Ausgabe: 4/2020
Nicht nur im Dienstleistungssektor muss Japans alternde Bevölkerung die sinkenden Zahlen der Erwerbstätigen ausgleichen. Insbesondere die geschätzten Lebensmittelläden sowie die Fertigungsindustrie sind stark auf ausländische Praktikanten und Lehrlinge angewiesen; gleichzeitig werden Arbeitsmigranten in Japan nicht sehr herzlich empfangen. In den vergangenen Jahren hat Japans Regierung festgestellt, dass diese Gleichung nicht mehr aufgeht. Von „Womenomics“ über eine zeitgemäße Einwanderungspolitik, von fortschreitender KI und Automatisierung bis hin zu verbesserten Arbeitsbedingungen: Viele Ansätze wurden auf den Weg gebracht, um Japans Image einer verschlossenen, nationalistisch geprägten Insel abzuschütteln.
Düstere Aussichten für Japans Gesellschaft
Die Alterswelle der Babyboomer (Jahrgänge 1947 bis 1949) kehrt die Populationspyramide Japans dramatisch um. Die Lebenserwartung ist auf 84 Jahre gestiegen, gleichzeitig ist die Geburtenrate von 1,37 Kindern pro Frau sehr niedrig, was Japan vor ein noch nie dagewesenes Alterungsproblem stellt. Der daraus resultierende Rückgang der Erwerbsbevölkerung stellt eine sehr ernste Herausforderung für das Land dar. Die VN-Weltbevölkerungsprognose (2019) sagt voraus, dass Japans Erwerbsbevölkerung (15- bis 64-Jährige) zwischen 2020 und 2050 ein Defizit von 21 bis 54 Millionen aufweisen wird. Die Bevölkerung ab 65 wird sich von 18 Millionen (Stand 1995) auf 34 Millionen (2045) nahezu verdoppeln. 2025 wird jede dritte Japanerin oder jeder dritte Japaner 65 Jahre oder älter sein. Der Abhängigkeitsquotient (Anteil der Nichterwerbstätigen auf 100 Erwerbstätige) wird in dieser Zeit von 69 auf 97 Prozent steigen – der höchste Wert in der OECD. Diese Zahlen könnten noch drastischer sein, bliebe die Arbeitslosenquote so niedrig wie bisher. Im Januar 2020 betrug sie 2,4 Prozent und war damit auf dem niedrigsten Stand der letzten 20 Jahre. Selbst COVID-19 hatte keine drastischen Auswirkungen auf die Arbeitslosenquote – im August 2020 lag sie bei 2,9 Prozent.
Als Gegenmaßnahmen zum Arbeitskräftemangel braucht Japan vor allem eine stabile Frauenerwerbsquote, Weiterbeschäftigung älterer Bürger, ausländische Arbeitskräfte und technologische Entwicklung. 2019 befand sich die Frauenerwerbsquote auf einem Rekordhoch von 72,6 Prozent (in Deutschland waren es 74,9 Prozent). Die Erwerbsquote bei den über 65-Jährigen ist mit 25,3 Prozent bereits sehr hoch (in Deutschland sind es 7,8 Prozent). Laut VN-Bevölkerungsbericht müsste Japan bis 2050 über 33 Millionen Einwanderer aufnehmen, um die Erwerbsbevölkerung bei 87 Millionen zu halten. Pro Jahr wäre dies die Aufnahme von 600.000 ausländischen Arbeitskräften. Da bereits die aktuell verzeichneten 200.000 Arbeitsmigranten Japan vor große Herausforderungen stellen, scheint diese Zahl derzeit utopisch hoch.
