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Länderberichte

Vorwahlen in Argentinien

Überraschender Erdrutschsieg von Javier Milei

Am Sonntag, den 13. August, fanden in Argentinien die Primarias Abiertas, Simultáneas y Obligatorias, kurz PASO, statt. Seit 2009 werden in den für alle wahlberechtigten Bürger verpflichtenden offenen Vorwahlen die Kandidaten der Parteien für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bestimmt. Die PASO sind gerade auch für kleinere Parteien bedeutend, da darüber entschieden wird, welche politischen Kräfte sich letztendlich am 22. Oktober zur Wahl stellen dürfen. Dafür müssen sie mindestens 1,5 % der Stimmen gewinnen.

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Selten wurden die PASO mit so viel Spannung erwartet wie in diesem Jahr. Hatten Sie bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2019 lediglich als Stimmungsbarometer im Wettbewerb um die Staatsspitze gedient - die Spitzenkandidaten der aussichtsreichen Parteien standen bereits fest -  wurde in dieser Wahl nach einem langen internen Machtkampf der Kandidat des Oppositionsbündnisses Juntos por el Cambio gekürt. Enorm gespannt waren Experten ebenso auf das Wahlergebnis des libertären Populisten Javier Milei, um eruieren zu können, ob für diesen eine realistische Aussicht auf das höchste Staatsamt besteht. Zeitgleich fanden Vorwahlen für die Gouverneursämter und Vertreter der Legislative der Provinzen Buenos Aires, Catamarca, Entre Ríos und der Stadt Buenos Aires sowie Wahlen für das Gouverneursamt und die Volksvertreter der Provinz Santa Cruz statt.

 

Nationale Wahlen: Ende der Ära Kirchner?

Zur großen Überraschung aller Experten und Wahlforscher heißt der unbestrittene Sieger der Vorwahlen Javier Milei, Führungsfigur der von ihm gegründeten Partei La Libertad Avanza. Milei konnte nach dem vorläufigen Wahlergebnis bei 97% der ausgezählten Stimmen 30,04% der Wähler für sich gewinnen und ist somit mit Abstand der am meisten gewählte Kandidat. Die beiden Vorkandidaten aus dem Oppositionsbündnis Juntos por el Cambio Patricia Bullrich und Horacio Rodríguez Larreta brachten es zusammen auf 28,27% der Stimmen, wobei sich Bullrich im internen Wettbewerb mit 16,98% der Stimmen gegen Larreta mit 11,29% der Stimmen durchsetzte.

Der eindeutige Verlierer des Wahlabends ist der derzeit regierende Peronismus, dessen Wahlallianz Unión por la Patria mit 27,27% abgeschlagen auf dem dritten Platz landete und somit im Vergleich zur Vorwahl im Jahr 2019 gut 20 Prozentpunkte einbüßte. Der derzeitige Wirtschafts- und Finanzminister Sergio Massa gewann 21,40% der Stimmen und setzte sich gegen den Cristina Fernández de Kirchner nahestehenden Kandidaten Juan Grabois mit 5,87% durch. Der gemäßigt peronistische Gouverneur von Córdoba Juan Schiaretti trat für Hacemos por nuestro País an und überzeugte 3,83% der Wähler. Myriam Bregman setzte sich mit 1,86% der Stimmen im Linksbündnis Frente de Izquierda- Unidad gegen ihren Mitbewerber Gabriel Solano mit 0,79% durch. Somit stehen die fünf Kandidatinnen und Kandidaten und Parteien fest, die bei den Wahlen am 22. Oktober antreten werden. Weitere 10 Parteien bzw. Parteienbündnisse, die zu den Vorwahlen angetreten waren, erreichten die 1,5%-Hürde nicht.

