Ausgabe: 3/2022
Regionale Ausgangslage
Es war ein ganz besonderer Moment, als am 9. März 2022 nach 15 Jahren politisch angespannter Beziehungen mit Jitzchak Herzog erstmals wieder ein israelisches Staatsoberhaupt die Türkei besuchte. Zwischen den einst engen strategischen Partnern Türkei und Israel war es spätestens 2010 zum Niedergang der Beziehungen gekommen, nachdem bei der Erstürmung des Gaza-Solidaritätsschiffs Mavi Marmara durch die israelische Marine neun türkische Staatsbürger getötet wurden. In der Folge wies Ankara den israelischen Botschafter aus, zog den eigenen Botschafter ab und alle bilateralen Militärabkommen wurden ausgesetzt.
Nach einer 2016 erzielten Einigung über die Vorkommnisse um die Mavi Marmara scheiterte der erste Versuch einer Annäherung jedoch abrupt im Jahr 2018, nachdem ein Streit rund um die Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem eskalierte.
Nun stehen die Zeichen erneut auf Entspannung und sowohl die Türkei als auch Israel scheinen jeder auf seine Weise an einer Neuauflage der alten Partnerschaft zu arbeiten. Doch wie nachhaltig kann solch ein Wiederaufleben der Beziehungen sein und welche Auswirkungen hätte das auf Deutschland und Europa?
Trotz des langjährigen diplomatischen Stillstands ist eine Annäherung für beide Seiten von großem Interesse. Das geopolitische Klima im Nahen Osten und östlichen Mittelmeer verändert sich rapide. Aufgrund geopolitischer Verschiebungen und nicht zuletzt aufgrund des Krieges in der Ukraine fanden in den vergangenen Jahren und Monaten präzedenzlose Annäherungen und Normalisierungen zwischen unterschiedlichsten Akteuren in der Region statt. Dafür sind mehrere Faktoren verantwortlich.
Erstens ist in der Region ein reduziertes US-Engagement zu beobachten. Spätestens der größtenteils chaotische Abzug der USA aus Afghanistan hat zu einem Umdenken in der Region geführt. Regionale Akteure sehen nun ein, dass sie sich umorientieren müssen, vorzugsweise kooperativ, um gegenüber den aktuellen Herausforderungen bestehen zu können. Zweitens steht die Region vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen. Dafür sind unter anderem die Coronapandemie und die dadurch verursachten ökonomischen Schocks verantwortlich. Drittens ist der Nahe Osten mit den Implikationen des Klimawandels konfrontiert, die nur gemeinsam adressiert werden können. Viertens ist die Bedrohung durch die hegemonialen und nuklearen Ambitionen der Islamischen Republik Iran für viele Staaten eine sicherheitspolitische Aufgabe, die Koordination erfordert. Schließlich stellt auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die Region vor große Probleme. Einerseits, weil viele Staaten der Region von Lebensmittellieferungen aus der Ukraine abhängig sind. Andererseits ist Russland mit seiner Präsenz in Syrien ein regionaler Akteur, der nicht ignoriert werden kann. Insofern stehen viele Staaten der Region vor einem komplizierten Balanceakt.
Die ambivalenten bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und Israel
Insbesondere Israel und die Türkei sind von diesen Entwicklungen betroffen und bestrebt, jeder auf seine Art und Weise, ihre Position in der Region anzupassen. Die Türkei versucht derzeit, nicht nur ihre Beziehungen mit Israel, sondern auch mit anderen Ländern der Region zu normalisieren. Dies geschieht nicht zuletzt auch aufgrund der finanziellen und wirtschaftlichen Krise der Türkei sowie der anstehenden Wahlen 2023. Ferner sieht Ankara eine Annäherung an Israel als einen Schritt hin zu einer Normalisierung mit den USA. Ankara ist bestrebt, in Rekordtempo die im vergangenen Jahrzehnt beschädigten Beziehungen zu Nachbarn und anderen Regionalmächten zu reparieren und seine Reputation in der Region wiederherzustellen. Auch für Israel bleibt die Türkei ein Schlüsselstaat in der Region, wenngleich sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert hatten. Die Türkei war das erste mehrheitlich muslimische Land, das bereits 1949 den jüdischen Staat anerkannte und im Jahr 1950, noch vor den USA, einen Botschafter nach Israel entsandte. Diese beiden nichtarabischen Mächte im Nahen Osten galten lange als natürliche Verbündete, die auf verschiedenen Ebenen zusammenarbeiteten und gemeinsame Interessen in der Nachbarschaft verfolgten. Einen Höhepunkt fanden die türkisch-israelischen Beziehungen in den 1990er-Jahren, nachdem nach den Oslo-Abkommen Hoffnungen auf einen dauerhaften Frieden zwischen Israelis und Palästinensern bestanden. Im Jahr 1996 schlossen die Türkei und Israel ein Freihandelsabkommen sowie ein weitreichendes Abkommen zur militärischen Kooperation. Die wohl sichtbarste Komponente dieses formalisierten türkisch-israelischen Verteidigungsabkommens war die Möglichkeit für israelische Piloten, von türkischen Luftwaffenstützpunkten aus Trainingsflüge durchzuführen und Erfahrung in Langstreckeneinsätzen über Land zu erlangen.
