Ausgabe: 4/2024
Die zwei Weltkriege waren sicherlich die einschneidendsten kriegerischen Auseinandersetzungen der Menschheitsgeschichte. Nach diesen Kriegen wähnte man sich zumindest in Europa mehr als sieben Jahrzehnte lang in Sicherheit. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine bringt den Krieg wieder unmittelbar vor unsere Haustür. Mit dem Angriff auf Israel tobt seit dem 7. Oktober 2023 ein weiterer Krieg in unserer erweiterten Nachbarschaft – unter Beteiligung eines Landes, welches uns historisch besonders nah steht. Nach wie vor hält die terroristische Hamas 100 Geiseln in Gaza gefangen. Doch auch wenn diese beiden Kriege die deutschen Medien in den vergangenen beiden Jahren bestimmt haben, ist die Liste der weltweit andauernden Kriege und bewaffneten Konflikte deutlich länger. Das Völkerrecht (allein) schafft es nicht, dieses unermessliche Leid zu beenden. Nichts anderes jedoch erwarten viele vom Völkerrecht.
Das Völkerrecht und der russische Angriffskrieg
Mit dem vollumfänglichen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 verstößt Russland erneut gegen das völkerrechtlich anerkannte Gewaltverbot. In Artikel 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) heißt es: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Das Gewaltverbot ist wohl die größte Errungenschaft im Völkerrecht. Militärische Gewalt eines Staates gegen einen anderen ist grundsätzlich völkerrechtswidrig. Schriftlich festgehalten sind nur zwei Ausnahmen: Zum einen hat jeder Staat das Recht auf Selbstverteidigung. Zum anderen beschließt der Sicherheitsrat den Einsatz militärischer Gewalt zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Einen Angriffskrieg zu beginnen, ist das höchste Verbrechen auf internationaler Ebene – sozusagen die Ursünde, die allen folgenden Kriegsverbrechen Tür und Tor öffnet. Dem Beginn der russischen Aggression folgte schnell die Erkenntnis, dass das Völkerrecht diesen Krieg weder beenden noch merklich beeinflussen kann. Der Internationale Gerichtshof wie auch der Internationale Strafgerichtshof scheinen Nebenkriegsschauplätze zu sein.
Bereits am 26. Februar 2022, nur zwei Tage nach dem Angriff Russlands, reichte die Ukraine einen Eilantrag und Klage beim Internationalen Gerichtshof (IGH) ein. Das 1946 geschaffene Weltgericht mit Sitz im Friedenspalast in Den Haag ist das wichtigste Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen (UN). Es verhandelt zwischenstaatliche Streitigkeiten und besteht aus 15 Richterinnen und Richtern verschiedener Nationalitäten. Weder Russland noch die Ukraine haben sich jedoch der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen. Aus diesem Grund entscheidet der Gerichtshof auch nicht über eine Verletzung des Gewaltverbots, sondern es geht in dem anhängigen Verfahren um die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords, da beide Staaten die Völkermordkonvention unterschrieben und ratifiziert haben. Nach Artikel IX der Konvention ist bei Streitfällen zwischen den vertragsschließenden Parteien ebenfalls der IGH zuständig. Russland stützt seinen Angriffskrieg auch auf die Behauptung, die Ukraine begehe Völkermord an der russischen Minderheit in der Ostukraine. In dem Hauptsacheverfahren begehrt die Ukraine die Feststellung, dass sie nicht für einen derartigen Völkermord verantwortlich sei. Im September 2023 wurde fünf Tage lang verhandelt. Vor Kurzem hat der Gerichtshof die Klage gegen Russland weitgehend zugelassen. Er wird nun das Hauptverfahren eröffnen. Auf ein Urteil muss noch gewartet werden. Bereits am 16. März 2022 entschied der Gerichtshof jedoch im Eilantrag, dass Russland seine Militäroperation sofort einstellen müsse. Es drohe ein nicht wiedergutzumachender Schaden für die Rechte der Ukraine und ihres Volkes, sodass der IGH dem Antrag auf Erlass vorläufiger Maßnahmen folgte. Eine Mäßigung Russlands hat offensichtlich nicht stattgefunden. Durchsetzungsmöglichkeiten hat die höchste internationale gerichtliche Autorität nicht und so gehen die Zerstörung und das Töten vor den Augen der Weltgemeinschaft ungehindert weiter.
Auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) leitete bereits kurz nach Kriegsbeginn offizielle Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. 1998 wurde auf der UN-Staatenkonferenz in Rom das Abkommen über einen Internationalen Völkerstrafgerichtshof beschlossen. Das sogenannte Römische Statut wurde von 139 Staaten unterzeichnet und trat 2002 in Kraft, sodass der IStGH seine Arbeit 2003 in Den Haag aufnehmen konnte. Von den 139 Unterzeichnerstaaten haben bisher 124 den völkerrechtlichen Vertrag ratifiziert. Seit jeher setzt sich Deutschland besonders für die Arbeit des IStGH ein. Im Unterschied zum IGH ist der IStGH nicht Teil der UN, sondern eine eigenständige Internationale Organisation. Können vor dem IGH nur Staaten Partei sein, besteht die völkerrechtspolitische Errungenschaft beim IStGH gerade darin, dass sich Einzelpersonen vor einer unabhängigen richterlichen Institution der Staatengemeinschaft verantworten müssen.
Dabei soll der IStGH keineswegs nationale Strafverfolgung ersetzen oder überprüfen, sondern nur eingreifen, wenn das betroffene Land nicht in der Lage oder willens ist, Verbrechen der eigenen Staatsangehörigen zu verfolgen. Aus diesem Grund ist die Zuständigkeit des IStGH auf besonders schwere Verbrechen begrenzt: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Insgesamt 43 Staaten hatten innerhalb weniger Tage nach dem 24. Februar 2022 die Ermittlungen an den Chefankläger überwiesen, was zuvor in der Anzahl noch nie passiert war. Am 17. März 2023 wurden vom IStGH gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Kommissarin für Kinderrechte Marija Lwowa-Belowa internationale Haftbefehle erlassen. Beide sollen für das Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Vertreibung beziehungsweise Überführung ukrainischer Kinder aus den besetzten Gebieten der Ukraine in die Russische Föderation verantwortlich sein. Weitere Haftbefehle, so auch gegen den früheren russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu, folgten. Mit einer Festnahme der Beschuldigten ist in nächster Zeit jedoch nicht zu rechnen.
Schon früh wurde auch der Ruf nach einem Sondertribunal für die Ukraine laut. Es handelt sich dabei um einen zeitlich begrenzten und für eine konkrete Situation einberufenen Strafgerichtshof. Dies wäre nötig, da 2022 weder Russland noch die Ukraine Vertragsstaaten des Römischen Statuts waren. Zwar hat sich die Ukraine der Gerichtsbarkeit des IStGH unterworfen, was die oben genannten Haftbefehle erklärt. Zudem ratifizierte sie kürzlich, 24 Jahre nach Unterzeichnung, im August 2024 das Römische Statut. Es besteht jedoch eine Zuständigkeitslücke für das Verbrechen der Aggression. Hier kann aufgrund eines politischen Kompromisses nicht gegen Staatsangehörige von Nichtvertragsstaaten vorgegangen werden, sofern der UN-Sicherheitsrat hierzu kein „grünes Licht“ gibt. Aufgrund des Vetorechts Russlands als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat scheidet diese Option jedoch aus (und auch eine Vertragsänderung ist in nächster Zeit unrealistisch). Die tatsächliche Errichtung eines Sondertribunals ist aber bisher ebenso wenig absehbar.
