Ausgabe: 4/2020
Die Europäische Union (EU) ist der größte Handelsblock der Welt. Während ihre Handelspolitik darauf abzielt, Arbeitsplätze zu schaffen und Wirtschaftswachstum zu generieren, hat sie sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt, um die sich ändernden politischen Prioritäten in der Außenpolitik der Union zu unterstützen. So sind die wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu relevanten Komponenten der langfristigen Ambitionen der EU für eine nachhaltige Entwicklung geworden. Da ausländische Regierungen zunehmend auf protektionistische Maßnahmen setzen, wird das Bestreben der EU, die Handelspolitik zur Förderung der „europäische(n) Normen und Werte“ einzusetzen, wichtiger denn je. Die anhaltende COVID-19-Krise hat zu einer Stagnation des globalen Wirtschaftswachstums geführt und zu einem Rückgang des weltweiten Bruttoinlandsprodukts um bis zu 5,2 Prozent. In diesem Zusammenhang werden die Volkswirtschaften der Entwicklungsländer den Prognosen zufolge am stärksten leiden. Die EU mit ihrem Bekenntnis zu Multilateralismus, Freihandel und Sozialstandards sollte in Zeiten großer wirtschaftlicher Unsicherheit bei der Bewältigung dieser Herausforderungen eine Vorreiterrolle übernehmen.
Die EU verwaltet ihre globalen Handelsbeziehungen mit 72 Ländern mithilfe von 41 Handelsabkommen. Obwohl sich diese Abkommen in Rahmen und Umfang unterscheiden, entsprechen sie alle den Grundsätzen der Welthandelsorganisation (WTO). Freihandelsabkommen (FTA) gewähren entwickelten Ländern wie der Republik Korea (nachfolgend Südkorea) und aufstrebenden Volkswirtschaften wie der Sozialistischen Republik Vietnam (nachfolgend Vietnam) präferenziellen Marktzugang durch gegenseitige Marktöffnung.
Die Freihandelsabkommen decken derzeit mehr als ein Drittel des EU-Handels ab, könnten aber auf zwei Drittel ansteigen, wenn alle laufenden Verhandlungen abgeschlossen werden. Die neue Generation der EU-Präferenzhandelsabkommen strebt stärkere, wertebasierte Regelungen an. Alle umfassenden Handelsabkommen ab 2014 beinhalten deshalb spezielle Kapitel zu Handel und nachhaltiger Entwicklung.
Kapitel zu Handel und nachhaltiger Entwicklung
Eine Handelsliberalisierung birgt immer das Risiko, Arbeits- und Umweltstandards zu senken, um Kosten zu reduzieren. TSD-Kapitel wollen daher sicherstellen, dass die Wirtschaftsleistung nicht auf Kosten ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit geht, was schließlich zu einem „race to the bottom“ führt. Diese Kapitel sind Verpflichtungen der Handelspartner, multilaterale Arbeits- und Umweltgesetze durchzusetzen und ein nachhaltiges öffentliches Beschaffungswesen zu fördern. Bisher wurden sie in Handelsabkommen mit Ecuador, Georgien, Japan, Kanada, Kolumbien, Mercosur, Mexiko, Mittelamerika, Moldawien, Peru, Singapur, Südkorea, der Ukraine und Vietnam eingesetzt.
Obwohl die Nachhaltigkeitskapitel für die unterzeichnenden Parteien bindend sind, fällt ihre Umsetzung nicht unter den Streitbeilegungsmechanismus des Handelsabkommens. Sie unterliegen daher weder Streitbeilegungsverfahren noch wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen bei Nichteinhaltung. Stattdessen verfügen TSD-Kapitel über ihren eigenen Streitbeilegungsmechanismus mittels öffentlicher Kontrollmaßnahmen und der Zusammenarbeit mehrerer Verwaltungssektoren. Im Streitfall kann ein unabhängiger Vermittlungsausschuss aufgestellt werden, um den Fall zu untersuchen. Dessen Ergebnisse werden anschließend in einem Bericht vorgestellt und von beiden Handelspartnern überprüft, bevor der Ausschuss eine endgültige Entscheidung fällt. Die angeklagte Partei muss dann innerhalb einer Frist über ihre Maßnahmen zur Beseitigung der Missstände berichten.