Allerdings war das israelisch-türkische Verhältnis immer wieder von Krisen gekennzeichnet. In den fast sieben Jahrzehnten der bilateralen Beziehungen mit Israel hat die Türkei diese dreimal herabgestuft, zuletzt im Jahr 2016. Nach einem Jahrzehnt enger Zusammenarbeit zeigten sich die ersten Brüche in den Beziehungen bereits 2007, als die Annäherung zwischen der Türkei und den Muslimbrüdern beziehungsweise der Hamas in den Palästinensischen Gebieten mit großer Skepsis beobachtet wurde. In der Folge kam es zu häufigen Besuchen hochrangiger Hamas-Mitglieder in der Türkei, was Israel immer wieder stark kritisierte.
Die „Goldene Ära“ der bilateralen Beziehungen ging dann spätestens mit der Operation „Gegossenes Blei“, dem ersten Gazakrieg 2008, zu Ende. Recep Tayyip Erdoğan, damals noch türkischer Premierminister, kritisierte die Militäroperation als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Kurz darauf eskalierte auf der Bühne des Weltwirtschaftsforums in Davos 2009 eine Podiumsdiskussion über den Nahostkonflikt zwischen dem damaligen israelischen Präsidenten Schimon Peres und Recep Tayyip Erdoğan, was das Klima zwischen beiden Ländern nachhaltig belastete. Im Anschluss schloss die Türkei Israel im Oktober 2009 von der Teilnahme an der gemeinsamen Militärübung „Anatolian Eagle“ aus.
Einen Tiefpunkt erreichten die Beziehungen schließlich im Mai 2010, als die Mavi Marmara mit dem Ziel gekauft wurde, die israelische Seeblockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Bei der Stürmung des Schiffs und der Eskalation an Bord zwischen (teils extremistischen) Aktivisten und Soldaten der israelischen Verteidigungsstreitkräfte kamen türkische Staatsbürger ums Leben. Im September 2011 stufte die Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Israel herab und setzte die militärische Zusammenarbeit aus, nachdem die Vereinten Nationen ihren Bericht über den Flottillenvorfall veröffentlicht hatten.
Nachdem Annäherungsversuche 2016 gescheitert waren, gibt es seit Ende 2021 wieder Anzeichen dafür, dass die Türkei an einer Verbesserung der Beziehungen zu Israel interessiert ist. Tatsächlich lässt sich eine Reihe von gemeinsamen Interessen identifizieren, die ausschlaggebend für eine Annäherung sein können.
Potenziale für die Annäherung
Beide Staaten sind Nachbarländer Syriens und auf eine Stabilisierung des vom Krieg zerrütteten Landes angewiesen. Während zu Beginn des Krieges beide Regierungen noch einen Regimewechsel unterstützten, scheint nun größtmögliche Stabilität in Syrien Priorität zu haben. Darüber hinaus lehnen sowohl Israel als auch die Türkei den wachsenden Einfluss Irans in Syrien und vor allem die nuklearen Ambitionen der Islamischen Republik ab. Damit im Zusammenhang steht auch die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, die für beide Staaten von essenziellem Interesse ist. Hasan Murat Mercan, der Botschafter der Türkei in den Vereinigten Staaten, veröffentlichte kürzlich einen Meinungsbeitrag bei einem israelischen Thinktank, in dem er zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Israel „mit besonderem Schwerpunkt auf der Bekämpfung des Terrorismus in all seinen Formen und Erscheinungsformen“ aufrief. Er unterstrich außerdem, dass die Türkei und Israel mit ähnlichen „bösartigen Akteuren und Trends“ in der Region konfrontiert seien. Hinzu kommt, dass beide Länder daran interessiert sind, eine humanitäre Krise in Gaza zu verhindern. Israel begrüßt daher mittlerweile dort die türkische humanitäre Hilfe.
