Ausgabe: 3/2020
Die Frage nach der Zukunft internationaler Ordnung trifft mit dem Nahen Osten und Nordafrika eine Region, die im letzten Jahrzehnt ganz besonders aus den Fugen geraten ist. Jenseits des innenpolitischen Reformdrucks in vielen Ländern, deren Regierungs- und Wirtschaftsmodelle überholt sind, befindet sich auch die regionale Ordnung im Umbruch. Diese ist derzeit vor allem durch Staatszerfall, das oft gewaltsame Aufbrechen identitärer Konfliktlinien und das geopolitische Kräftemessen von Regionalmächten gekennzeichnet. Allianzbildung, Bilateralismus und Hegemonialstreben dominieren die geopolitische Neusortierung im Nahen Osten und in Nordafrika. Doch kein Staat der Region kann seine – teils existenzbedrohlichen – politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Krisen allein lösen. Die fortdauernden regionalen Konflikte binden die dafür nötigen Ressourcen und haben vor allem den Einfluss externer Akteure wachsen lassen. Der große multilaterale Wurf ist dennoch nicht zu erwarten. Multilateralismus als prinzipienbasiertes und normativ grundiertes Ordnungsprinzip in der Gesamtregion wird jedenfalls kurz- und mittelfristig nicht zu erreichen sein. Auch die historische Analyse lehrt, dass die großen regionalen Ordnungsentwürfe letztlich gescheitert sind. Aber die betroffenen Staaten könnten in den nächsten Jahren aus Eigeninteresse heraus multilaterale Kooperationsformate entwickeln oder ausbauen, die sich auf bestimmte wirtschafts- und sicherheitspolitische Problemstellungen fokussieren und auf kleinere geografische Einheiten (wie Golf, Maghreb, Levante) beschränkt bleiben.
Regionale Ordnungsversuche und ihr Scheitern
Seit dem Ende des Osmanischen Reiches vor einhundert Jahren versuchen sowohl externe Akteure als auch Staaten und politische Bewegungen in der Region selbst, ihre Vorstellungen einer neuen regionalen Ordnung und damit auch eine bestimmte Form multilateraler Zusammenarbeit durchzusetzen.
Den Anfang hierbei machten Frankreich und Großbritannien noch während des Ersten Weltkriegs mit dem berühmt-berüchtigten Sykes-Picot-Abkommen, das eine Aufteilung des Nahen Ostens in Interessensphären vornahm. Versuche, die Staaten der Region nach ihrer Unabhängigkeit durch Kooptation und/oder Installation von gefügigen Herrschern sowie durch Militärallianzen wie den Bagdad-Pakt ins westliche Lager einzubinden, scheiterten schließlich. Grund war das Aufbegehren des arabischen Nationalismus als Massenbewegung, der zahlreiche Anhänger gerade auch in den Armeen der arabischen Länder fand.
Der arabische Nationalismus hatte als einigende Ideologie die Unabhängigkeitsbewegungen geleitet und wurde in den 1950er und 1960er Jahren insbesondere vom ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser in der Form des Panarabismus mit über den Nationalstaat hinausreichenden politischen Ambitionen vorangetrieben. Nassers panarabisches Projekt etablierte dabei als grundlegende Normen einen Antikolonialismus und die Ablehnung externer Allianzbildung. Maßgebend war ebenso die Ablehnung Israels sowie die Unterstützung der Palästinenser und das zumindest rhetorische Bekenntnis zur friedlichen innerarabischen Konfliktbeilegung innerhalb der bereits 1945 gegründeten Arabischen Liga. Zu diesen Normen hatten sich nahezu alle arabischen Regimes zu bekennen. Der Panarab-ismus als Ideologie erwies sich jedoch als zu schwach, um Nassers Anspruch einer regionalen Ordnung umsetzen zu können und seine politischen und sozioökonomischen Versprechen zu erfüllen. Insbesondere Saudi-Arabien lehnte die säkulare, republikanische und sozialistisch inspirierte Ideologie ab und positionierte sich als Führer der arabischen Monarchien sowie als Gegengewicht zu Ägypten. Auch die Führer der Staaten, die Nasser ideologisch näherstanden, fürchteten, dass unter dem Deckmantel des Panarabismus letztlich eine ägyptische Hegemonie legitimiert werden sollte, der auch sie sich unterordnen müssten. Panarabische Experimente wie die Vereinigung Ägyptens und Syriens (1958 bis 1961) scheiterten. Anstelle einer panarabischen Integration konsolidierte sich ab den 1970er Jahren ein multipolares Staaten-system, das etwa im Rahmen der regelmäßigen Gipfeltreffen der Arabischen Liga einen minimalen institutionellen Rahmen erhielt und mit wechselhaftem Erfolg gemanagt wurde.