Neben den gerichtlichen Verfahren verurteilte die internationale Staatengemeinschaft bereits am 2. März 2022 die russische Invasion. Nur wenige Tage nach Russlands Angriff auf die Ukraine stimmten 141 Staaten für einen sofortigen Rückzug russischer Truppen. Knapp ein Jahr später, am 23. Februar 2023, wiederholte die UN-Generalversammlung eine ähnliche Aufforderung – erneut stimmten 141 Staaten dafür. Mit der UN-Resolution vom 12. Oktober 2022 erklärten darüber hinaus 143 Staaten die Annexionen der ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson für ungültig und forderten Russland erneut dazu auf, sich „unverzüglich, vollständig und bedingungslos“ aus der Ukraine zurückzuziehen, da es die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine verletze. All dies hatte jedoch keine nennenswerte Wirkung auf das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine. Der Krieg hält an.
Das Völkerrecht und der 7. Oktober 2023
Ähnlich sieht es mit Blick auf den Nahen Osten aus. Das Existenzrecht Israels wird zunehmend bedroht. Israel verteidigt sich seit mehr als einem Jahr an mehreren Fronten. Der Nahostkonflikt ist mit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den am Folgetag begonnenen Raketenangriffen der Terrormiliz Hisbollah im Libanon eskaliert. Der Iran hat Israel in diesem Jahr bereits zwei Mal mit mehreren hundert Raketen angegriffen. Israel hat mit gezielten Militäraktionen Terroristen in Gaza, Syrien, im Libanon und dem Iran getötet. Anfang Oktober 2024 startete, nach Gaza, auch eine israelische Bodenoffensive gegen die Hisbollah im Libanon. In Gaza und dem Libanon sind dabei auch viele Zivilisten gestorben. In Gaza herrscht eine humanitäre Katastrophe.
Auch hier arbeiten die internationalen Gerichte im Rahmen ihrer Kompetenzen die Entwicklungen auf. Obwohl Israel den IGH sowie den IStGH formell nicht anerkennt, verteidigt es sich gegen die dort erhobenen Vorwürfe. Südafrika hat gegen Israel eine Klage vor dem IGH erhoben, gestützt auf den Vorwurf eines Völkermords an den Palästinensern. Der Chefankläger des IStGH hat im Rahmen seiner Ermittlungen nicht nur Haftbefehle gegen drei Hamas-Terroristen beantragt, sondern auch gegen den damaligen israelischen Verteidigungs- und den Premierminister. Am 21. November 2024 hat der IStGH die Haftbefehle erlassen. Auch hierzu hat Israel Stellung genommen beziehungsweise Beschwerde eingelegt. Damit nimmt Israel die Vorwürfe ernst und respektiert die beiden internationalen Gerichte. Die Gerichte werden sich ausreichend Zeit nehmen, vor allem im Hauptsacheverfahren, Sachlage und Fakten substanziell und umfassend zu bewerten. Angesichts der Warnungen an die Bevölkerung, der humanitären Hilfe und der Tatsache, dass sich Israel fortwährend Angriffen der Hamas ausgesetzt sieht und sich verteidigen muss, erscheint der Vorwurf des Völkermords, trotz einiger höchst fragwürdiger Aussagen israelischer Minister (die selbst zumeist aber keine Militärführung ausüben), juristisch jedoch zweifelhaft.
Angesichts der vielen Diskussionen im Sicherheitsrat und der intensiven Waffenstillstandsverhandlungen aller Parteien wird aber erneut deutlich, dass auch dieser Konflikt nicht vom Völkerrecht befriedet werden kann. Ist das Völkerrecht also wirkungslos? Verliert es somit seinen Wert?
Das Recht schließt keinen Frieden – Staaten tun es
Zwar ist es frustrierend und zermürbend, wenn Beschlüsse oder Gerichtsentscheidungen im internationalen Kontext nicht umgesetzt werden. Doch ist es wichtig zu verstehen, was das Völkerrecht kann – und was eben nicht. Laut Definition der UN legt das Völkerrecht „die rechtlichen Verpflichtungen der Staaten in ihrem Verhalten untereinander und in ihrer Behandlung von Einzelpersonen innerhalb der Staatsgrenzen fest“. Das deckt viele Themen von internationalem Interesse ab, wie etwa Menschenrechte oder Welthandel. Heute gibt es ein weit verflochtenes internationales Regelwerk, das in viele Bereiche wirkt. In Deutschland sprechen wir in diesem Zusammenhang von der regelbasierten internationalen Ordnung.