Sowohl die Türkei als auch Israel lieferten Aserbaidschan während des Krieges in Bergkarabach 2020 massive logistische, technische und operative Unterstützung. Auch hier wird der regionale Stimulus der Annäherung sichtbar. Israel und Aserbaidschan teilen die Wahrnehmung Irans als erhebliche Bedrohung und haben in den vergangenen Jahren umfangreiche militärische und energiepolitische Beziehungen aufgebaut. Aus türkischer Sicht gilt seit der Unabhängigkeit Aserbaidschans die Doktrin der „einen Nation, zwei Staaten“, unter der mit Aserbaidschan als Bruderstaat enge Beziehungen gepflegt werden.
Trotz diplomatischer Friktionen haben Israel und die Türkei über die Jahre solide Verbindungen in den Bereichen Wirtschaft, Handel, Verkehr und Tourismus aufrechterhalten und könnten von einer stärkeren Zusammenarbeit weiter profitieren. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit blieb von der Verschlechterung der bilateralen Beziehungen unberührt, wobei sich das Handelsvolumen von 3,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2010 auf 8,4 Milliarden im Jahr 2021 nominal sogar mehr als verdoppelt hat. Im Jahr 2021 war Israel mit einem Warenwert von fast 6,4 Milliarden US-Dollar einer der zehn wichtigsten Exportmärkte für die Türkei. Aus israelischer Sicht ist die Türkei ein großer und wichtiger Markt. Das Land war 2020 Israels fünftgrößter Handelspartner.
Potenzial liegt zudem im Bereich der sicherheitspolitischen Kooperation, die für beide Staaten eine Priorität darstellt. In der Vergangenheit wurde wiederholt öffentlich bekannt, dass die türkischen und israelischen Nachrichtendienste eng in der Aufklärung und Terrorismusabwehr zusammenarbeiten. Beide Länder waren in der Vergangenheit Ziele von islamistischen Terroranschlägen, möglich nicht zuletzt aufgrund der Instabilität in Syrien und dem Irak. Die Türkei ist außerdem regelmäßig Schauplatz von iranischen Spionagemissionen.
Israel und die Türkei werden weiterhin sicherheitspolitische Interessen in wichtigen strategischen Fragen teilen. Für die Stabilisierung der Lage in Syrien sowie die Eindämmung Irans sind sie aufeinander angewiesen. Ein Wiederaufleben der strategischen nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit könnte das durchaus belastete Vertrauensverhältnis zwischen den Sicherheitsapparaten wiederherstellen und die Normalisierungsbestrebungen erheblich unterstützen.
Energiesicherheit als Katalysator der Annäherung
Im Zentrum der aktuellen Bemühungen stehen allerdings das gemeinsame Interesse an der Erdgasgewinnung im östlichen Mittelmeer und die energiepolitischen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine, die Israels Rolle als Gasexporteur stärken und die Türkei zum wichtigen Energiehub für Europa machen könnten. Beide Staaten sind bestrebt, eine wachsende Rolle bei der Diversifizierung der europäischen Energieimporte zu spielen und eine langfristige Alternative zu Russland zu bieten.
Im Zusammenhang mit dem vorangegangenen Annäherungsversuch stand die Erdgasgewinnung im östlichen Mittelmeer bereits im Fokus und die Absichten hinsichtlich einer Pipeline zwischen Haifa und Ceyhan sorgten für viel Aufmerksamkeit. Damals gab es allerdings keinen persönlichen Austausch zwischen hochrangigen Entscheidungsträgern, die Bemühungen konnten der Eskalation rund um die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem nicht standhalten und scheiterten.