Seit den 1970er Jahren kam es durch Gruppen wie die Muslimbrüder sowie getragen von staatlichen Akteure wie Saudi-Arabien zu einem allmählichen Erstarken des politischen Islams, der sich gegen die säkularen Herrschaftssysteme richtete. Die Rückkehr des Religiösen führte auf innerstaatlicher und auf regionaler Ebene zu einer weiteren Destabilisierung, die nach der islamischen Revolution im Iran 1979 noch durch die konfessionelle Konfliktlinie zwischen Schiiten und Sunniten verschärft wurde.
In den 1990er Jahren initiierte die Europäische Union mit dem Barcelona-Prozess einen externen Versuch der Schaffung multilateraler Kooperationsformen im Mittelmeerraum. Ziel der Initiative war es, einen Raum des Friedens, der Stabilität und des gemeinsamen Wohlstands durch politische, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Partnerschaften im Mittelmeerraum zu errichten. Auch diese Initiative blieb jedoch hinter den Erwartungen zurück, da sich die arabischen Herrscher demokratischen Veränderungen verweigerten und wirtschaftliche Reformen nur teilweise umgesetzt wurden oder zu sozialen Problemen führten. Stillstand und Rückschritte im bilateralen Nahost-Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern resultierten zudem in einer Stagnation des multilateralen Barcelona-Prozesses und seines Nachfolgeprojekts, der 2008 gegründeten Union für das Mittelmeer.
Auch die amerikanischen Vorstellungen für die Errichtung einer demokratischen politischen Ordnung der Region erwiesen sich als wenig tragfähig. Nach den Anschlägen des 11. September 2001 wurde die amerikanische Politik des Dual Containment von Irak und Iran durch eine Strategie abgelöst, in der auf einen extern erzwungenen Regimewandel die Demokratisierung folgen sollte. Dieser Ansatz kam 2003 im Irak zur Anwendung – und scheiterte dramatisch. Der irakische Diktator Saddam Hussein wurde durch eine US-geführte Invasionsarmee gestürzt. Eine Stabilisierung des Landes misslang jedoch und der Irak ist bis heute Schauplatz regionaler Machtkämpfe und des Aufkommens dschihadistischer Milizen.
Im Zuge der Massendemonstrationen des sogenannten Arabischen Frühlings 2011 und angesichts der dabei vorgetragenen gemeinsamen politischen und sozioökonomischen Forderungen konnte man kurzzeitig den Eindruck haben, der Nahe Osten und Nordafrika stünden vor einer demokratischen Revolution. Doch die Hoffnung auf eine regionale Demokratisierungswelle fand ein jähes Ende in den Bürgerkriegen Syriens und Libyens. Anstatt einer demokratischen Neuordnung der Region entwickelte sich eine Gegenbewegung, an deren Spitze sich Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) setzten, die über regionale Organisationen wie den Golfkooperationsrat (GKR) sowie bi- und multilaterale Initiativen autoritären Herrschern zur Hilfe eilten. Damit betrieben sie eine Restauration des Status quo ante und entwickelten sich zu authoritarian centers of gravity. Eine regionale Stabilisierung resultierte jedoch auch daraus nicht.
Die großen (ideologischen bzw. realpolitischen) Ordnungsansätze konnten sich zwar nicht dauerhaft und gesamtregional durchsetzen, haben aber einige „Ordnungselemente“ etabliert, die bei der gegenwärtigen und künftigen Suche nach Kooperationsmodellen eine Rolle spielen können – sei es das Bemühen um das Zurückdrängen externen Einflusses, wie es während der panarabischen Unabhängigkeitsbewegungen im Mittelpunkt stand, oder die Frage nach der Herrschaftslegitimation, die der Arabische Frühling prominent auf die Agenda gesetzt hat. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass angesichts des Umbruchs in der Region multilaterale Zusammenarbeit derzeit vor allem auf geografisch überschaubarer Ebene mit einer kleineren Zahl von Akteuren und politikfeldspezifischer Ausrichtung möglich ist.