Im Vergleich zum nationalen öffentlichen Recht gibt es im Völkerrecht einen elementaren Unterschied. Das nationale öffentliche Recht regelt, im Unterschied zum Zivilrecht, das Verhältnis des Individuums zum Staat. Das Völkerrecht hingegen regelt das Verhältnis zwischen Staaten. Dieser Aspekt ist essenziell, denn die große Enttäuschung über das Völkerrecht rührt oftmals daher, dass irrtümlich von der Funktionsweise des nationalen Rechts ausgegangen wird. Im Völkerrecht gibt es jedoch keine Überstaatlichkeit, keine Gewalt über dem Staat. Die Staaten stehen hierarchisch nebeneinander. Sie sind souverän. Staaten gehen ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen freiwillig ein. Da sie das Interesse haben, dass andere Staaten die Regelungen einhalten, verpflichten sie sich, dies ebenso zu tun. Brechen sie ihre Verpflichtung, schwächen sie das gegenseitige Vertrauen und ermutigen damit wiederum andere, ihrem Beispiel zu folgen. Grundlage der Vereinbarung ist somit gemeinsames Interesse und Vertrauen.
Das bedeutet nicht, dass ein Regelbruch folgenlos bleibt. Es gab auf internationaler Ebene sehr wohl Reaktionen auf den Angriffskrieg Russlands: Die USA und andere Länder sowie die EU verhängten massive und beispiellose Sanktionen gegen Russland. Alle Konsequenzen setzen jedoch eine aktive Handlung der Staatengemeinschaft voraus. Es gibt keinen automatischen Vollzug. Der völkerrechtswidrig handelnde Akteur muss aktiv zur Wiederherstellung der Regelkonformität gedrängt werden. Dies funktioniert nur, wenn er sich von den Handlungen der anderen Staaten tatsächlich beeinflussen lässt. Die Umsetzung der Verpflichtung hängt immer vom souveränen Staat selbst ab – anders als im nationalen Recht, in dem der Staat als Ordnungsmacht mit seinem Gewaltmonopol ins Leben des Einzelnen eingreift.
Staaten fühlen sich unterschiedlich stark an das Völkerrecht gebunden. Oftmals folgen sie ihm (leider) nur, solange es ihnen einen Vorteil bringt. Die Großmächte USA, Russland, China und Indien haben beispielsweise das Römische Statut bisher nicht ratifiziert und somit die Rechtsprechungsgewalt des IStGH nicht anerkannt. Dies schwächt ein sowieso fragiles internationales System umso mehr. Ernst-Otto Czempiel fasste das Verhältnis zwischen dem Völkerrecht und der politischen Realität wie folgt zusammen: „Das Völkerrecht ist und bleibt ein Konsensrecht, das darauf angewiesen ist, von den beteiligten Staaten akzeptiert zu werden. Seine Friedensleistung ist nur so groß, wie die Systemmitglieder dies zulassen. Bei ihnen liegt daher die Entscheidung darüber, ob und in welchem Maße das Völkerrecht den Frieden voranbringen kann.“
Die Rolle des UN-Sicherheitsrats
Die Krise des Völkerrechts ist, wenn man so will, weniger eine Krise des Rechts als der Völker. Es kann nur funktionieren, wenn alle Staaten, die sich ihm unterwerfen, es gleichermaßen verstehen wie anwenden. Die Akzeptanz des Rechts ist die Grundvoraussetzung für seine Wirksamkeit. Der Befund, dass das Völkerrecht sich in einer Krise befinde, ist auch nicht neu. Es liegt in der Natur der Sache, dass dieser Diskurs sich wiederholt, wenn das Gewaltverbot – aus Sicht mehrerer Staaten – ungerechtfertigterweise verletzt und der Gewaltausbruch nicht schnell von der internationalen Gemeinschaft eingedämmt wird. Als problematisch hat sich in diesem Kontext – nicht nur im aktuellen Ukrainekrieg – das Vetorecht einzelner Mitgliedstaaten im UN-Sicherheitsrat erwiesen.