Nachhaltigkeitskapitel schreiben den Vertretern der Zivilgesellschaft eine überwachende und beratende Rolle zu. In internen Beratungsgruppen (Domestic Advisory Groups, DAGs) überprüfen sie regelmäßig den Fortschritt in Bezug auf die Nachhaltigkeitsbestimmungen und fungieren als Wächter über deren Umsetzung. Die EU setzt für jedes Handelsabkommen eine DAG ein. Diese Gruppe trifft sich jährlich mit ihren Amtskollegen aus dem Partnerland. Um eine ausgewogene Vertretung aller Interessen zu gewährleiten, hat jede DAG eine Untergruppe für Arbeitgeber, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen.
Außerdem ernannte die Europäische Kommission im Juli 2020 einen Chief Trade Enforcement Officer, um die Nachhaltigkeitsverpflichtungen innerhalb der Freihandelsabkommen zu stärken. Der Beauftragte wird eng mit dem Handelskommissar zusammenarbeiten, Konsultationen über mutmaßliche Verstöße gegen die Nachhaltigkeitsverpflichtungen führen und, wenn nötig, Streitbeilegungsverfahren einleiten.
Obwohl die EU einiges unternommen hat, wird der Ansatz der Nachhaltigkeitskapitel oft als „zahnlos“ kritisiert. Der Hauptkritikpunkt: Die EU ist nicht willens, härtere Maßnahmen wie Zollbedingungen, den Entzug von Handelspräferenzen oder strengere Wirtschaftssanktionen umzusetzen, selbst wenn Beweise für die Nichteinhaltung durch einen Partner vorliegen. Stattdessen bevorzugt die EU einen fördernden Ansatz, bei dem „Regelungen die Einhaltung der Bestimmungen nicht an wirtschaftliche Konsequenzen knüpfen, sondern einen Rahmen für Dialog, Zusammenarbeit und/oder Überwachung bieten“, um weitergehende politische oder diplomatische Konsequenzen zu vermeiden. Dieser Ansatz unterscheidet sich grundlegend von einem an Bedingungen geknüpften Ansatz, der die Umsetzung von Sanktionen ermöglicht, wenn eine der Parteien die TSD-Vereinbarungen verletzt. Diese Option kann sowohl eine Konditionalität vor als auch nach der Ratifizierung beinhalten und wird häufig in Freihandelsabkommen der Vereinigten Staaten und Kanada genutzt.
Die Europäische Kommission ist sich der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit in ihren Nachhaltigkeitskapiteln durchaus bewusst. Nach einer Reihe von Konsultationen, 2017 mit einer Vielzahl von Interessengruppen eingeleitet, veröffentlichte die Kommission einen 15-Punkte-Aktionsplan. Die Vorschläge zielen auf eine höhere Durchsetzungsfähigkeit der Überwachungsrolle der Zivilgesellschaft und eine flexiblere Zusammenarbeit zwischen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ab. Außerdem sollen mehr EU-Mittel bereitgestellt werden, um die Einhaltung der Verpflichtungen zu gewährleisten. Dennoch war das aktuelle Modell bisher nicht in der Lage, signifikante Veränderungen im Kontext der Nachhaltigkeitsverbesserung zu bewirken. Daher forderten Frankreich und die Niederlande kürzlich die EU in einem gemeinsamen Vorschlag auf, die Zölle entsprechend der Erfüllung der Nachhaltigkeitsverpflichtungen zu erhöhen oder zu senken. Dieser gemeinsame Vorschlag greift eine häufige Forderung auf, „Nachhaltigkeitsanforderungen durchsetzbar, überprüfbar und sanktionierbar“ zu machen.
Obwohl die EU sich selbst als „vehementer Verfechter eines auf multilateralen Regeln basierenden Handelssystems“ sieht, zögert sie häufig, bei Nichteinhaltung der TSD-Vereinbarungen durch einen Handelspartner stärker durchzugreifen.
Der Fall Südkorea
Das Freihandelsabkommen EU-Südkorea, seit Juli 2011 angewandt und im Dezember 2015 ratifiziert, ist das erste Abkommen der neuen Generation zwischen der EU und einem asiatischen Partner. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es sehr ehrgeizig und hat zu erheblichen Verbesserungen in den bilateralen Handelsbeziehungen geführt. Südkorea war 2019 die siebtgrößte Export- und neuntgrößte Importnation der Welt. Nach Angaben der Europäischen Kommission haben europäische Unternehmen durch die Senkung oder Abschaffung von Zöllen bisher 2,8 Milliarden Euro eingespart.