Einwanderungsprogramme: Zwischen Missbrauch und Hoffnung
Zwischen 1945 und 1990 verfolgte Japan eine besonders strenge Einwanderungspolitik. In den 1980er Jahren wurden die Regularien leicht gelockert. Etwa, als circa 10.000 Flüchtlinge aus Kambodscha, Laos und Vietnam aufgenommen wurden. Zwischen 1990 und 2012 kamen insbesondere Aussiedler zurück sowie die ersten Lehrlinge und sogenannten technischen Praktikanten aus den Arbeitsmigrationsprogrammen. Ungelernte Arbeiter, wenn auch in kleiner Anzahl, fanden ebenfalls ihren Weg nach Japan. Erst 2012 wurden die Einwanderungsbestimmungen gelockert und gleichzeitig ein punktebasiertes System für hochqualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland eingeführt. Ab 2019 hat Japan den mittelqualifizierten Arbeitskräften den Zuzug ermöglicht. Diese Entscheidung gehört zu einer der wegweisendsten Gesetzgebungen, die der ehemalige Premierminister Shinzo Abe während seiner Amtszeit erließ.
Ende 2019 lag die Zahl der gemeldeten Einwohner ohne Staatsbürgerschaft, die sich bereits länger als drei Monate in Japan aufhielten, bei insgesamt drei Millionen – die Zahl der Gesamtbevölkerung liegt bei 126 Millionen. Unter diesen Ausländern machen die technischen Praktikanten und Lehrlinge nach Angaben des Justizministeriums mit 411.000 den größten Anteil aus, gefolgt von 345.000 internationalen Studierenden.
Seit 2015 wird hochqualifizierten Fachkräften ein neuer Aufenthaltsstatus gewährt: Sie gelten in der Terminologie der japanischen Einwanderungspolitik als spezialisierte Fachkräfte und sind als Ingenieure, Ausbilder, Forscher, Journalisten oder im medizinischen Bereich tätig. 2019 waren 270.000 ausländische Fachkräfte dieser Kategorie in Japan angestellt.
Die Anzahl der ausländischen Pflegekräfte, unverzichtbar für Japans alterndernde Gesellschaft, liegt aktuell bei 22.700. Das Wirtschafts- und Partnerschaftsabkommen, 2008 mit Indonesien, den Philippinen und Vietnam unterzeichnet, öffnete den japanischen Arbeitsmarkt für ausländische Krankenschwestern und Pfleger. Doch sie müssen in Japan eine Prüfung ablegen, wenn sie länger als drei oder vier Jahre bleiben wollen. Sollten sie die Prüfung nicht bestehen, dürfen sie seit 2019 noch ein weiteres Jahr bleiben, um den Arbeitskräftemangel in den zunehmenden Altersheimen und Pflegeeinrichtungen abzufangen.
Um mehr Studierende anzulocken, führte die japanische Regierung 2008 den sogenannten 300.000 International Student Plan ein. Erst zehn Jahre später wurde die gewünschte Zahl erreicht. Um den ausländischen Studierenden, die an einer japanischen Universität ihren Abschluss gemacht haben, den weiteren Aufenthalt in Japan zu erleichtern, dürfen sie Vollzeitstellen annehmen und auf gleiche Vergütung hoffen. Vorausgesetzt, die Sprachkenntnisse erreichen das N1-Niveau.
Zwei der Programme des Einwanderungsplans zielen auf ungelernte Arbeitskräfte aus dem Ausland ab und unterteilen sie nach technischen Praktikanten und Lehrlingen. Die sogenannten technischen Praktikanten erhalten den Mindestlohn, aber keine Überstundenvergütung und dürfen höchstens fünf Jahre in einem teilnehmenden Unternehmen bleiben. Seit Einführung des Programms 1993 arbeiten technische Praktikanten in vielen Bereichen sowohl kleiner und mittlerer Unternehmen als auch großer Firmen. Sie werden zwar durch das Arbeitsrecht geschützt, können ihren Arbeitsplatz jedoch nicht ohne die Zustimmung ihres Arbeitgebers wechseln. Mit Beschwerden halten sich die Arbeitnehmer zurück, da sie in ihr Herkunftsland abgeschoben werden könnten, ihre Familien jedoch von ihren Einkommen abhängig sind. Das Prozessrisiko ist für die Arbeitgeber also ausgesprochen gering.
Im 2020er Bericht des US-Außenministeriums zur Situation des Menschenhandels (Trafficking in Persons Report) wurde Japan erneut stark kritisiert, da das Migrationsprogramm immer noch anfällig für Missbrauch ist und die Arbeitsmigranten eklatanten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Die in dem Bericht beschriebenen Missstände waren unter anderem Zwangsverschuldung, Lohnpfändung, die Einbehaltung von Pässen, Abschiebungsandrohungen, schlechte Lebensbedingungen und körperliche Gewalt. Die Regierung weiß um diese Probleme und versucht seit Jahren, die Verstöße zu minimieren.