Stattdessen verfolgte Israel mit dem im Jahr 2019 gegründeten East-Mediterranean-Gas-Forum bestehend aus Ägypten, Zypern, Frankreich, Griechenland, Italien, Israel, Jordanien und den Palästinensischen Gebieten eine Initiative unter Ausschluss der Türkei. Die damalige Netanjahu-Regierung präferierte in ihrer Gasexportpolitik die transkontinentale Kooperation gegenüber der regionalen. Der Bau einer EastMed-Pipeline sollte das israelische Leviathan-Gasfeld mit dem zypriotischen Aphrodite-Feld über Kreta und Griechenland mit Europa verbinden. Das Vorhaben scheiterte vorerst allerdings im Januar 2022, als die Biden-Administration ihre Unterstützung für das Projekt zurückzog und ihm damit de facto den Todesstoß versetzte. Mit geschätzten Kosten von etwa 6,5 Milliarden US-Dollar war die Unterwasserpipeline finanziell nicht tragfähig, wurde aber dennoch von der Trump-Regierung angepriesen. Die Türkei war daher in den vergangenen Jahren im östlichen Mittelmeer zunehmend isoliert und Dialoge im Energiebereich fanden ohne sie statt.
Aus israelischer Sicht besteht das drängende Problem der Rentabilität der begrenzten Erdgasressourcen sowie das der Realisierbarkeit im volatilen Sicherheitsumfeld der Region. Konkret muss also auch die Frage gestellt werden, inwiefern langfristige Pipeline-Projekte überhaupt planbar sind. Grundsätzlich ist abzuwägen, welchen Weg des Gasexports man einschlägt. Alternativ zu Pipeline-Projekten bietet sich Flüssiggas (LNG) an. Die einzigen Flüssiggasterminals der Region, die energieaufwendig Erdgas verflüssigen, befinden sich momentan in Ägypten. Kairos langfristige Strategie ist ebenso darauf angelegt, ein regionaler Erdgasknotenpunkt zu werden. So hat Ägypten bereits mit Zypern und Israel Abkommen geschlossen, nach denen mehr Gas in Ägypten verflüssigt werden soll. Konkret geht es um die Lieferung israelischen Gases an ägyptische LNG-Terminals, um dieses dort zu verflüssigen. Der Scharm-el-Scheich-Gipfel im September 2021 und der Negev-Gipfel Ende März 2022 unterstrichen die Absicht der Regierungschefs, den „kalten Frieden“ der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Am 15. Juni 2022 unterzeichneten die EU, Israel und Ägypten schließlich ein wegweisendes Abkommen über den Export von Erdgas nach Europa. Im Rahmen des Abkommens wird die EU Ägypten und Israel bei der Steigerung ihrer Gasproduktion und -exploration in ihren Hoheitsgewässern unterstützen. Israel wird das Gas über Ägypten liefern, wo es für den Export auf dem Seeweg nach Europa verflüssigt werden soll. Mittelfristig kann ein israelisch-türkisches Projekt daher wohl kaum mit der Unterstützung der EU rechnen.
Darüber hinaus ist der Bau einer Pipeline ein langfristiges Projekt. Gewinne sind erst nach Jahren zu erwarten und der Bau einer solchen Anlage erfordert einen großen Planungsaufwand. Israelische Amtsträger weisen laut Reuters zwar darauf hin, dass eine Pipeline zur Türkei mit einer Länge von 500 bis 550 Kilometern und Kosten von um die 1,5 Milliarden Euro realisierbar und deutlich billiger wäre als die geplante EastMed-Pipeline von circa 2.000 Kilometern Länge (bis Kreta) und voraussichtlichen Kosten von mehr als 6 Milliarden Euro. Allerdings müsste Israel dafür eine langfristige Wette auf die Verlässlichkeit der Türkei eingehen, was angesichts der innenpolitischen Herausforderungen und der Volatilität der Region mit vielen Risiken verbunden wäre (siehe unten). Für Ankara hingegen würde der Aufbau einer Energiepartnerschaft mit Israel eine Bestätigung seines Gestaltungsanspruchs im östlichen Mittelmeer darstellen und helfen, die Energieabhängigkeit von Russland weiter zu reduzieren.