Das Nachhaltigkeitskapitel des Freihandelsabkommens (Kapitel 13) nimmt unter anderem Bezug auf den Johannesburg-Aktionsplan von 2002 und die Ministererklärung des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen zu Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit von 2006. Um die Umsetzung der Umwelt- und Arbeitsbestimmungen zu gewährleisten, enthält das Kapitel eine Reihe von Überwachungs- und Konsultationsmechanismen. Dazu gehören festgelegte TSD-Kontaktpunkte, die Möglichkeit schriftlicher Anträge sowie die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses von Experten. Darüber hinaus kommen die DAGs und ein unabhängiger Ausschuss für Handel und nachhaltige Entwicklung (Committee on Trade and Sustainable Development, CTSD), bestehend aus hohen Beamten beider Seiten, regelmäßig zusammen.
Am 17. Dezember 2018 machte die EU zum ersten Mal von dem Schlichtungsmechanismus Gebrauch, indem sie eine schriftliche Anfrage einreichte „bezüglich bestimmter Maßnahmen, einschließlich der Bestimmungen des koreanischen Gewerkschaftsgesetzes, die mit Südkoreas Verpflichtungen in Bezug auf multilaterale Arbeitsnormen und Abkommen im Rahmen des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Korea unvereinbar zu sein scheinen“. Bei der ersten Streitfrage ging es um den Ausschluss eines Teils der Arbeitnehmerschaft von der Vereinigungsfreiheit. Nach dem koreanischen Gewerkschaftsrecht übt ein Arbeitnehmer eine Arbeit aus, von deren Lohn oder Gehalt er lebt. In der Praxis schließt das selbstständige, entlassene und arbeitslose Personen von der Vereinigungsfreiheit aus. Diese Klassifizierung von Arbeitnehmern wirkt sich auch auf die Definition von Gewerkschaft aus: Sobald Personen außerhalb der Arbeiter-Kategorie aufgenommen werden, gilt sie nicht länger als Gewerkschaft.
Darüber hinaus kritisiert die EU das koreanische Gewerkschaftsrecht dafür, dass es die Wahl von Funktionären nur über eigene Mitglieder vorsieht, dass es Ermessensspielraum bei den Zertifizierungsverfahren für Gewerkschaftsgründungen lässt und dass es der koreanischen Arbeitsverwaltung ermöglicht, Tarifvertragsänderungen zu beantragen. Des Weiteren lehnt die EU die Anwendung des Abschnitts 314 des koreanischen Strafgesetzes zur Behinderung bestimmter friedlicher Proteste durch Polizei und Staatsanwaltschaft ab. All diese Aspekte veranlassten die EU zu der Annahme, dass der Handelspartner gegen die Vereinbarungen des Freihandelsabkommens verstoßen habe. Südkorea wurde in dem Antrag auch ermahnt, vier grundlegende Konventionen der ILO zur Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Tarifverhandlungen nicht ratifiziert zu haben. Das beunruhigt die EU vor allem deshalb, weil das Abkommen seit mehr als acht Jahren besteht und Südkorea seit 2010 ein strategischer Partner bei der „Prägung globaler Veränderung und Förderung grundlegender Werte“ ist.
In den letzten Regierungskonsultationen zwischen der EU und Südkorea im Januar 2019 wurden dennoch „nicht alle von der EU vorgebrachten Bedenken zufriedenstellend behandelt“. Daraufhin legte die südkoreanische Regierung der Nationalversammlung einen Antrag auf Ratifizierung von drei der vier ILO-Übereinkommen im Mai 2019 vor. Die fragliche vierte Konvention über die Abschaffung der Zwangsarbeit wurde nicht aufgenommen, da sie nicht mit der südkoreanischen Wehrpflicht kompatibel ist – eine Gesetzesrevision wäre nötig. Doch in Anbetracht der wiederholt erklärten „Unverzichtbarkeit der Wehrpflicht inmitten der Konfrontation auf der koreanischen Halbinsel“ ist es unwahrscheinlich, dass die Ratifizierung dieser Konvention in absehbarer Zeit erfolgt. Dennoch hat die südkoreanische Regierung Gesetzesentwürfe vorgelegt zu Änderungen des innerstaatlichen Rechts, das momentan den jeweiligen ILO-Grundsätzen der Vereinigungsfreiheit und dem Recht auf Kollektivverhandlungen widerspricht. Die EU nimmt die positiven Entwicklungen zur Kenntnis. Allerdings bleiben Bedenken, ob in der Nationalversammlung eine ausreichende Mehrheit für die Gesetzesänderungen gefunden wird – sowie die mangelnde Bereitschaft der südkoreanischen Regierung, die Ratifizierung voranzubringen.