Lehrlinge dürfen nur ein Jahr in Japan bleiben, können aber zu technischen Praktikanten aufsteigen. Durch diese Möglichkeit wird das Programm unverhohlen ausgenutzt, um die Stellen für technische Praktikanten zu besetzen – ein Anreiz allerdings für beide Seiten. Lehrlinge sind ungelernte Arbeitskräfte, die Honorare weit unter dem Mindestlohn erhalten und erst vor kurzem unter den Schutz des Arbeitsrechts gestellt wurden. Das Programm wurde ursprünglich entworfen, um Ausländern die Möglichkeit zu bieten, durch die Arbeit in Japan Fachwissen und spezielle Fertigkeiten zu erlangen und diese dann in ihren Ländern (meist Entwicklungsländer) anzuwenden. Doch statt dieser ehrbaren Idee Rechnung zu tragen, leidet das Programm unter seinem dubiosen Ruf. Die Arbeiter wurden Opfer von Arbeitsrechtsverstößen und weiteren Rechtsverletzungen: Ihre Pässe wurden oft eingezogen, sie hausten in verheerenden Unterkünften, waren Überstunden ausgesetzt und mussten stets damit rechnen, entlassen und nach Hause geschickt zu werden. Der Technical Intern Training Act 2017 sollte derartige Fälle durch erhebliche Strafen bei Verstößen und die Verpflichtung zu einem offiziellen Ausbildungsplan für jeden Praktikanten verhindern. Die Daten bestätigen, dass sich die Situation seitdem verbessert hat.
Aufgrund strengerer Kontrollen sind die Zahlen irregulärer Personen, deren Visum abgelaufen ist, in den letzten Jahren zurückgegangen. Darunter sind 82.000 asiatische Staatsbürger, vorwiegend aus den Philippinen, China, Vietnam oder Thailand. Die meisten von ihnen stammen aus den Programmen für technische Praktikanten.
Um dem drastischen Arbeitskräftemangel in bestimmten Industriefeldern entgegenzuwirken, wurde 2019 eine weitere Visa-Kategorie eingeführt. Diese zielt auf qualifizierte Arbeitskräfte ab, die bereits ein beträchtliches Fachwissen und spezielle Fertigkeiten mitbringen. Aktuell weisen 14 Bereiche der japanischen Wirtschaft einen akuten Bedarf an externen Arbeitskräften auf: unter anderem die Gastronomie, die Lebensmittelherstellung, die Landwirtschaft, das Bauwesen, der Maschinenbau und die Elektroindustrie. Ein großes Hindernis für dieses Programm ist der zwingende Nachweis von Japanischkenntnissen auf N4-Niveau – dadurch erreicht das Programm weder die anvisierten noch die geforderten Zahlen. 2019 erwartete die Regierung 47.550 qualifizierte Arbeitskräfte – davon kamen nur acht Prozent. Nicht nur, dass die erforderlichen Sprachkenntnisse schwer zu erlangen sind, auch die Vereinbarungen zwischen Japan und den entsendenden Partnerländern verzögern sich. Zudem ist der Bewerbungsprozess selbst langwierig und kompliziert. Über kurz oder lang wird die Regierung dem niedrigen Interesse entgegensteuern und die Voraussetzungen für die zukünftigen Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber verbessern müssen.
COVID-19: Bleiben oder gehen
Während der COVID-19-Pandemie reagierte die Regierung schnell auf die veränderten Bedingungen für Lehrlinge und technische Praktikanten. Diejenigen, die entlassen wurden, durften für ein weiteres Jahr bleiben und eine neue Arbeit suchen, unabhängig davon, wie lange sie sich schon im Land aufhielten. Diejenigen, die ihr Praktikum zwar beendet hatten, aufgrund geschlossener Grenzen aber nicht nach Hause kamen, durften ebenfalls in Japan bleiben und weiterarbeiten.