 

Das völlig überraschende und unvorhersehbare Wahlergebnis geht wie ein Ruck durch die argentinische Politik und Gesellschaft. Javier Milei, der Sieger des Wahlabends, fordert den Bruch mit dem etablierten politischen System und fußt seinen Diskurs auf die Ablehnung der – wie er es nennt –  „politischen Kaste“ mit ihren Privilegien. Der Wirtschaftswissenschaftler propagiert im Gegenentwurf zur aktuellen Regierung die Liberalisierung der Märkte, die Aufhebung der künstlich festgesetzten differenzierten Wechselkurse, die Dollarisierung der Wirtschaft zur Eindämmung der galoppierenden Inflation, die Abschaffung der Zentralbank und die radikale Verschlankung des aufgeblähten Staatsapparats.

Im gesellschaftlichen Diskurs spricht er sich gegen Abtreibung aus und macht mit extremen Forderungen wie einer Liberalisierung der Waffengesetze zum freien Verkauf von Waffen zur Selbstverteidigung, der Legalisierung des Organhandels und einer kompletten Neuordnung des Strafvollzugs von sich reden. Er inszeniert sich medienwirksam mit wilder Mähne und tritt in gut gefüllten Stadien zu lauter Rockmusik in Lederjacke auf und kann damit vor allem junge Wähler für sich begeistern.

Sein Erfolg ist Ausdruck der tiefen Frustration, Enttäuschung und Wut der argentinischen Wähler über die Misserfolge nicht nur der Politik der derzeitigen Regierung, sondern der letzten Jahrzehnte. Diese findet auch in der niedrigen Wahlbeteiligung ihren Ausdruck, die trotz Wahlpflicht bei nur 69% und somit 7% niedriger als noch im Jahr 2019 lag. Erwähnenswert ist, dass die von Milei erst 2021 gegründete Partei La Libertad Avanza vor allem in den Provinzen über keine nennenswerten Strukturen verfügt und auch bei den im Laufe des Jahres abgehaltenen Regionalwahlen hinter den Erwartungen zurückgeblieben war.

Zuletzt wurden kritische Stimmen über den Verkauf von Kandidaturen für La Libertad Avanza laut, was dem Anti-Korruptionsimage der Partei und ihres Kandidaten schadete. Umso größer war die Überraschung, dass La Libertad Avanza in 16 der 24 Provinzen als Sieger aus den Vorwahlen hervorgegangen ist; und das ohne minutiöse Kontrolle in allen Wahllokalen, die bisher als Voraussetzung für Wahlsiege angesehen wurde. Dies zeigt auch, dass der Erfolg direkt an den charismatischen Kandidaten Milei geknüpft ist. Als völlig unzureichendes Instrument haben sich die Wahlumfragen entpuppt, die Milei fast alle auf dem dritten Platz verortet haben und ihm in den letzten Wochen einen Rückgang der Popularität attestiert hatten.

 

Die Woche vor den Wahlen war bewegt. Der Schwarzmarktkurs des Dollars und die Inflation erhöhten sich sprunghaft und in nur 48 Stunden kam es bei Überfällen im Speckgürtel der Stadt Buenos Aires zu mehreren Todesfällen u.a. durch Gewaltanwendung und Schusswaffengebrauch; u.a. verstarb eine 11-jährige, nachdem zwei junge Männer auf einem Motorrad sie vor ihrer Schule beim Raub ihres Handys mitgeschleift hatten. Diese Vorfälle führten zum vorläufigen Abschluss des Wahlkampfes und wurden von allen Kandidaten geschlossen verurteilt, jedoch geht man davon aus, dass sowohl die instabile Wirtschaftslage als auch die Unsicherheit eher zu einem Stimmenzuwachs für Milei und auch für die ehemalige Sicherheitsministerin Bullrich geführt haben, die Sicherheit zu einem zentralen Wahlkampfthema gemacht hatte.