Das Expertengremium begann daher am 30. Dezember 2019 mit seiner Untersuchung. Der Bericht sollte zunächst bis Ende März 2020 vorgelegt werden. Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurde die Veröffentlichung des Berichts jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben. Aktuell ist unklar, ob die Empfehlungen der Experten zu einer Beilegung des Streits führen können. Der Schlichtungsmechanismus selbst sieht keine weiteren Schritte vor, falls sie von Südkorea nicht umgesetzt werden.
Im April 2020 fanden in Südkorea Wahlen zur Nationalversammlung, dem zuständigen Gremium für die Ratifizierung internationaler Verträge, statt. Die Wahlen, trotz der COVID-19-Pandemie planmäßig durchgeführt, brachten der Demokratischen Partei von Präsident Moon einen phänomenalen Sieg. Das Ausmaß des Koalitionssieges (180 von 300 Sitzen) macht es der konservativen Opposition nahezu unmöglich, wichtige Gesetze zu verhindern. Aufgrund des erhaltenen starken Mandats hat Moon die Möglichkeit, jedes Gesetz durchzusetzen, das seine politische Agenda unterstützt. Da der Einspruch der Oppositionsparteien gegen Änderungen der innerstaatlichen Gesetzgebung als Haupthindernis bei der Ratifizierung der ILO-Konventionen angesehen wurde, hat Südkorea nun die Gelegenheit, den Streit beizulegen, indem es seinen politischen Willen zur Umsetzung besserer arbeitsrechtlicher Bestimmungen unter Beweis stellt. Inwieweit die neue progressive Regierung dem TSD-Streitfall Priorität einräumen wird, ist jedoch fraglich. Angesichts einer Reihe geo- und sicherheitspolitischer Fragen in der Region ist es unwahrscheinlich, dass die Empfehlungen der Expertengruppe in Südkorea die gleiche Aufmerksamkeit erhalten wie in Europa.
Solange es Diskrepanzen zwischen dem koreanischen Gesetz zum Militärdienst und den ILO-Konventionen gibt, ist keine Ratifizierung zu erwarten. Angesichts der großen Bedeutung der Industriepolitik in Südkorea dürfte sich die Politik der Regierung auch weiterhin an den Interessen der Großunternehmen orientieren. Obwohl Südkorea über hohe Rechtsstandards und starke Gewerkschaften verfügt, zeigt es derzeit kein Interesse an der Einhaltung multilateraler Arbeitsübereinkommen. Dies ist auch auf eine starke Opposition von Unternehmenslobbygruppen zurückzuführen, die daran interessiert sind, die Gewerkschaften in Schach zu halten. Außerdem wird die EU primär als Handelspartner gesehen, dessen Organisation und Bewertung von politischen Prozessen sich grundlegend von den südkoreanischen unterscheidet.
Da es das erste Mal ist, dass die EU die Nichteinhaltung der TSD-Verpflichtungen durch einen Handelspartner anprangert, wird der Fall Südkorea zu einer Gelegenheit für die EU, sich als Vorkämpfer für Handel und Nachhaltigkeit zu präsentieren. Die offene Herangehensweise an den Streitfall war in dieser Hinsicht ein wichtiger erster Schritt. Wenn die EU jedoch will, dass die TSD-Kapitel zu einem sinnvollen Instrument einer umfassenden und systematischen Entwicklung werden, sollte sie sich nicht mit der Situation zufriedengeben.
Der Fall Vietnam
Vietnam ist eines der zehn Mitglieder des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN) und mittlerweile nach Singapur der zweitwichtigste Handelspartner der EU in der Region. Das EU-Vietnam-Freihandelsabkommen, seit 1. August 2020 in Kraft, wird den Marktzugang auf beiden Seiten durch einen substanziellen Zollabbau verbessern.
Seit dem ersten Tag dieses Abkommens sind 65 Prozent der EU-Exporte nach Vietnam und 71 Prozent der EU-Importe aus Vietnam zollfrei. Der Rest soll in einer Übergangszeit (maximal zehn bzw. sieben Jahre für EU- und vietnamesische Waren) liberalisiert werden.