Während der Pandemie zeigte die Regierung ein hohes Maß an Flexibilität – in der Vergangenheit fast undenkbar. Und so trug die Pandemie ganz beiläufig zu einem neuen Modell für Japans problematischen Arbeitsmarkt bei.
Doch von diesen pragmatischen Lösungen konnten in den vergangenen Monaten nicht alle Betroffenen profitieren. Viele Arbeitgeber, die durch COVID-19 in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten, baten ihre technischen Praktikanten und Lehrlinge, eine sogenannte Willenserklärung zu unterschreiben. Dieses Dokument diente als Bestätigung dafür, dass der Unterzeichnende sein Ausbildungsprogramm freiwillig abbrach. Sobald jedoch die Praktikanten und Lehrlinge aus dem Programm ausscheiden, obliegen sie nicht mehr dem Arbeitsschutz und müssen Japan verlassen. Ein denkbar schlechtes Szenario, da viele der Arbeitsmigranten hohe Kredite abzahlen, die ihren Aufenthalt in Japan in den ersten Jahren finanzieren. Japans Arbeitsministerium gab an, dass in den ersten Monaten der Pandemie 3.428 technische Praktikanten aus dem Ausland entlassen wurden. Diese Zahl beinhaltet jedoch nicht diejenigen, die durch die erbetene Unterzeichnung jener Willenserklärung unfreiwillig kündigten.
Das Akzeptanzproblem
Um Personal zu gewinnen, „muss sich Japan in vielerlei Hinsicht verändern. Es muss eine Gesellschaft schaffen, in der exzellente Studierende weiterhin leben und bleiben möchten“, schreibt Kato Hisakazu von der Meiji-Universität. Er geht der Frage nach, ob Japan als Inselstaat mit seinen nach innen gerichteten Traditionen in Kultur und Sprache überhaupt attraktiv ist. Er sieht die Lösung darin, Studierende aus dem Ausland zu gewinnen, die gemeinsam mit Japans eigener engagierter Jugend die zukünftigen Arbeitskräfte des Landes bilden sollen. Dieser Ansatz vernachlässigt jedoch die Einwanderer, die sich bereits im Land aufhalten – sie brauchen ebenfalls mittel- und langfristige Perspektiven. Dazu gehören vereinfachte Visa-Regularien und ein flexibler Aufenthaltsstatus. Die derzeit auf fünf Jahre begrenzte Aufenthaltsgenehmigung und die strengen Vorschriften bezüglich der Familienzusammenführung sind jedenfalls kein großer Anreiz. Im Widerspruch zur Realität herrscht Angst davor, dass mehr Einwanderer zu Unruhen am Arbeitsplatz führen und die öffentliche Ordnung in den lokalen Gemeinschaften stören könnten. Bei genauerer Betrachtung lässt sich jedoch eine langsame Veränderung der Wahrnehmung beobachten. Die alternde Gesellschaft und der demografische Wandel zwingen sowohl die Regierung als auch die Bürger zu einer Anpassung ihrer konservativen Ansichten bezüglich der Einwanderungspolitik. Die öffentliche Meinung befindet sich Umfragen gemäß im Wandel.
In der Vergangenheit sprach die japanische Regierung nicht von „Einwanderungspolitik“ und „Integrationspolitik“, sondern von „Ausländerpolitik“. Nach dem Zweiten Weltkrieg durchlief das Land vier Stadien der Integrationspolitik. Von 1945 bis 1979 waren „Ausgrenzung, Diskriminierung und Assimilation“ der führende Ansatz. Zwischen 1980 und 1989 setzte man vor allem auf „Gleichstellung und Internationalisierung“. Doch trotz der unterzeichneten internationalen Menschenrechtsabkommen in den 1980er Jahren blieb die Situation für Ausländer volatil. Die Semantik tat ihr Übriges: In den 1980er Jahren wurde nicht von „Integrationspolitik“ gesprochen, sondern von der „Internationalisierungspolitik“. Immerhin, im Einklang mit der internationalen Menschenrechtscharta 1979 und der Teilnahme am Abkommen der VN-Flüchtlingskonvention und dem dazugehörigen Protokoll 1981, ergänzte das japanische Parlament das Sozialgesetz im Hinblick auf den Umgang mit Nichtstaatsangehörigen in Japan. Zwischen 1990 und 2005 folgte dann der Ansatz „Besiedlung und gemeinsames Miteinander“, seit 2006 gibt das „interkulturelle Miteinander“ den Ton an.