Von der Anti-Iran-Allianz zu einem regionalen Sicherheitsdialog am Golf?
Es war die Sorge vor einem gemeinsamen Feind, die 1981 zur Gründung des Golfkooperationsrates führte. Die sechs arabischen Golf-Monarchien – Saudi-Arabien, Kuwait, Oman, Bahrain, Katar und die VAE – wollten sich so gegen das iranische Regime wappnen, das sich den Revolutionsexport auf die Fahnen geschrieben hatte. Zwar stellten sie 1984 eine bis zu 10.000 Mann starke Eingreiftruppe (Peninsula Shield Force) auf, doch das Bemühen um eine Politikkoordination im GKR blieb, bis auf einige Beschlüsse im Wirtschaftsbereich, letztlich begrenzt. Auch mit Blick auf außenpolitische Fragen bestand selten Einigkeit. Nachdem Saudi-Arabien und die VAE 2017 eine bis heute andauernde Blockade über Katar verhängten, ist der GKR in seiner Handlungsfähigkeit gelähmt.
Alle GKR-Staaten vertrauten stattdessen von Anfang an auf eine externe Macht, welche die Iraner in Schach halten sollte: die USA. Aufbauend auf der schon seit Ende des Zweiten Weltkriegs bestehenden Sicherheitspartnerschaft mit Riad erhöhte Washington seine militärische Präsenz in der Region seit Ende der 1980er Jahre kontinuierlich, vor allem in Folge des Golfkrieges 1991. Das gemeinsame Interesse Washingtons und der Golf-Monarchien an der Eindämmung der beiden Regionalmächte Irak und Iran sowie an der Sicherung der, für den Ölexport so wichtigen, Seehandelswege wurde dabei durchaus erfolgreich umgesetzt. Doch ein kooperatives regionales Sicherheitssystem entstand daraus nicht. Anstelle von multilateraler Zusammenarbeit vertieften sich die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und den arabischen Golfstaaten, die sich mit amerikanischen Waffen ausstatteten und Stützpunkte für amerikanische Truppen bereitstellten. In wichtigen regionalen Fragen – vom arabisch-israelischen Konflikt bis zum Irakkrieg 2003 – waren Washington und seine Partner am Golf gleichwohl unterschiedlicher Ansicht.
Während der Amtszeit von Präsident Barack Obama vertiefte sich die Entfremdung. Die Ölförderung in den USA mittels Fracking und die strategische Ausrichtung nach Asien veränderten das Kalkül in Washington. Die Golf-Monarchien empfanden ihrerseits Obamas Befürwortung der Demokratiebewegungen des Arabischen Frühlings 2011 als Affront und befürchteten eine Stärkung Irans durch das Atomabkommen (JCPOA) von 2015. Die Hoffnung gerade der Europäer, aus dem international verhandelten JCPOA würde sich sukzessive eine umfassende regional verankerte Sicherheitsarchitektur entwickeln, erfüllte sich nicht.
US-Präsident Donald Trump änderte mit dem einseitigen Ausstieg aus dem JCPOA 2018 und seiner maximum-pressure-Kampagne die amerikanische Iranpolitik schließlich grundlegend und suchte dafür den Schulterschluss mit den GKR-Staaten. Doch die USA reagierten bemerkenswert zurückhaltend, als Iran (bzw. verbündete Milizen) 2019 mit Anschlägen auf Tankerschiffe und eine saudische Ölanlage (die vorübergehend die saudische Erdölproduktion halbierten) das Bedrohungspotenzial für die Golfstaaten drastisch vor Augen führten. Im Zuge der Eskalation der amerikanisch-iranischen Auseinandersetzung im Irak zur Jahreswende 2019/2020 (Angriff irantreuer Milizen auf die US-Botschaft und Tötung des iranischen Generals Soleimani durch die USA) entging die Region nur knapp einem Flächenbrand.