Kapitel 13 skizziert die wichtigsten Verpflichtungen beider Parteien in Bezug auf ökologische Nachhaltigkeit und Arbeitnehmerrechte. Die Artikel 13.2 (1b) und 13.3 betonen das Recht der Parteien, Schutzmaßnahmen im Einklang mit der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung einzuführen. Diese Bestimmung hat es Vietnam in der Vergangenheit ermöglicht, Investitionen vor allem für die arbeitsintensive Produktion zu gewinnen, da das Land wettbewerbsfähige Löhne bietet. Artikel 13.3 zielt auch darauf ab, eine deutliche Herabsetzung ökologischer und arbeitsrechtlicher Standards zur Gewinnung relativer Handels- und Kostenvorteile zu verhindern.
Im Rahmen des Abkommens haben sich beide Parteien verpflichtet, die acht grundlegenden ILO-Konventionen zu ratifizieren und umzusetzen – und die ILO-Prinzipien bezüglich der grundlegenden Arbeitsrechte zu respektieren, zu fördern und wirksam umzusetzen. Das Abkommen sieht auch die Einbeziehung unabhängiger zivilgesellschaftlicher Akteure zur Überwachung dieser Umsetzung vor. Vietnam hat bereits Fortschritte bei der Erfüllung der Verpflichtungen zu verbesserten Arbeitsnormen erzielt. Bisher wurden die ILO-Konvention 98 zu Tarifverhandlungen im Juni 2019 ratifiziert und ein überarbeitetes Arbeitsrecht im November 2019 eingeführt. Darüber hinaus versprach die vietnamesische Regierung, die grundlegende ILO-Konvention zu Zwangsarbeit bis 2023 zu ratifizieren. Gegenwärtig gibt es in Vietnam nur einen einzigen legalen, staatlich geführten Gewerkschaftsbund: den Vietnam General Confederation of Labor (VGCL). Die VGCL ist weder von der regierenden Kommunistischen Partei noch von den Arbeitgebern unabhängig, da unabhängige Gewerkschaften derzeit verboten sind.
Die kürzlich ratifizierte Konvention 98 dürfte dazu beitragen, die Dominanz der Arbeitgeber in Gewerkschaften auf Unternehmensebene zu brechen, denn sie schreibt vor, dass die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen frei von gegenseitiger Einmischung sein sollen. Konvention 87, die Vietnam bis 2023 zu ratifizieren plant, wird unabhängige Arbeitnehmerorganisationen legalisieren und ihnen ein Arbeiten ermöglichen, ohne der Kommunistischen Partei unterstellt zu sein. Es ist beispiellos für einen sozialistischen Einparteienstaat, aktiv für Reformen zur Unabhängigkeit der Gewerkschaften zu werben.
Während in den letzten Jahren Gespräche zu den Konventionen 105 und 98 geführt wurden, ging Vietnam gleichzeitig hart gegen Aktivisten und Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter auch Gewerkschaftler, vor. Sogar Wissenschaftler, die kontroverse Themen wie die Gesundheit von Arbeitern erforschen, wurden Opfer von behördlichen Belästigungen. Es bleibt abzuwarten, wie die vietnamesischen Behörden ihr Verständnis des „freien Funktionierens von Gewerkschaften“ umsetzen werden, das dem Interesse des autoritären Staates nach Aufrechterhaltung seiner dominanten Macht widerspricht.
Die EU sieht zusammen mit internationalen NGOs, die in Vietnam tätig sind, die Herausforderungen einer angemessenen Überwachung der Durchsetzung von Arbeits- und Sozialrechten vor Ort. Daher sollten sich die beratenden Gremien von DAG und CTSD (in enger Zusammenarbeit mit den einschlägigen vietnamesischen Akteuren) darauf konzentrieren, klare Maßstäbe und Aktionspläne für die Überwachung und Bewertung der Umsetzung der ILO-Übereinkommen zu entwickeln. Die EU sollte sich proaktiv für eine enge Zusammenarbeit mit anderen Geldgebern einsetzen, um die Fähigkeit der vietnamesischen Akteure zum Aufbau nationaler und lokaler Kapazitäten zu stärken, damit sie die Umsetzung der Übereinkommen überwachen können. Darüber hinaus sollten die Stakeholder einen Wandel in der Unternehmenskultur anstreben, um Mängel transparent anzugehen und die Bedingungen für Arbeitnehmer zu verbessern.