Russland deckte mit seinen Lieferungen 2021 rund 45 Prozent des türkischen Gasverbrauchs und ist auch ein wichtiger Handelspartner. Der aktuelle Krieg in der Ukraine erinnert die Türkei trotz ihrer stabilen Beziehungen zu Russland an die Notwendigkeit, ihre Energiequellen weiter zu diversifizieren und andere regionale Verbündete zu suchen. Mehrfach betonte Präsident Erdoğan in den vergangenen Monaten, dass die Türkei und Israel gemeinsam Gas nach Europa liefern sollten. Im Hinblick auf die Energieversorgungssicherheit sowohl für die Türkei als auch Europa ist hervorzuheben, dass die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer den südlichen Energiekorridor, der aus den Lieferungen aus dem Kaspischen Meer und dem Nahen Osten besteht, ergänzen könnten. Nach Angaben von Analysten könnte eine neue 500-Kilometer-Pipeline in zweieinhalb bis drei Jahren israelisches Gas in die Türkei leiten.
Ein großes Hindernis für den Bau einer israelisch-türkischen Pipeline bleibt die Zypernfrage. Es gibt zwei denkbare Routen für eine Pipeline zwischen Israel und der Türkei. Die erste und kostengünstigere Route würde durch den Libanon und Syrien verlaufen, was jedoch mit erheblichen sicherheitspolitischen Risiken verbunden wäre. Die zweite Route würde durch die umstrittenen Hoheitsgewässer Zyperns führen, was wiederum die Zustimmung der Republik Zypern erfordern würde, die von der Türkei nicht anerkannt wird. Ohne eine Lösung des seit Jahrzehnten andauernden Zypernkonflikts ist es daher aktuell schwer vorstellbar, wie diese Gaspipeline realisiert werden könnte. Außerdem haben sich die israelischen Beziehungen sowohl zu Zypern als auch zu Griechenland nach dem Zwischenfall auf der Mavi Marmara verändert und die von der Türkei hinterlassene Lücke in Israels regionaler Strategie geschlossen. Dabei übernahmen beide Staaten die traditionelle Rolle der Türkei bei gemeinsamen Marine- und Luftübungen mit Israel.
Innenpolitische Faktoren
Die volatile innenpolitische Lage in beiden Ländern könnte den Annäherungsprozess bremsen. In Israel ist die innenpolitische Situation fragil. Im Juni 2021 wurde Benjamin Netanjahu nach zwölf Jahren im Amt von einer Acht-Parteien-Koalition unter Naftali Bennett abgelöst. Ende Juni 2022 endete dieses Experiment bereits. Der Regierung gelang es nicht, die unterschiedlichen Strömungen von links bis rechts inklusive einer arabischen Partei zu vereinen. Für November dieses Jahres sind Neuwahlen angesetzt, deren Ausgang ungewiss ist. Es ist eine erneute Paralyse der Knesset zu befürchten, die in abermaligen Neuwahlen münden könnte. Dementsprechend unfähig ist die israelische Übergangsregierung – nun unter der Führung des alternierenden Premierministers Jair Lapid, größere Pipeline-Projekte mit der Türkei zu beschließen. Sollte erneut eine von Benjamin Netanjahu geführte Regierung ins Amt kommen, besteht die Gefahr, dass die Annäherungsversuche verpuffen. Während der vorherigen Amtszeit Netanjahus kühlten sich die türkisch-israelischen Beziehungen deutlich ab.
Zwar hat die aktuelle Regierung in der Türkei eine stabile Mehrheit, aber dennoch ist auch dort die innenpolitische Lage angespannt. Die Türkei befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise und ist nur noch etwas mehr als ein Jahr von den nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im hundertjährigen Jubiläum der Republik entfernt. Die regierende Adalet ve Kalkınma Partisi (AK-Partei) strebt nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Wirtschaftslage eine Normalisierung der Beziehungen zu regionalen Akteuren wie Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Saudi-Arabien und sogar Ägypten an. Ankara versucht, seine regionale Isolation zu beenden und das Vertrauen von Investoren wiederherzustellen. Die jüngste Annäherung der Türkei an diejenigen arabischen Staaten, die gute Beziehungen zu Israel pflegen, scheint die Normalisierung zwischen den beiden Staaten zu fördern. Es darf daher nicht außer Acht gelassen werden, zu welchem Zeitpunkt die türkische Initiative zur Rekalibrierung der Beziehungen stattfindet. In Verbindung mit der weltweiten geopolitischen Neuordnung im Zuge des Krieges in der Ukraine bietet sich für die aktuelle Regierung in Ankara ein willkommenes Zeitfenster, ihre eigenen außenpolitischen Positionen drastisch zu ändern, ohne innenpolitisch als schwach wahrgenommen zu werden. Israel wird daher von der Türkei konkrete Initiativen erwarten, bevor es einer echten Neuauflage der „strategischen Partnerschaft“ zustimmen wird.