Auf beiden Seiten des Persischen Golfs mehren sich vor diesem Hintergrund die Bemühungen, Spannungen zu reduzieren und einen Kriegsausbruch zu verhindern, den weder die von den US-Wirtschaftssanktionen gebeutelten Iraner noch die mit ihrer eigenen ökonomischen Transformation beschäftigten Golf-Monarchien wollen. Die Coronakrise, die weitere Ressourcen bindet, könnte das Interessenkalkül zugunsten einer sicherheitspolitischen Deeskalation noch verstärken. Positive Signale in diese Richtung sendeten gerade auch die VAE, die medizinische Hilfsgüter zur Bewältigung der Coronakrise an Iran lieferten. Auch zu Stellvertreterkonflikten mutierte Dauerkrisen wie im Jemen könnten sich letztendlich für die Regionalmächte als zu kostspielig erweisen. Abu Dhabi verkündete bereits im vergangenen Jahr seinen Truppenabzug. Riad rief im Zuge der Coronapandemie im April 2020 eine einseitige Waffenruhe im Jemen aus. Zwischen den VAE und Iran hatte es bereits in der zweiten Jahreshälfte 2019 mehrere geheime diplomatische Treffen gegeben. Über pakistanische und irakische Vermittlung streckten auch die Saudis ihre Fühler nach Teheran aus.
Der iranische Präsident Hassan Rohani schlug seinerseits in einer Rede vor den Vereinten Nationen im September 2019 eine Hormuz Peace Endeavour (HOPE) genannte regionale Dialog-initiative vor. Dabei sollten sich die Anrainerstaaten des Persischen Golfs unter Beteiligung der Vereinten Nationen auf gemeinsame Prinzipien wie die Achtung nationaler Souveränität und territorialer Integrität einigen und Mechanismen zur friedlichen Konfliktlösung entwickeln. In einem ebenfalls im vergangenen Jahr unterbreiteten Vorschlag für ein „kollektives Sicherheitskonzept am Persischen Golf“, der auch von China befürwortet wurde, forderte Russland den Abzug nichtregionaler Truppen aus der Region – gemeint sind dabei die USA, die allein in Bahrain, Kuwait und Katar noch 30.000 Soldaten stationiert haben. Trotz ihres schwindenden Vertrauens in die amerikanischen Sicherheitsgarantien werden die arabischen Golfstaaten solch eine Forderung nicht akzeptieren.
Doch vorstellbar ist, dass durch verschiedene, sich gegebenenfalls überlappende regionale Gesprächsformate – mit internationaler Beteiligung – ein GKR-Iran-Dialog entsteht. Die maritime Sicherheit ist mit Blick auf den Öl- und Gasexport aus dem Nahen Osten und Nordafrika (der mittlerweile zu 90 Prozent nach Asien geht) sowie die internationalen Handelswege nicht nur für die Anrainerstaaten von gemeinsamem Interesse. Eine solche flexible „Multilateralisierung“ unter Einbindung mehrerer internationaler Garantiemächte könnten das Misstrauen sowohl zwischen der saudischen und iranischen Achse als auch zwischen Washington und Teheran reduzieren. Neben der im November 2019 lancierten US-geführten Operation Sentinel (IMSC), an der unter anderem Großbritannien, Australien, Saudi-Arabien, Bahrain und die VAE beteiligt sind, entwickelten mehrere EU-Staaten unter der Führung Frankreichs eine eigene Mission (EMASOH), die politisch auch von Deutschland unterstützt wird. Anfang 2020 schickten Japan und Südkorea jeweils eigene Marinekräfte in die Region, um ihre Handelsflotte zu schützen. Die bessere – und möglicherweise institutionalisierte – Koordinierung solcher Missionen wäre ein Schritt zu einer möglichst inklusiven multilateralen Kooperation im Bereich maritimer Sicherheit und damit ein erster Baustein für einen regionalen Sicherheitsdialog.
Das brachliegende Potenzial der Wirtschaftskooperation im Maghreb
Seit Langem wird beklagt, dass der Maghreb als geografische und kulturelle Subregion sein Integrations- und Kooperationspotenzial nicht ausschöpft, gerade auch im wirtschaftlichen Bereich. Nur drei bis fünf Prozent ihres Handels betreiben die fünf Maghreb-Staaten (Mauretanien, Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen) untereinander. Von den ausländischen Direktinvestitionen in dieser Region ist weniger als ein Prozent intermaghrebinisch. Der damit einhergehende Wohlstandsverlust wird auf ein bis fünf Prozent des jährlichen Wachstums pro Land geschätzt.