Fazit: Die Anwendung einer intelligenten und fallabhängigen Diplomatie bei der Einführung von TSD-Kapiteln
Als größte Handelsmacht der Welt verfügt die EU über einen wichtigen Hebel, um Handelsabkommen im Einklang mit den Zielen der Handelsliberalisierung und, ebenso wichtig, der Förderung gemeinsamer öffentlicher Güter zu vereinbaren. Die Verknüpfung von Handelspolitik und Liberalisierungszielen mit anderen Entwicklungsvorhaben kann die Verpflichtung der Partnerländer auf internationale Konventionen und Verträge unterstreichen. Zwar haben die meisten EU-Handelspartner diese Verträge unterzeichnet, jedoch fehlt vielen noch immer der politische Wille oder die Fähigkeit zur Durchsetzung. Während der Fall Südkorea das Dilemma der praktischen Durchsetzung von TSD-Verpflichtungen zeigt, macht der Fall Vietnam deutlich, wie Nachhaltigkeitsverpflichtungen von den Handelspartnern unterschiedlich interpretiert werden können. Wenn die Nachhaltigkeitskapitel langfristig ihr Potenzial an hohen Arbeits- und Nachhaltigkeitsstandards erreichen sollen, ist eine effektivere Umsetzung entscheidend. Die EU ist sich der vielen Schwächen der TSD-Kapitel bewusst und arbeitet bereits an Verbesserungen hinsichtlich der Umsetzung und Transparenz.
Um eine vollständige Durchsetzung der Nachhaltigkeitsverpflichtungen zu erreichen, werden folgende Schritte empfohlen:
Abkehr von der Sanktionsdebatte: Die einvernehmliche Entscheidungsfindung ist ein hochkomplexer Prozess, der nicht auf eine Debatte über Sanktionen beschränkt werden sollte. Die Erfahrung zeigt, dass Sanktionen die Umsetzung von Arbeitsrechtsstandards nicht beschleunigen. Die EU sollte ihren Handelspartnern keine Strafen für die Nichteinhaltung auferlegen, da sie meist die Schwächsten der Gesellschaft und nicht die anvisierten Eliten treffen. Stattdessen ist eine Umsetzung praktikabler, wenn die TSD-Kapitel unter Berücksichtigung des lokalen politischen und sozialen Kontextes sorgfältig ausgearbeitet werden und länderspezifische Nachhaltigkeitsdefizite ansprechen.
Entwicklung realistischer Aktionspläne: Beide Handelspartner sollten einen realistischen, länderspezifischen Aktionsplan mit gemeinsamen Prioritäten und Zielen für die Umsetzung der TSD definieren. Durch regelmäßigen Austausch und Einbindung der Zivilgesellschaft kann Vertrauen aufgebaut und Fortschritt bei der Umsetzung der TSD-Verpflichtungen in nationaler Gesetzgebung erzielt werden.
Unterstützung von Capacity Development: Wenn die TSD-Vereinbarungen weit unten auf der Agenda einer Partnerregierung stehen, sollte die EU den Kapazitätsaufbau wesentlich stärken. Wenn die EU eine konstruktive Zusammenarbeit anstrebt, wird sie eine Reihe von Aktivitäten intensivieren müssen. Dazu gehören Arbeitsinspektionen und die wirksame Beilegung von Arbeitskonflikten durch strukturierte, transparente und zeitbasierte Beschwerdemechanismen. Capacity Development kann ein nützliches Instrument sein, um die Umsetzung maßgenauer und nachfrageorientierter zu gestalten. Besonderes Augenmerk sollte auf mögliche Diskrepanzen zwischen den TSD-Verpflichtungen und den innerstaatlichen Gesetzen der Handelspartner gelegt werden. Dies kann auch dazu beitragen, die Bedeutung der Umsetzung von Nachhaltigkeitsverpflichtungen zu untermauern.