Schlüsselfaktor Nahostkonflikt
Das hängt auch mit einer Dauerbelastung des türkisch-israelischen Verhältnisses zusammen: dem Nahostkonflikt. Der türkische Staatspräsident betont seit vergangenem Jahr zwar regelmäßig, dass er unter bestimmten Bedingungen offen für eine Verbesserung der Beziehungen zu Israel sei, obwohl er vorher die israelische Politik gegenüber den Palästinensern noch als „inakzeptabel“ bezeichnete, während Israel unterstrich, dass die Beziehungen nicht verbessert werden könnten, solange die Türkei nicht die Hamas ausweist. Allerdings drückte Ankara seinen Protest gegenüber den Abraham-Abkommen aus, indem kurz nach deren Unterzeichnung im August 2020 der Hamas-Führer Ismail Haniyeh und sein Stellvertreter Saleh al-Arouri in Istanbul empfangen wurden.
Im Dezember 2021 stellte Erdoğan dann in Aussicht, dass die beiden Länder wieder Botschafter austauschen könnten, wenn Israel „sensibler in Bezug auf seine regionale Politik gegenüber Palästina“ agiere. Einige Wochen später erklärte er, dass sich die Beziehungen zu Israel nach Telefonaten mit Premierminister Naftali Bennett und Staatspräsident Jitzchak Herzog verbessert hätten. Das Telefonat mit Bennett war der erste Kontakt zwischen einem israelischen Premierminister und Recep Tayyip Erdoğan seit 2013. Israel dürfte sich seinerseits wünschen, dass die Türkei die Rhetorik zu Israels Konflikt mit den Palästinensern entschärft. Gleichzeitig sieht sich die Türkei und insbesondere Präsident Erdoğan als Schutzpatron der Palästinenser und Jerusalems. Zuletzt verurteilte er auf einer Sitzung der AK-Partei das Vorgehen israelischer Sicherheitskräfte an der Al-Aqsa-Moschee und sprach von Palästina, Jerusalem und Al-Aqsa als roten Linien für die Türkei. Auch der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erklärte vor israelischen Journalisten, dass die Türkei eine „nachhaltige Beziehung“ zu Israel anstrebe, die jedoch von der Politik Israels gegenüber den Palästinensern abhängig sei. Aus Sicht Israels war ein weiterer positiver Schritt die Abschiebung dutzender Personen aus der Türkei, die mit der Hamas identifiziert wurden. Solange jedoch Hamas-Offizielle aus der Türkei heraus operieren können, wird eine vollkommene Normalisierung der Beziehungen nicht möglich sein.
Darüber hinaus verschärft sich die Sicherheitslage in Jerusalem und im Westjordanland stetig und eine neue Eskalation ist jederzeit möglich. Unabhängig davon, welcher Premierminister unter welcher Koalitionszusammensetzung in Israel im Amt ist – das Eskalationspotenzial im Nahostkonflikt bleibt groß. Im Falle einer Zuspitzung und angesichts der unterschiedlichen Interessenkonfiguration der Türkei und Israels hinsichtlich des Konflikts schwebt dieser wie ein Damoklesschwert über den (energiepolitischen) Annäherungsversuchen.