2019 erließ die japanische Regierung eine überarbeitete Version der „flächendeckenden Maßnahmen für die Akzeptanz und Koexistenz von ausländischen Staatsangehörigen“. Sie beinhaltet 172 Maßnahmen, die Toleranz gegenüber Migranten fördern und ein Umfeld schaffen sollen, in dem ein harmonisches Miteinander herrscht. Demnächst wird eine umfassende Befragung unter den ausländischen Einwohnern durchgeführt, um die Herausforderungen und Probleme zu erfassen, denen sie in ihrem Arbeitsleben und in ihrem Alltag begegnen. 2015 lag Japan beim MIPEX (Migrant Integration Policy Index) auf Platz 27 von 38. Eine 2019 durchgeführte Umfrage zu den Bedürfnissen der Einwanderer zeigte bereits, dass sich 63,7 Prozent mehr verfügbare Mietwohnungen wünschen, 44 Prozent sehen Bedarf an Krankenhäusern, in denen sie auf Englisch oder in ihrer Muttersprache kommunizieren können, und 33 Prozent baten um die Förderung mehrsprachiger Verwaltungsdienste. Shunsuke Tanabe, Professor an der Waseda-Universität, denkt, dass es den Japanern trotz der steigenden Einwanderungszahlen an Gelegenheiten mangelt, mit ausländischen Einwohnern in Kontakt zu treten. Vor allem junge Menschen haben auffallend wenig Interesse daran, ins Ausland zu reisen und Beziehungen zu Ausländern zu knüpfen, betont er. Er warnt davor, dass diese Einstellung letztlich zu Vorurteilen und zu Diskriminierung führt.
Parallelgesellschaften stellen in Japan jedoch kein Problem dar. Erstens, weil die Einwanderungsrate gering ist, und zweitens, weil die Arbeitslosenquote in Japan sehr niedrig ist: Unter den Nicht-Staatsangehörigen liegt die Arbeitslosenquote im Vergleich zur insgesamt niedrigen Quote bei 5,4 Prozent.
Laut International Social Survey Programme National Identity III sind 56 Prozent der Japaner der Meinung, dass Einwanderer die gleichen Rechte haben sollten (das ist die dritthöchste Zahl unter 31 gelisteten Ländern/Regionen); 24 Prozent denken, dass die Zahl der Einwanderer reduziert werden sollte (die zweitniedrigste Angabe); 15 Prozent meinen, dass Einwanderer Arbeitsplätze wegnehmen (die viertniedrigste Angabe); und nur 16 Prozent der Japaner denken, dass die Einwanderer die japanische Kultur negativ beeinflussen (zweitniedrigste Angabe). Meinungsumfragen mehrerer Zeitungen ergaben, dass ungefähr 54 Prozent der Bürger ausländische Arbeitskräfte als Gegenmaßnahme zum Arbeitskräftemangel in Japan akzeptieren. Interessanterweise denken 75 Prozent der Japaner, dass die Einwanderer aufgrund ihres hohen Interesses an der japanischen Kultur in ihr Land ziehen. Eine erste landesweite Umfrage zu solchen Befindlichkeiten soll Ende 2020 veröffentlicht werden und belastbare Daten zur Wahrnehmung auf beiden Seiten liefern.
Ruhestand: Ist 80 das neue 65?