 

Viele vermuten, dass spätestens diese Vorwahlen einen tiefen Umbruch des politischen Systems in Argentinien einläuten, bei dem die Ära der Familie Kirchner als prägende Kraft im Peronismus endet, aber auch andere traditionelle Parteien ihre bisherigen Strukturen überdenken müssen, um zu überleben. Die Vorwahlumfragen hatten einen Sieg des Oppositionsbündnisses Juntos por el Cambio prognostiziert, das neben dem Peronismus nun als Verlierer dasteht. Trotz der schlechten Wirtschaftsdaten und der massiven Kritik an der derzeitigen Regierung ist es dem Bündnis aus den Parteien Propuesta Republicana (PRO), Unión Cívica Radical (UCR) und Coalición Cívica (CC) nicht gelungen, die Unzufriedenheit der Wähler zu kanalisieren und in Stimmen für sich umzuwandeln. Ein Grund dafür war sicherlich auch der intern unerbittlich geführte Machtkampf zwischen der bis kürzlich Parteivorsitzenden der PRO Patricia Bullrich und dem Regierungschef der Stadt Buenos Aires Horacio Rodríguez Larreta, der konkrete Vorschläge zur Politikgestaltung und Sachfragen in den Hintergrund rücken ließ. Ein weiterer Grund ist, dass es auch der Regierung von Juntos por el Cambio unter Mauricio Macri von 2015-2019 nicht gelungen war, der wirtschaftlichen Probleme Herr zu werden und viele Wähler Juntos por el Cambioden Wandel des Landes nicht mehr zutrauen. Diesen Vertrauensverlust machte sich der Antisystempolitiker Milei zunutze

 

Patricia Bullrich setzte sich im internen Wettbewerb überraschend deutlich gegen Larreta durch, obwohl sie für ihren bisherigen Wahlkampf nur einen Bruchteil der finanziellen Ressourcen zur Verfügung hatte. Bullrich erlangte in 21 der 24 Provinzen mehr Stimmen als Larreta, darunter auch in seiner politischen Heimat, der Stadt Buenos Aires. Larreta präsentierte sich im Wahlkampf als gemäßigter Kandidat der Mitte, Bullrich hingegen grenzt sich klar vom Peronismus ab und fordert schnelle und tiefgreifende liberale Wirtschaftsreformen und ist vor allem in der Wirtschaftspolitik zwischen Larreta und Milei zu verorten. Somit stimmten rund 47% der Wähler für einen tief greifenden Wandel in der Wirtschaftspolitik. Für die Partei PRO ist es gut und wichtig, dass die Kandidatenfrage nun geklärt ist und man sich vereint der Herausforderung der Wahlen am 22. Oktober stellen kann. Beide Wahlkampfteams verbrachten den Wahlabend gemeinsam, Larreta räumte seine Niederlage früh ein und Bullrich und Larreta traten als wichtiges Signal an die vom über Monate währenden internen Machtkampf ermüdeten und desillusionierten Wähler gemeinsam auf.

 

Der Peronismus hat das schlechteste Wahlergebnis in seiner Geschichte eingefahren, landete abgeschlagen auf dem dritten Platz und ist als größter Verlierer dieser Wahl zu bezeichnen. Sergio Massa fiel es schwer, sich als derzeit verantwortlicher Minister für die desaströse Finanz- und Wirtschaftspolitik als Hoffnungsfigur zu inszenieren. Javier Milei hat sogar in den oft wahlentscheidenden bevölkerungsreichen peronistischen Hochburgen des Speckgürtels von Buenos Aires beachtlich gute Ergebnisse eingefahren, auch das ein absolutes Novum in der argentinischen Politik. Sollte sich der Erfolg von Milei und der relative Erfolg von Juntos por el Cambio bei den Wahlen im Oktober wiederholen und es auf eine Stichwahl zwischen Milei und Bullrich hinauslaufen, würde das einen absoluten Bruch mit dem politischen System der letzten Jahrzehnte bedeuten, in denen der Peronismus die prägende politische Kraft war.

 

Wahlen auf Provinzebene

Die einzig nennenswerten Wahlsiege konnte der Peronismus in der Provinz Buenos Aires einfahren, die aufgrund ihres Bevölkerungsreichtums wahlentscheidend sein kann. In den Vorwahlen lag der zur Wiederwahl antretende Gouverneur Axel Kicilof von Unión por la Patria mit 36,41% jedoch nur 3,5 % vor Juntos por el Cambio mit 32,92% (Néstor Grindetti 16,58%, Diego Santilli 16,33%) und der Kandidatin für La Libertad Avanza Carolina Píparo mit 23,78%. Somit ist auch Kicilofs Zukunft noch nicht entschieden.