Nachdem sich die Länder nach ihrer Unabhängigkeit von Frankreich (im Falle Libyens von Italien) in den 1950er Jahren und Anfang der 1960er Jahre sehr unterschiedlich entwickelten, waren die frühen Einigungsbestrebungen rasch zum Erliegen gekommen. Doch nicht zuletzt angesichts ökonomischer Schwierigkeiten (ausgelöst durch einen sinkenden Ölpreis und den Beitritt Spaniens und Italiens zum europäischen Binnenmarkt) gründeten die Maghreb-Staaten 1989 die Union des Arabischen Maghreb (UMA). In deren Charta setzen sie sich eine „gemeinschaftliche Politik“ in den Bereichen Äußeres, Verteidigung, Wirtschaft und Kultur sowie die „sukzessive Herstellung“ des freien Verkehrs von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital zum Ziel. Doch die anfängliche Euphorie zerschellte bald am nationalstaatsorientierten Handeln der autoritären Regime und vor allem an den politischen Streitigkeiten zwischen Algerien und Marokko, deren gemeinsame Landgrenze seit 1994 geschlossen ist. Seither fand auf Ebene der Staatschefs kein Gipfeltreffen mehr statt.
Große Integrationsschritte sind ohne eine algerisch-marokkanische Annäherung und die dafür nötige Beilegung des Westsahara-Konflikts nicht zu erwarten. Doch bereits seit einigen Jahren gewinnen Initiativen für multilaterale Kooperation in Bereichen wie Finanzen und Infrastruktur zumindest wieder etwas an Dynamik. Basierend auf einem formalen Beschluss der UMA von 1991 wurde 2017 in Tunis die Maghrebinische Bank für Investitionen und Außenhandel (BMICE) eröffnet. Mit einem Anfangskapital von 500 Millionen US-Dollar ausgestattet soll sie den intramaghrebinischen Handel befördern und in regionale Projekte investieren. Das Sekretariat der UMA hat jüngst außerdem eine Machbarkeitsstudie für die ebenfalls seit Langem geplante transmaghrebinische Eisenbahnlinie erstellen lassen und will nun Investoren hierfür gewinnen.
Der politische Wille, solche Initiativen voranzutreiben, könnte mit steigendem ökonomischem Druck zunehmen. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum der letzten fünf Jahre betrug in den Maghreb-Staaten weniger als 2,5 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit durchschnittlich 25 Prozent. Der Verfall der Erdöl- und Erdgaspreise stellt das bürgerkriegsgeplagte Libyen sowie Algerien vor ungeahnte ökonomische Herausforderungen. Die weltweite Krise durch die Coronapandemie verschärft den wirtschaftlichen Druck auf die Maghreb-Staaten zusätzlich. Gerade Marokko und Tunesien werden von einer Rezession in der EU, in die sie einen Großteil ihrer Waren exportieren (Marokko 60 und Tunesien 80 Prozent), hart getroffen. Zudem arbeiten in beiden Ländern Hunderttausende in der Corona-gebeutelten Tourismusbranche (mit einem Beitrag von jeweils rund sieben Prozent zum Bruttoinlandsprodukt). Die Coronapandemie unterstreicht außerdem die Bedeutung regionaler Wertschöpfungsketten, die weniger anfällig für weltweite Krisen sind und die durch eine verbesserte intramaghrebinische Wirtschaftskooperation geschaffen werden könnten.
Wie bedrohlich die ökonomische Perspektivlosigkeit der jungen Gesellschaften für die politische Stabilität dieser Länder sein kann, haben der Arabische Frühling 2011 und auch die „Hirak-Proteste“ in Marokko (2016 bis 2017) und Algerien (2019 bis 2020) den Regierenden hinreichend vor Augen geführt. Hinzu kommt, dass mit Abelmajid Tebboune in Algerien seit Dezember 2019 ein neuer Staatspräsident amtiert, der alte außenpolitische Blockaden auflösen könnte und seiner Bevölkerung zudem dringend wirtschaftliche Erfolgsprojekte präsentieren muss.
Gasfelder im östlichen Mittelmeerraum: regionale Zusammenarbeit statt geopolitischer Konfrontation?
