht absehbar, was noch kommt. Alles scheint möglich. Die regierungskritischen Medien liefern sich einen Wettlauf um die spektakulärsten Enthüllungen. Es ist bereits die Rede von „Lazaro-Gate“. Die Präsidentin und ihre Vertrauten schweigen zu den Vorwürfen.
Da war er, der Köder mit Massengeschmack, der den lange geplanten und zunächst wenig beachteten 18A zum Pflichttermin für die Unzufriedenen machte. Die Opposition schloss sich an, Lanata und andere Gesellschaftsgrößen riefen zur Teilnahme auf.
Argentinien hatte nun neue Beweise, dass die Regierung versucht, das Land Stück für Stück unter ihre Kontrolle zu bringen. Erst hat sie versucht, die Medien zu „demokratisieren“, was bislang an den Richtern gescheitert ist. Nun sollen diese „demokratisiert“ werden. Während am Donnerstagabend der Protestzug in Buenos Aires unterwegs war, saßen im Kongress die Senatoren zusammen, um einen weiteren wichtigen Teil der Justizreform zügig abzustimmen. Zwei Tage zuvor war die Zusammensetzung der Gremien verändert worden, die die Richter ernennen und abberufen.
Nun ging es um die „einstweilige Verfügung“, die eine Rechtsperson etwa bei Inkrafttreten eines Gesetzes verlangen kann, wenn die Gerichte über die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm noch nicht entschieden haben. Dieses Instrument hatte die Clarín-Gruppe genutzt. Sie ließ das Mediengesetz prüfen – und Gerichte kamen zum Ergebnis, dass es zumindest teilweise verfassungswidrig sei.
Twitternachrichten aus der „Tango 01“
Künftig soll es anders sein: Wenn das zuständige Gericht nicht innerhalb von drei oder sechs Monaten (je nach Fall) geurteilt hat, tritt die Rechtsnorm oder die Regierungsentscheidung in Kraft. Kritiker sagen, Bürger und andere Rechtspersonen gerieten damit in eine wehrlose Position gegenüber dem Staat, der in Argentinien oft mit der Regierung gleichzusetzen ist. Selbst die meist uneinigen Senatoren der Opposition hielten diesmal zusammen und versagten den Kirchneristen jede Unterstützung. Trotzdem winkte der Senat das Projekt durch, jetzt wartet es auf die Abstimmung im Abgeordnetenhaus. Viele regierungstreue Senatoren verließen am 18A den Kongress über einen Seitenausgang. Denn draußen zog der Protestmarsch vorbei. Der unter Korruptionsvorwürfen stehende Vizepräsident Amado Boudou, der gleichzeitig Präsident des Senats ist, hatte sich offenkundig zu spät auf den Weg gemacht und soll sich regelrecht in seinem Büro verschanzt haben.
Cristina Kirchner indes ignorierte die Demonstranten und ihre Anliegen. Von Bord der Präsidentenmaschine „Tango 01“ verschickte sie mehr als 60 Kurznachrichten auf Twitter: „Das Gerichtsurteil zum Mediengesetz macht mich sprachlos“, „heute habe ich den neuen Erzbischof von Buenos Aires kennengelernt“, „Samstagmorgen fahre ich in die Berge, um mich auszuruhen. Ich möchte ein wenig allein sein, ohne so viele Leute und so viel Lärm“.
Der Leitartikel der Traditionszeitung La Nación trug am nächsten Morgen die Überschrift: „Eine Regierung, die sich weigert zuzuhören und zu debattieren“.