Der Sicherheitsrat ist die zentrale Macht- und Sanktionsinstanz der Vereinten Nationen. Er besteht aus 15 Mitgliedern – fünf ständigen und zehn auf je zwei Jahre gewählten Staaten. Neben Frankreich, China, den USA und dem Vereinigten Königreich ist auch Russland ständiges Mitglied. Es ist Aufgabe des Sicherheitsrats, Maßnahmen zu beschließen und durchzusetzen, wenn es zu einem widerrechtlichen Verstoß gegen das Gewaltverbot kommt, so ist es im Kapitel VII der Charta festgehalten. Neben dieser Verantwortung ist der Sicherheitsrat auch zuständig, wenn eine Streitpartei ihren Verpflichtungen aus einem Urteil des IGH nicht nachkommt. Artikel 94 der UN-Charta legt fest, dass der Sicherheitsrat Maßnahmen beschließen kann, um dem Urteil Wirksamkeit zu verleihen. Angesichts dieser Tatsachen überrascht es nicht, dass die vielschichtigen völkerrechtlichen Bemühungen in Hinblick auf den Ukrainekrieg bisher keine Erfolge verzeichnen konnten. Russland hat als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat und nach Artikel 27 Absatz 3 der UN-Charta ein Vetorecht. Die fünf ständigen Ratsmitglieder können mit ihrer Stimme jeden Beschluss des Sicherheitsrats blockieren. Das russische Veto verhindert somit jede Resolution, die verbindliche Maßnahmen gegen das Land in die Wege leiten würde. Es sind demnach diese fünf Mitgliedstaaten, die sich jedes Mal einig werden müssen. Und es ist somit der Sicherheitsrat, der – aus politischen Gründen – immer wieder daran scheitert, die Gerichtsentscheidungen und das Recht durchzusetzen. Der Sicherheitsrat ist vielmehr ein politisches als ein rechtliches Gremium. Zur Durchsetzung des Völkerrechts bedarf es stets eines politischen Willens. Hieran fehlt es.
Zurecht wird immer wieder eine Reform des Sicherheitsrats gefordert. Dieser spiegelt die Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg wider. Dies entspricht jedoch nicht mehr den heutigen geopolitischen Realitäten. Seit 1945 sind 142 weitere Staaten Mitglieder der UN geworden. Damit alle Mitgliedstaaten die Entscheidungen des Sicherheitsrats respektieren, muss dieser entsprechend legitimiert und damit auch repräsentativ sein. Es fehlt ihm sonst an der notwendigen Autorität. Die Bundesregierung weist richtigerweise darauf hin, dass bei Ausbleiben einer Reform die Gefahr besteht, dass Entscheidungsprozesse auf andere Foren verlagert werden, auch wenn diese nicht die Bindungswirkung und Legitimität des Sicherheitsrates besitzen. In der Tat besteht durch die russische Aggression auch die „Gefahr einer steigenden Tendenz, dass politische Konflikte gewaltsam ausgetragen werden, dass imperialistische Ziele gewaltsam verwirklicht werden“.
Es braucht ein angepasstes Erwartungsmanagement
Doch deshalb ist, anders als von einigen deutschen und internationalen Experten in Bezug entweder auf die russische Aggression in der Ukraine oder den Krieg in Gaza behauptet wird, das Völkerrecht nicht „am Ende“. Auch ist das Völkerrecht nicht wirkungslos. Die Errungenschaften des Völkerrechts sind keinesfalls selbstverständlich. Es hat Jahrzehnte gebraucht, um es in seinem heutigen Zustand zu entwickeln. Der langanhaltende europäische Frieden liegt – neben weiteren wichtigen Faktoren – auch maßgeblich im Völkerrecht begründet. Während es in den vergangenen 70 Jahren rund 135 militärische Konflikte zwischen souveränen Staaten gab, waren es in den 70 Jahren davor mehr als 180. Dank der Vereinten Nationen kommen alle Mitgliedstaaten immer wieder an einen Tisch und verhandeln.