Die Regierung hat vor kurzem ein neues Gesetz verabschiedet, welches das Renteneintrittsalter von 65 Jahren auf 70 Jahre hochsetzt. Beamte werden statt bis 60 nun bis 65 arbeiten müssen. Die Regierung hat außerdem vor, die Rentenzahlungen für Arbeitskräfte im Alter zwischen 60 und 65 zu reduzieren. Dies soll ab 2021 gelten. Die durchschnittliche Rente beträgt ungefähr 150.000 Yen (1.200 Euro), was nur 60 Prozent des anvisierten Verhältnisses von Rente zu Einkommen entspricht. Das eigentliche Ziel liegt bei 220.000 Yen (1.800 Euro). Doch wenn weniger Arbeitnehmer in die Rentenkasse einzahlen und mehr Bürger Rente in Anspruch nehmen, wird sich das Verhältnis weiter verschlechtern. Die Regierung verlässt sich auf den guten Gesundheitszustand ihrer Bürger und rechnet damit, dass viele von ihnen motiviert sind, jenseits des Rentenalters weiterzuarbeiten und sich in der Gesellschaft zu engagieren.
Dass auch ein Rentenalter von 70 Jahren getoppt werden kann, bewies der Elektrofachhändler Nojima. Das Unternehmen entschied im August 2020, seine Mitarbeiter bis 80 arbeiten zu lassen, wenn sie es wollen. Dieser Schritt könnte Nachahmer aus verschiedenen Branchen finden, die ebenfalls vor einem akuten Arbeitskräftemangel stehen. Damit könnte Japan anderen asiatischen Ländern, wie zum Beispiel China und Südkorea, die spätestens 2050 ebenfalls mit einer stark alternden Gesellschaft zu kämpfen haben werden, als Vorbild dienen.
Neben den Rentenreformen hat Shinzo Abes damalige Regierung auch andere Reformen auf den Weg gebracht, die Flexibilität am Arbeitsmarkt fördern sollen wie Telearbeit oder verkürzte Arbeitszeiten. Doch diese Veränderungen setzen ein grundsätzliches kulturelles Umdenken voraus, denn sie bringen die traditionellen Normen des Landes ins Wanken.
Roboter: Die Arbeitskräfte der Zukunft?
Um dem drohenden Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken und die negativen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft abzuwenden, setzt Japan große Hoffnungen in den technologischen Fortschritt. Das Land ist seit jeher technikverrückt und noch immer eine führende Tech-Nation. Mit der Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz und Robotik hofft Japan, seine Produktivität konstant zu halten, die menschlichen Arbeitskräfte zu unterstützen und den technologischen Fortschritt beizubehalten. In Japan, anders als zum Beispiel in Europa, sieht man die Automatisierung nicht als Bedrohung für menschliche Arbeitskräfte oder als Verdrängungsfaktor herkömmlicher Berufe. Automatisierung und Robotik haben immer eine wesentliche Rolle in der Gesellschaft gespielt und sind vertrautes Terrain für die Japaner. Von den 700.000 Industrierobotern, die 2018 weltweit im Einsatz waren, sind 500.000 in Japan aktiv. Schon jetzt ist es möglich, in Restaurants, Hotels, Bekleidungsgeschäften, Flughäfen, Lebensmittelläden, Banken und medizinischen Beratungsstellen ausschließlich von Robotern bedient zu werden. „Pepper“ und seinesgleichen werden als niedliche kleine automatisierte Helfer und Angestellte akzeptiert. So charmant das auch klingen mag, diese automatisierten Lösungen sind essenziell für den Erhalt von Dienstleistungen, die sonst aufgrund fehlender Arbeitskräfte stark eingeschränkt wären. Neueste Daten des IWF auf Präfekturebene zeigen, dass der erhöhte Einsatz von Robotern insgesamt einen positiven Einfluss auf die Inlandbeschäftigung, Produktivität und das Einkommenswachstum hat. Auffällig ist hierbei, dass diese Zahlen ziemlich konträr zu den Daten aus den USA sind.
Die Tatsache der alternden und schrumpfenden Bevölkerung wird den Einsatz von Robotern in Japan weiter vorantreiben, denn schon jetzt gibt es große Lücken im Gesundheitswesen und in der Pflege, die gefüllt werden müssen. Das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlstand schätzte 2018, dass die Zahl der Pflegekräfte bis 2025 um 550.000 auf 2,45 Millionen erhöht werden muss. Um eine ausreichende medizinische Pflege und Langzeitpflege zu gewährleisten, sprach sich die Regierung für den Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz aus. Letztere wird bereits für Datenbanken in der Medizin und der Pflege eingesetzt. Auch innovative Pflegeroboter wie Rollstuhlbetten, Transferhilfen und von Robotern unterstützte Gehhilfen sind bereits im Einsatz. Vor allem in ländlichen Regionen herrscht ein Mangel an Ärzten und Pflegern, weshalb zurzeit Informations- und Kommunikationstechnologien entwickelt werden, um eine dauerhafte Pflegeinfrastruktur aufzubauen.