 

In der Stadt Buenos Aires konnte sich Juntos por el Cambio mit 55,92% bequem vor den Kandidaten von Unión por la Patria mit 22,17% und La Libertad Avanza mit 12,95% behaupten. Intern setzte sich der PRO-Kandidat Jorge Macri mit 28,71% gegen Martin Lousteau von der UCR mit 27,21% durch. Dafür hatte sich u.a. der Expräsident und Cousin von Jorge Macri, Mauricio Macri, stark gemacht, der die Stadt, in der die PRO gegründet wurde und stark geworden ist, nicht in Händen einer anderen Partei sehen wollte.

 

Auch auf Provinzebene wurde das Ende der Ära Kirchner besiegelt. Die Familie Kirchner hatte seit der Wahl von Néstor Kirchner zum Gouverneur 32 Jahre lang die politischen Geschicke der Provinz Santa Cruz und des Landes bestimmt. Mit ganz knappem Ergebnis konnte sich der Gewerkschaftsführer Claudio Vidal gegen den Kandidaten des Kirchnerismus durchsetzen und löst die bisherige Gouverneurin Alicia Kirchner im Amt ab.

 

Aus den Vorwahlen der Provinz Entre Ríos ging Juntos por el Cambio als stärkste Kraft hervor, wohingegen sich Unión por la Patria die meisten Stimmen in Catamarca sichern konnte.

 

Ausblick

Die Wahlen haben deutlich gemacht, dass die politische Zukunft Argentiniens nicht vorhersehbar ist. Alle Meinungsinstitute lagen mit den Umfragen weit neben den tatsächlichen Wahlergebnissen. Klar festzuhalten ist jedoch, dass bei den bevorstehenden Wahlen eine tiefgreifende Umwälzung des politischen Systems möglich ist. Ob Javier Milei im Oktober an seinen großen Erfolg bei den Vorwahlen anknüpfen kann, bleibt abzuwarten. Die Wähler wissen genau, dass die Präsidentschaftsfrage nicht in den Vorwahlen entschieden wird. Sie haben sowohl dem Peronismus, als auch Juntos por el Cambio einen starken Denkzettel verpasst, werden jedoch am 22. Oktober wohl überlegen, wen sie sich an der Staatsspitze vorstellen können. Aufgrund der Ergebnisse der Vorwahlen ist eine Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten am 19. November wahrscheinlich.

 

Sergio Massa geht deutlich geschwächt aus den Vorwahlen hervor. Seine Schwäche ist kein gutes Signal für die ohnehin schon sehr instabile Wirtschaft. Experten fürchten noch größere Instabilität vor allem auf den Finanzmärkten und bereits am Tag nach der Wahl stieg der Dollarkurs sprunghaft an.

 

Obwohl nur schwer prognostizierbar ist, wer Argentinien ab Dezember regieren wird, ist bereits jetzt absehbar – sollten die Wahlergebnisse im Oktober nicht völlig von den gestrigen abweichen – dass die Partei bzw. das Parteienbündnis der neuen Präsidentin oder des neuen Präsidenten über keine Mehrheit in Abgeordnetenhaus und Senat verfügen und deshalb auf die Zusammenarbeit mit mindestens einer weiteren politischen Kraft angewiesen sein wird. Das zukünftige Staatsoberhaupt steht vor großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen in einem schwer regierbaren Land. Es ist zu hoffen, dass es gelingt, eine breite Basis für eine friedliche Umgestaltung des Landes zu gewinnen, um endlich Lösungen für die großen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen zu entwickeln und den Wählern somit ein Stück weit den Glauben an die Politik und die Demokratie wiederzugeben.

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Susanne Käss

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Leiterin des Auslandsbüros Argentinien / Leiterin des Auslandsbüros Brasilien (kommissarisch)

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