Veränderte Rahmenbedingungen im bilateralen Verhältnis
Seit dem letzten Versuch der Rekalibrierung der Beziehungen 2016 haben sich viele Variablen verändert. Während man in der Türkei zuversichtlich auf die Neuauflage der einst engen Beziehungen setzt, ist man in Israel deutlich skeptischer. In Israel ist die Ansicht verbreitet, dass die Türkei kein berechenbarer und zuverlässiger Akteur mehr ist. Im Jahr 2020 haben die israelischen Verteidigungskräfte in ihrer jährlichen Sicherheitsbewertung die Türkei zum ersten Mal als strategische Herausforderung für Israel bezeichnet. Die öffentliche und veröffentlichte Meinung Israels steht der Charmeoffensive Ankaras deswegen zurückhaltend bis skeptisch gegenüber. Die israelische Zeitung Jerusalem Post bezeichnete im März 2022 Präsident Erdoğan als „Wolf im Schafspelz“, dessen wirtschaftliche Nöte und drohende Isolation auf internationaler Ebene einzige Treiber für die plötzliche Kehrtwende in der Israelpolitik seien. Gleichzeitig bemüht sich Ankara ernsthaft, der israelischen Öffentlichkeit und Politik seine Absichten als ehrlich zu präsentieren und arbeitet proaktiv an positivem Messaging. Nach dem Besuch des türkischen Außenministers in Israel sprach dieser davon, dass die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Israel einen „positiven Einfluss“ auf eine „friedliche“ Lösung des Palästinakonflikts haben werde, womit sich die türkische Position im Nahostkonflikt der von Marokko, den VAE und Bahrain annähert. Dennoch verläuft der Annäherungsprozess zwischen beiden Staaten langsam. Der zunächst angekündigte Besuch des türkischen Energieministers zusammen mit dem Außenminister verschwand kurzfristig von der Agenda.
Auch im Rüstungsbereich haben sich die Verhältnisse geändert. War Ankara 2009 noch der größte Abnehmer israelischer Rüstungsexporte, hat Israel mit Indien und Aserbaidschan kaufkräftige Ersatzabnehmer gefunden, deren Importe von israelischen Waffen die damaligen Importe der Türkei um ein Vielfaches übersteigen.
Nach der Normalisierung der Beziehungen im Rahmen der Abraham-Abkommen mit den VAE, Bahrain, Marokko und dem Sudan ist Israel außerdem nicht mehr auf seine diplomatische Präsenz in der Türkei als Stützpunkt in der muslimischen Welt angewiesen. Zwar dürfte eine Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts auf Dauer auch die Beziehungen zwischen beispielsweise den VAE und Israel belasten, wie die jüngsten Eskalationen auf dem Tempelberg gezeigt haben. Andererseits deutet das kürzlich unterzeichnete Freihandelsabkommen mit den Emiraten darauf hin, dass sich die Kooperation zwischen beiden Ländern schnell vertieft. Das historische Energieabkommen mit Ägypten und der EU wird auch in dieser Hinsicht zu einer weiteren Stabilisierung der israelischen Nachbarschaftsbeziehungen beitragen und die ägyptisch-israelischen Beziehungen vertiefen.
Außerdem hat Israel seine Beziehungen zu anderen Akteuren im Mittelmeerraum gestärkt. Es liegt im Interesse des Landes, die guten Beziehungen zu Griechenland und Zypern nicht zu gefährden. Insofern steht der israelischen Regierung eine Reihe von Optionen offen – sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Das stärkt die Verhandlungsmacht Israels gegenüber der Türkei.
Dementsprechend zurückhaltend wurde der jüngste Besuch des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu in Israel aufgenommen. Einige Medien betonten aber auch die positiven Aspekte des Besuchs. Allerdings standen im Mittelpunkt der Berichterstattung andere Fragen als eine künftige Energiepartnerschaft mit der Türkei. Das Medienecho konzentrierte sich vor allem auf die Möglichkeit, dass beide Länder erneut Botschafter austauschen, die türkische Position zum Nahostkonflikt und vor allem die Beziehungen der Türkei zur Hamas. Zudem dominierte in israelischen Medien das Thema, dass Außenminister Çavuşoğlu den Tempelberg in Jerusalem ohne israelische Offizielle besuchte. Eine potenzielle Energiepartnerschaft fand hingegen keine Erwähnung. Stattdessen verkündete der Generaldirektor des israelischen Energieministeriums, Lior Schillat, man verhandele mit der EU über den Export israelischen Gases über Ägypten, was wenige Wochen später nach einem Besuch der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auch zu einem Abschluss kam.
Konsequenzen für Deutschland und die Europäische Union
Die Aussichten auf Verbesserung der bilateralen Beziehungen zwischen beiden Staaten sind noch unklar. Allerdings hat eine Veränderung im bilateralen Verhältnis zwischen der Türkei und Israel immer auch Implikationen für Deutschland und Europa. Eine Annäherung und mögliche engere Kooperation würde maßgeblich zur Stärkung der regionalen Stabilität im Nahen Osten und östlichen Mittelmeer beitragen und wäre ein Schritt in Richtung einer Deeskalation für Konflikte in der Region. Hinzu kommt, dass eine israelisch-türkische Zusammenarbeit die internationalen Bemühungen um eine Eindämmung und langfristig denkbare Reintegration Irans in die internationale Gemeinschaft unterstützen würde. Eine Wiederannäherung zwischen Israel und der Türkei würde helfen, eine gemeinsame Position gegenüber Teheran zu finden.