Doch auch Roboter haben ihre Grenzen. Aufgrund des hohen Mangels an Pflegekräften muss sich Japan für Hilfe aus dem Ausland öffnen. Dasselbe gilt für arbeitsintensive Branchen: Technische Praktikanten und speziell geschulte Arbeitskräfte werden weiterhin gebraucht. Deswegen sollte bei den Maßnahmen gegen den zukünftigen Arbeitskräftemangel in wichtigen Branchen sowohl auf Technologie als auch auf ausländische Arbeitskräfte gesetzt werden. Letzteres ist vor allem für die Sicherung des Sozialsystems von großer Bedeutung. Nur Menschen zahlen in die Renten- und Sozialversicherungskassen ein, Roboter tun dies nicht. Sogar wenn das Bruttoinlandsprodukt durch die Automatisierung aufrechterhalten werden kann und die genannten positiven Auswirkungen in Betracht gezogen werden: Zwischen 2018 und 2040 werden Japans Sozialausgaben um 60 Prozent steigen. Was auch am 2,4-fachen Anstieg der Pflegekosten, dem 1,7-fachen Anstieg der Krankenversicherungskosten und dem 1,3-fachen Anstieg der Rentenkosten liegt. Das Ergebnis ist ein stark belasteter Sozialstaat. Die Nachteile der Automatisierung könnten hingegen vor allem Frauen in Teilzeitstellen treffen, da diese Stellen voraussichtlich besonders von der Automatisierung betroffen sein werden. Das wiederum würde die positiven Effekte des „Abenomics“-Programms umkehren, unter dem die Frauen zunächst in den Arbeitsmarkt integriert wurden.
Ist die Gleichung gelöst?
Das Angehen der Probleme, die Japans alternde und schrumpfende Gesellschaft für die öffentliche Ordnung mit sich bringt, ist für die Regierung von hoher Priorität. Mit Ansätzen wie dem Plus-One-Plan 2009, der auf die sinkende Geburtenrate abzielte, stellte die damalige Abe-Regierung Mittel für Kinderbetreuungseinrichtungen zur Verfügung, reduzierte die Ausbildungskosten (die jedoch immer noch immens hoch sind) und verbesserte 2017 die Wohnungssituation für Familien. Shinzo Abes umfangreiches Wirtschaftspaket, „Abenomics“ genannt, setzt vor allem auf technologische Innovationen, um die Produktivität zu steigern und gleichzeitig die benötigten Arbeitskräfte zu reduzieren; die Last der Pflegekräfte soll mithilfe künstlicher Intelligenz leichter und die Krankenversicherungskosten sollen minimiert werden; auch Investitionen in die Schulbildung und die deutliche Steigerung der vollzeitigen Frauenerwerbsbeteiligung sind geplant. Im vergangenen Jahr wurde die Verbrauchssteuer von acht auf zehn Prozent angehoben, um das Sozialsystem zu entlasten. Mit der weltweit höchsten Lebenserwartung und der niedrigsten Geburtenrate werden weitere Anpassungen des Sozialsystems nötig sein, um den gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden. Ein anderer wichtiger Ansatz ist die Lockerung der strengen Anforderungen an ausländische Arbeitskräfte. Sie könnte eine langfristige Lösung für das einwanderungsscheue und rapide alternde Land sein.
Die aktuellen Änderungen der Aufnahmepolitik Japans entsprechen faktisch bereits einer Einwanderungsstrategie – zum großen Bestürzen vieler konservativer Mitglieder der Liberaldemokratischen Partei. Sie sind traditionell dagegen, mehr Einwanderer ins Land zu lassen und berufen sich auf die Angst vor steigender Kriminalität und den Verlust der Homogenität. Die Yamato-Denkweise, die das „reine“ Japan beschreibt, behielt ihren Einfluss während der Meiji-Periode, inspirierte das nationalistische Denken im 20. Jahrhundert und existiert teilweise noch heute.