In den letzten Jahren wurden im östlichen Mittelmeerraum erhebliche Erdgasvorkommen entdeckt. Besonders große Erdgasfelder befinden sich innerhalb der israelischen und der ägyptischen Wirtschaftszonen sowie vor Zypern. Vor der Küste des Gaza-Streifens und des Libanon wurden ebenfalls kleinere Erdgasfelder entdeckt, weitere Vorkommen werden in der Gesamtregion vermutet. Alle Anrainerstaaten hoffen auf erhebliche Wohlfahrtsgewinne durch die Sicherung ihrer eigenen Energieversorgung und den Export von Erdgas. Die Vorkommen stellen auch eine politische Chance für die Region dar. Zur Ausbeutung der Felder und für den Export des Erdgases müssen technologische Infrastrukturen geschaffen werden, deren Aufbau und Unterhalt effizienter und kostengünstiger zu betreiben sind, wenn die Länder der Region dabei zusammenarbeiten. Über einen funktional-ökonomisch begründeten Ansatz zur Kooperation könnte somit auch ein positiver politischer Beitrag zu den regionalen Beziehungen geleistet werden. Eine Reihe bi- und multilateraler Ansätze lässt sich in dieser Richtung beobachten:
Die geografisch nächsten Abnehmer für israelisches Erdgas sind Jordanien und Ägypten. Jordanien ist auf Energieimporte angewiesen und wird u. a. von Israel durch zwei Pipelines beliefert. Ägypten ist aufgrund entsprechender Vorkommen vor seinen Küsten zwar nicht mehr von Importen abhängig, um seinen steigenden Binnenkonsum zu decken. Das Land hat jedoch in den letzten Jahren erhebliche Kapazitäten zur Verflüssigung von Erdgas aufgebaut, die es selbst nicht ausschöpfen kann. Daher hat es ein Interesse daran, sich als regionaler Exporthub zu etablieren – auch für israelisches Gas. Ägypten und Jordanien sind gleichzeitig zwei arabische Staaten, mit denen Israel einen Friedensvertrag hat, wenngleich es sich um einen „kalten“ Frieden handelt. Schwieriger ist die Situation zwischen Israel und dem Libanon, zwischen denen zwar ein Waffenstillstand besteht, die aber keine diplomatischen Beziehungen unterhalten. Doch auch in das israelisch-libanesische Verhältnis könnte aufgrund der Erdgasvorkommen Bewegung kommen, da beide Staaten ihre Seegrenze festlegen müssen; die Verhandlungen darüber stehen aber noch am Anfang.
Über die Gründung des Eastern Mediterranean Gas Forum (EMGF) haben Ägypten, Israel, Jordanien, die Palästinensische Autonomiebehörde, Griechenland, Zypern und Italien zudem ein multilaterales Forum geschaffen, in dem sie die regionale Kooperation zu Energiefragen stärken und einen regionalen Erdgasmarkt samt entsprechenden Infrastrukturen aufbauen wollen. Die Zielsetzungen des EMGF gehen über koordinierend-technische Fragen hinaus und beinhalten Kooperationsansätze, die über nahöstliche Konfliktlinien hinweg reichen. So könnten wirtschaftliche Interdependenzen und damit gemeinsame Interessen geschaffen werden. Vorschläge zur Entwicklung der Kooperation, wie beispielsweise die Einrichtung eines virtuellen Energiehubs, gibt es zuhauf.
Gleichwohl lassen sich auch Initiativen identifizieren, die Impulsen für nahöstliche Kooperation entgegenlaufen. Besondere Aufmerksamkeit erfährt in diesem Zusammenhang die sogenannte EastMed Pipeline, mit der israelisches Erdgas über Zypern und Griechenland in die EU exportiert werden soll. Die Pipeline würde Israel zwar einen direkten Zugang zum europäischen Markt ermöglichen und damit sicherstellen, dass die schwierigen Beziehungen zu den regionalen Nachbarn keine Probleme für die Energieexportpolitik darstellen. Doch würden damit die Bemühungen, einen regionalen Erdgasmarkt zu schaffen, geschwächt und auch der energiewirtschaftliche Kooperationsbedarf zwischen Israel und Ägypten würde sinken. Eine weitere Herausforderung für die Entwicklung der regionalen Energiekooperation ist der Ausschluss der Türkei aus dem EMGF und den damit verbundenen Kooperationsinitiativen im Energiesektor. Die Aufnahme sicherheitspolitischer Themen im EMGF verstärkt die türkische Wahrnehmung, es handle sich dabei um eine antitürkische Initiative. Es besteht somit das Risiko, dass vorhandene geopolitische Konfliktlinien verschärft werden.