Intensivierung der Berichterstattung: Die EU sollte jährliche Berichte zum Stand der Umsetzung der Nachhaltigkeitskapitel durch die jeweiligen Handelspartner herausgeben. Mehr Datenerhebung über die Leistung wird dazu beitragen, die Mängel und Engpässe besser zu verstehen, mit denen die Handelspartner bei der Umsetzung der TSD-Verpflichtungen konfrontiert sind. Die aktuelle Berichterstattung bezieht sich auf alle Handelsabkommen – ohne notwendige Differenzierung. Ein tieferes Verständnis der länderspezifischen Herausforderungen ist notwendig, um die grundlegenden Bedenken und Beschränkungen der effektiven Umsetzung zu ermitteln.
Stärkung der Beteiligung und des Mandats der DAGs: Die Domestic Advisory Groups bieten die Möglichkeit, der zunehmenden Nachfrage nach einem konstruktiven Dialog mit der Zivilgesellschaft über den Handel nachzukommen. Die Überwachung der DAGs sollte auf das gesamte Freihandelsabkommen ausgeweitet werden, um nachhaltigere Entwicklung zum Kernthema der Handelspolitik zu machen. DAGs sollten eine beratende und institutionalisierte Rolle einnehmen. Das Vorkommen unabhängiger zivilgesellschaftlicher Akteure und die Möglichkeit, ihre Pflichten unabhängig, unparteiisch und sicher auszuüben, ist jedoch von Partnerland zu Partnerland unterschiedlich. Die Einbindung in unterschiedliche politische Strukturen muss dennoch zu einer ausgewogenen Zusammensetzung der DAG führen, um die Freihandelsabkommen der EU so unabhängig wie möglich zu überwachen und zu bewerten.
Der Blick nach innen: Arbeitsstandards und faire Arbeit können sich positiv auf die Wirtschaftlichkeit, Innovation und Produktivität aller Handelspartner auswirken. In diesem Sinne ist das Bestreben der EU, einen fairen Handel zu betreiben, nicht ganz uneigennützig, da es auch um die eigenen Unternehmen, die Arbeitgeber oder die Umwelt geht.
Geduld und Beständigkeit: Um Raum für einen konstruktiven Dialog über gemeinsam gesetzte Ziele zu schaffen, sollte die EU ihre wirtschaftliche Position in Maßen nutzen und nicht als Bedrohung missbrauchen. Dadurch kann das Risiko eines Rückschlags verringert werden, wenn Forderungen als Auferlegung des Willens der EU empfunden werden, die soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Kontexte missachten. Die EU sollte auch unterscheiden zwischen Ländern, die über eine hohe Kapazität und die finanziellen Mittel zur Umsetzung solcher Kapitel verfügen, und Ländern mit weniger entwickelten Staats- und Aufsichtsstrukturen.
Die Eingliederung derartiger Nachhaltigkeitskapitel in Freihandelsabkommen bietet der EU eine diplomatische Möglichkeit, konstruktiv auf Mängel in Umwelt-, Arbeits- und Menschenrechtsfragen der Partnerländer hinzuweisen und diese zu beheben. Ein erweiterter Zugang zum EU-Markt ist ein Anreiz, sich für die Einführung von Reformen, die mit den multilateralen Abkommen und Konventionen übereinstimmen, einzusetzen. Dies gilt insbesondere in Partnerländern, die in der Vergangenheit kein politisches Interesse an solchen Abkommen gezeigt haben. Je nach Länderkontext könnte die EU Verbündete finden und Unterstützung von nationalen Akteuren (wie zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften) erhalten, die eine ähnliche politische Agenda fördern. In anderen Fällen muss die EU geduldiger sein, da politische Kulturen und Agenden, partizipatorische Strukturen und innerstaatliche Gesetze die Umsetzung von Reformen möglicherweise nicht begünstigen. Die EU sollte definitiv bei der Einschätzung bleiben, dass Wettbewerbsfähigkeit nicht auf Kosten der Nachhaltigkeit erreicht werden darf. Langfristig stärken ökologische Nachhaltigkeit und verbesserte Arbeitsstandards in den Partnerländern das allgemeine Geschäfts- und Investitionsklima. Nachhaltigkeitskapitel sind daher ein wichtiger Schritt, um Handel und Entwicklung zum wirtschaftlichen und sozialen Vorteil beider Handelsparteien zu stärken.
– übersetzt aus dem Englischen –
Carolin Löprich ist Programm-Managerin für Demokratie und Nachhaltige Entwicklung beim Multinationalen Entwicklungsdialog der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brüssel.
Denis Schrey ist Leiter des Multinationalen Entwicklungsdialogs der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brüssel.
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