Leider bleiben Krisen, Fehler und Misserfolge oft stärker im Gedächtnis als Errungenschaften und Erfolge. Diese sollten jedoch nicht in Vergessenheit geraten. Trotz der Reformbedürftigkeit und Schwächen sind die etablierten Systeme friedensstiftend. Um das internationale Gefüge kontinuierlich weiter zu stärken und zu verbessern, bedarf es Geduld und eines angepassten Erwartungsmanagements.
Obwohl Russland seinen Krieg weiterführt, ist die Wirkung der Gerichtsentscheidungen und Abstimmungen in der UN-Generalversammlung nicht zu unterschätzen. Putin gilt in weiten Teilen der Welt als gesuchter Kriegsverbrecher. Er ist in seiner Reisefreiheit stark eingeschränkt (auch wenn ihn die Mongolei, trotz ihrer vertraglichen Verpflichtung als Mitgliedstaat des IStGH, bei einem Staatsbesuch kürzlich nicht festnahm). Die klare Verurteilung der von Russland als „Spezialoperation“ bezeichneten Aggression seitens 141 Mitgliedstaaten der UN hinterlässt Wirkung. Eine deutliche Mehrheit der Staaten lehnt den Angriffskrieg entschieden ab. Und das Urteil des IGH behält eine hohe autoritative Kraft und Bedeutung für alle, auch wenn es (vorerst) nicht um- oder durchgesetzt wurde.
Dies alles ist (auch) dem Völkerrecht zu verdanken. Es ist zudem das Völkerrecht mitsamt seinen Gerichten, das sicherstellt, dass der russische Angriffskrieg aufgearbeitet und untersucht wird und die Verantwortlichen, so gut es geht, zur Rechenschaft gezogen werden. Es gilt das Prinzip der Abschreckung und des langen Atems. Auch wenn Putin am Ende nicht verhaftet werden sollte, so kann er jedenfalls angeklagt werden. Dies zeigt auch Wirkung gegenüber anderen Staaten und hält diese möglicherweise von einem eigenen Angriffskrieg ab.
Auch im Nahostkonflikt setzt das Völkerrecht den rechtlichen Rahmen. Alle Parteien werden wiederholt daran erinnert. Es ist der Maßstab, den auch Deutschland als Grundlage anlegt. Während Hamas und Hisbollah als Terrororganisationen das Völkerrecht mit Füßen treten, ist es Israels Anspruch, sich daran zu halten.
Das Recht ist nur ein Werkzeug – und muss mehr denn je gestärkt werden
Am Ende lebt das Völkerrecht von dem Willen der Staaten, sich daran zu halten. Das Recht ist lediglich ein Werkzeug für Frieden und Gerechtigkeit – jedoch keine Garantie. Es beruht auf Konsens und Reziprozität zwischen den politischen Akteuren. Wer weiterhin eine globale friedensbasierte Ordnung will, muss im Vertrauen auf dasselbe Interesse der anderen Staaten das Völkerrecht weiter stärken und zugleich dafür werben und eintreten, dass es auch politisch durchgesetzt wird. Hier kann und muss die internationale Rechtsstaatsarbeit eine wichtige Rolle übernehmen.
Um bei einem Bild von Carolyn Moser zu bleiben: „Letztlich ist das Völkerrecht für die Weltgemeinschaft wie ein Medikament für einen Kranken: Es kann dabei helfen, Schmerzen zu lindern und die Krankheit zu bekämpfen, doch nur im Zusammenspiel mit den Selbstheilungskräften des Patienten.“ Die Wahrheit ist weiter, dass das Medikament auch verbreitet und genommen werden muss, um zu wirken. Und wirkt es nicht jedes Mal (sofort), so würden wir seine grundsätzliche Funktionsfähigkeit auch nicht gleich in Zweifel ziehen.
Dr. Franziska Rinke ist Referentin für Rechtsstaatsdialog und Völkerrecht in der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Philipp Bremer ist Leiter des Rechtsstaatsprogramms Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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