Durch die Entsendung von Marineschiffen und die Durchführung von Bohrungen vor der zypriotischen Küste versucht die Türkei, Ansprüche auf einen eigenen Anteil an den Erdgasvorkommen durchzusetzen. Die EU lehnt das türkische Vorgehen ab und hat darauf u. a. mit Sanktionen reagiert. Frankreich, dessen Energie-konzern Total an der Ausbeutung der Vorkommen beteiligt ist, hat seine militärische Präsenz in der Region ausgebaut. Sollen die Erdgasvorkommen die erhofften Wohlfahrts- und Kooperationseffekte für die Region entfalten, so gilt es, eine drohende militärische Eskalation zu verhindern. Einerseits muss Ankara die Versuche einstellen, durch unilaterale und völkerrechtlich höchst fragwürdige Schritte Zugriff auf Erdgasfelder zu bekommen. Andererseits ist die Frage zu klären, wie die Türkei als wichtiger Anrainerstaat und Stakeholder eingebunden werden kann. Besonderes Kooperationspotenzial mit der Türkei besteht auch mit Blick auf die Schaffung eines regionalen Erdgasmarkts im Rahmen des EMGF.
Schlussfolgerungen: Mit Multilateralismus Probleme lösen
Ansätze für Multilateralismus sind heute im Nahen Osten und Nordafrika durchaus präsent – allerdings vorwiegend als Handlungsprinzip im Sinne von Ad-hoc-Bündnissen, die auf einem geopolitischem Kalkül beruhen, das sich aus einer spezifischen Bedrohungswahrnehmung oder Hegemonialambition speisen kann. Dieses System der wechselnden Allianzen ist gerade angesichts der Identitätskonflikte, machtpolitischen Grabenkämpfe und heterogenen politischen Systeme in der Region bisher nicht in der Lage, die Grundlagen für eine substanzielle multilaterale Ordnung zu schaffen: Einigung auf gemeinsame Prinzipien und Vertrauen auf deren Einhaltung. Zugleich sind die sich gegenseitig verstärkenden politischen und sozioökonomischen Krisen dieser Region für viele Staaten – und ihre Regimes – existenzbedrohlich geworden. Die Machtwechsel in Tunesien, Ägypten und im Sudan, die Bürgerkriege in Libyen, in Syrien und im Jemen während der letzten Dekade sowie zuletzt die Proteste 2019 im Iran, im Libanon, im Irak und in Algerien führen dies drastisch vor Augen. Kooperation zur Steigerung von Sicherheit und Wohlfahrt liegt daher im Eigeninteresse der regionalen Akteure. Den Verzicht auf multilaterales Handeln im Sinne des Aufbaus nachhaltiger Kooperationsplattformen wird man sich im Nahen Osten und Nordafrika schlicht nicht mehr leisten können.
Am realistischsten sind die Aussichten für ein solches Unterfangen bei thematisch fokussierten Ansätzen. Dieser Multilateralismus wird ein problemorientierter sein und damit sektoral und subregional. Dass sich daraus – ähnlich wie bei der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Nachkriegseuropa – über funktionale spillover-Effekte allmählich eine regionale Ordnung entwickelt, mag angesichts der unterschiedlichen politischen Ausgangslagen als Vision für eine ferne Zukunft erscheinen. Doch jenseits der konkreten Kooperationsdividende würden damit schon heute Brücken über die geopolitischen Konfliktlinien geschlagen, welche die Region seit Jahren erschüttern und die innere Entwicklung vieler Staaten behindern.
Gerade angesichts des nach wie vor bestehenden Misstrauens untereinander ist die Einbettung internationaler Akteure in – sich bestenfalls überlappende – Zirkel multilateraler Kooperation unumgänglich. Für die EU könnte das eine große Chance sein. Allerdings braucht es in Brüssel dazu den Willen, die getroffenen Engagements dann auch selbstbewusst durchzusetzen und sich nicht in das Spiel der wechselnden Allianzen hineinziehen zu lassen oder dieses gar selbst zu befeuern. Denn es besteht immer auch die Gefahr, dass multilaterale Initiativen gegen bestimmte Akteure geschlossen werden und damit letztlich eine destabilisierende Wirkung haben. Außerdem sollten die Europäer nicht in eine verkürzte regime-zentrierte Betrachtung dieser Region zurückfallen. Vielmehr sollten sie darauf hinwirken, dass bei multilateralen Initiativen jenseits der staatlichen Zusammenarbeit, wo immer möglich, auch der Dialog der Gesellschaften befördert wird.
Michael Bauer ist Referent in der Abteilung Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Dr. Edmund Ratka war Referent in der Abteilung Naher Osten und Nordafrika und leitet ab November 2020 das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jordanien.
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