Ferner ist, trotz des ägyptisch-israelischen LNG-Deals, vor allem eine Energiepartnerschaft zwischen Israel und der Türkei im Interesse der europäischen Energiesicherheit. Zwar hat die EU ambitionierte klimapolitische Ziele – bis zum Jahr 2050 soll Europa klimaneutral sein, womit langfristig die Gasfelder im östlichen Mittelmeerraum an Bedeutung verlören –, doch spielt mittelfristig Erdgas als Brückentechnologie für die Klimaneutralität eine wichtige Rolle, die durch die notwendige Diversifizierung im Zuge des Krieges Russlands gegen die Ukraine weiter zugenommen hat. Die Bundesrepublik unterstützt grundsätzlich den European Green Deal, den Ursula von der Leyen im Dezember 2019 im Europäischen Rat vorstellte. Für die EU besteht allerdings auch die dringende Aufgabe, mittelfristig unabhängiger von russischem Gas zu werden, solange diese Ressource zur Energiegewinnung noch benötigt wird. Daraus ergibt sich für Deutschland (genauso wie für die EU) ein Zielkonflikt. Konkret konkurrieren hier die außenpolitischen Ziele der regionalen Integration, Konflikteindämmung und des Multilateralismus mit dem Ziel des globalen Klimaschutzes, das unter der grünen Außenministerin Annalena Baerbock im Auswärtigen Amt prioritär behandelt wird. Die Frage, ob Deutschland oder die EU eine mögliche Pipeline zwischen israelischen Gasfeldern und der Türkei unterstützen soll, muss dabei unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Neben klimapolitischen Zielen sollten auch geopolitische Faktoren wie regionale Stabilität, Konfliktbeilegung und Potenziale der regionalen Integration in Betracht gezogen werden.
Die Aussicht auf eine Entspannung des israelisch-türkischen Verhältnisses sowie eine daraus möglicherweise resultierende Entspannung des Zypernkonflikts sollten daher berücksichtigt werden. Israel hat in den vergangenen Jahren strategische Beziehungen mit Zypern aufgebaut und folglich ein Interesse an einer Lösung des Konflikts. Insbesondere in der volatilen Sicherheitslage sowohl in Israel und den Palästinensischen Gebieten als auch der Region insgesamt sollten Chancen der Annäherung genutzt werden, wenngleich dafür Kosten in Kauf genommen werden müssen. Die Position der Bundesrepublik wird jedoch aufgrund der EU-Mitgliedschaft der Republik Zypern auch von deren Sensibilitäten beeinflusst werden. Es ist im Interesse Deutschlands, eine Lösung zu finden und sich für eine Einbindung der Türkei in regionale Energieformate einzusetzen. Dadurch könnten die Spannungen zwischen der Türkei und ihren Nachbarn gesenkt und in einen institutionalisierten Rahmen verlagert werden.
Unabhängig davon wäre es wünschenswert, würden sowohl Deutschland als auch die Europäische Union die sich abzeichnende Re-Normalisierung zwischen Israel und der Türkei unterstützen und positiv begleiten. Es ist zu begrüßen, dass wieder vermehrt Austausch stattfindet und Kanäle geschaffen werden, um konkrete Kooperationsfelder zu eruieren. Beide Länder sind Schlüsselstaaten für die Bundesrepublik in der Region – eine Wiederannäherung kann nur von Interesse sein. Während im Nahen Osten Trends zur Eskalation und Annäherung parallel zu beobachten sind, ist ein mögliches Rapprochement zwischen der Türkei und Israel ein positives Zeichen. Eine regional wieder integrierte Türkei, zusammen mit Israel und seinen neuen Partnern am Golf, kann die Stabilität in dieser krisenerschütterten Region nur stärken.
Philipp Burkhardt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auslandsbüro Israel der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Nils Lange ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auslandsbüro Türkei der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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