Damit Japan die nötigen Arbeitsmigranten aufnehmen kann, muss die Regierung die Einstiegshürden bei dem Programm für qualifizierte Arbeitskräfte herabsetzen – ansonsten bleibt das Einwanderungsprogramm ein Papiertiger. Die geplanten, aber sehr ehrgeizigen Zahlen von 300.000 Arbeitskräften pro Jahr werden vorerst nicht zu erreichen sein – was den Japanern Zeit gibt, sich mit dem aktuellen Zustrom ausländischer Arbeiter zu arrangieren.
Um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, sollte das für Missbrauch anfällige System für technische Praktikanten bald abgeschafft werden. Die Tatsache, dass Unternehmen in den Pandemiemonaten ihre Praktikanten zur Kündigung zwangen, zeigt, wie unsicher die Arbeitsplätze für Arbeitsmigranten sind. Eine Lösung wäre, die Praktikantenstellen innerhalb des Programms für qualifizierte Arbeitskräfte abzuschaffen. Das Lehrlingssystem, wenn es sich denn an alle rechtlichen Bestimmungen hält, reicht aus, um einen vernünftigen Beitrag zur Ausbildung von ausländischen Kräften zu leisten – so, wie es einst gedacht war.
Die vor kurzem ernannte Justizministerin Yoko Kamikawa, eine von zwei weiblichen Ministerinnen des Kabinetts von Premierminister Yoshihide Suga, versprach, die Situation für Ausländer in Japan zu verbessern. Kamikawa möchte sich als erste Ministerin den Herausforderungen der Arbeitsmigranten konkret stellen und erreichen, dass jeder Ausländer als gleichwertiger Mitbürger angesehen wird. Sie hofft, dass in Japan „Menschen verschiedener Hintergründe akzeptiert werden und sich nicht isoliert fühlen“. Kamikawa hat damit die richtigen Probleme angesprochen. Der oft leere Platz im Zug neben Ausländern ist ein Symbol für die genannte Isolation und das ablehnende Umfeld in Japan. Der akute Bedarf an Arbeitsmigranten mag in den vergangenen Jahren zu einer Korrektur der kritischen Haltung gegenüber Einwanderern geführt haben, doch die alltägliche Diskriminierung erleben die Arbeiter, Studierenden und diejenigen, die dauerhaft in Japan leben, in vielerlei Hinsicht immer noch. Vielleicht braucht es einen offenen und ehrlichen Dialog zwischen allen Beteiligten, um das Unbehagen auf beiden Seiten zu reduzieren. Es ist an der Zeit, dass die japanische Regierung die Kluft zwischen den Arbeitskräften, die das Land braucht, um die demografischen Herausforderungen zu lösen, und den schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen für ebendiese schließt. Um die Gleichung zu lösen, muss die Regierung außerdem mehr in Familien, in die Kinderbetreuung und in Bildungseinrichtungen investieren. Wenn Frauen Teil des Arbeitsmarktes sein sollen, muss dies über sichere Vollzeitstellen erfolgen – das Potenzial des „Womenomics“-Programms wurde bisher nicht ansatzweise ausgeschöpft.
Trotz aller ernsten Probleme, vor denen Japans Gesellschaft zukünftig stehen wird, könnte Japan zu einem Vorbild für andere Länder mit ähnlicher demografischer Verfasstheit werden. Vorausgesetzt, Japans Regierung schafft gleiche Bedingungen für alle Arbeitskräfte und integriert die neuen Technologien auf intelligente Weise in den Arbeitsprozess.
Ob jedoch die Rente mit 80 ein Vorbild für andere Länder sein kann, sei dahingestellt. Denn nicht jede Gesellschaft ist so gesund und fit, aktiv und arbeitsam wie die japanische.
– übersetzt aus dem Englischen –
Rabea Brauer ist Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Japan.
Atsushi Kondo, LLD. ist Professor an der Meijo-Universität in Nagoya, Japan.
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