Man möchte meinen, man sei in eine geschützte Oase eingetaucht, ein verwinkelter Garten, eine mit Palmenkübeln bestandene schattige Terrasse, ab und zu der Gesang eines versprengten tropischen Vogels. Jenseits dessen, die pulsierende Stadt, laut und geschäftig, niemals müde, immer lebendig; jedes Mal ein Kunststück, seinen Weg ohne größere Verspätung durch das dichte Verkehrschaos zu finden.
Es ist kurz vor Ostern, als ich in einem italienischen Restaurant im Zentrum Nairobis Willy Mutunga gegenübersitze, ein nachdenklicher Mann mit einem großen Erfahrungsschatz, ruhige, freundliche Augen, ein wacher Blick. Man merkt sofort: Willy Mutunga hat schon viel gesehen in seinem Leben – ein engagierter Kämpfer für Demokratie und Gerechtigkeit, politischer Dissident in den Jahren der Diktatur unter Präsident Moi, seinerzeit inhaftiert, viele Jahre später dann erster Chief Justice und Präsident des kenianischen Supreme Court unter der neuen Verfassung Kenias aus dem Jahr 2010. Er ist eine zentrale Figur der kenianischen Rechtsstaatsszene und dem Rechtsstaatsprogramm der Konrad-Adenauer-Stiftung seit Jahren freundschaftlich verbunden, ein stets wertvoller Ansprechpartner für mich. Schnell fällt unser Gespräch auf ein Thema, mit dem ich mich seit Monaten immer wieder beschäftigt habe und das wie kein anderes seit nahezu drei Jahren die politische Diskussion im Land beherrscht.
Vielbeachtetes Urteil
Erst eine Woche zuvor hat der Supreme Court, das Oberste Gericht Kenias, sein lang erwartetes Urteil gefällt und einen Schlussstrich gezogen unter die umstrittene Building Bridges Initiative des kenianischen Staatspräsidenten Kenyatta, eines der wichtigsten politischen Projekte während dessen zweiter Amtszeit, propagiert als Reformprojekt zur Überwindung ethnischer Gräben, dabei einhergehend mit massiven Eingriffen in die kenianische Verfassung.
Schon als der kenianische High Court die Building Bridges Initiative vor rund einem Jahr, im Mai 2021, für verfassungswidrig und damit für „null und nichtig“ erklärte, hielt das Land für einen Moment den Atem an. Das erstinstanzliche Urteil des fünfköpfigen Richtergremiums der für Verfassungsklagen zuständigen Kammer des High Court in Nairobi kam überraschend, vor allem in seiner Deutlichkeit – ein juristischer Paukenschlag gegen die Regierung, der seinesgleichen suchte.
Die ohnehin lebendige Debatte um die Building Bridges Initiative, kurz BBI, nahm von da an zusätzlich an Fahrt auf. Wohl kaum ein Gerichtsverfahren hat in der jüngeren kenianischen Vergangenheit so viel Aufsehen erregt und für so viel Diskussionsstoff quer durch sämtliche Bevölkerungs- und Bildungsschichten gesorgt wie das BBI-Verfahren. Nachdem das Berufungsgericht, der Court of Appeal, das Urteil im August 2021 im Grundsatz bestätigt hatte, legte die Regierung Ende letzten Jahres Berufung beim Obersten Gerichtshof ein.
Seit Monaten wurde der letztinstanzliche Richterspruch mit Spannung erwartet; am 31. März 2022 endlich war es so weit, der Supreme Court verkündete sein Urteil, ganze vier Monate vor den im August anstehenden Präsidentschaftswahlen. Die Kenianer konnten die Verlesung in einer sechsstündigen Live-Übertragung im kenianischen Fernsehen verfolgen, die mediale Aufmerksamkeit war enorm.
Im Ergebnis hat der Supreme Court die Building Bridges Initiative gestoppt, für „null und nichtig“ hat er sie allerdings nicht erklärt, weshalb sich an der Entscheidung momentan die Geister scheiden. Wie auch immer der finale Richterspruch aktuell bewertet und diskutiert wird, der Supreme Court hat sicherlich eines seiner bedeutendsten Urteile gegen die kenianische Regierung seit Annullierung der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 gefällt und damit einen weiteren eindrucksvollen Beweis richterlicher Unabhängigkeit in Kenia und der Region geliefert. Es waren ebenjene 2017 annullierten Präsidentschaftswahlen, die zum Ausgangspunkt für besagte Building Bridges Initiative wurden, und auf die ein Blick geworfen werden muss, um die Tragweite des momentanen Geschehens zu erfassen.
Umstrittene Präsidentschaftswahl als Ausgangspunkt
Als die wegen frappierender Unregelmäßigkeiten im August 2017 vom Supreme Court annullierten Präsidentschaftswahlen noch im selben Jahr wiederholt wurden, konnte der ursprüngliche Wahlsieger, Staatspräsident Uhuru Kenyatta, Amtsinhaber seit 2013 und Sohn des Staatsgründers und ersten kenianischen Staatspräsidenten Jomo Kenyatta, das Wahlergebnis klar bestätigen, dies jedoch nicht zuletzt deshalb, weil sein wichtigster politischer Gegner und Kläger vor dem Supreme Court, Raila Odinga, die Wiederholungswahl boykottierte und das Wahlergebnis in der Folge nicht anerkannte. Stattdessen ließ er sich im Januar 2018 in einer von ihm selbst initiierten aufwändigen Zeremonie im Zentrum der Hauptstadt zum „Präsidenten des Volkes“ vereidigen.
Die politische Pattsituation ließ beklemmende Erinnerungen an das Blutvergießen nach den Präsidentschaftswahlen von 2007 wach werden; die damaligen Gewaltausbrüche zwischen verschiedenen Volksgruppen, die hinter den gegnerischen politischen Lagern standen, kosteten über 1.000 Kenianer das Leben und sind zu einer Art nationalem Trauma geworden. Um eine mögliche Wiederholung der Ereignisse zu verhindern, kam es schließlich im März 2018 zum sogenannten „Handshake“ zwischen den politischen Erzfeinden Kenyatta und Odinga, der in besagte Building Bridges Initiative, als Projekt zur Förderung der nationalen Einheit propagiert, mündete. Statt Brücken zu bauen, scheint BBI das Land jedoch seitdem eher gespalten zu haben.
Der im Oktober 2020 veröffentlichte sogenannte BBI-Bericht, zusammengetragen von einer eigens hierfür vom Präsidenten eingesetzten Taskforce, enthält zunächst ein breites Bündel an Vorschlägen zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, beispielsweise durch eine verstärkte politische Aufklärungs- und Bildungsarbeit – ein in einem über 40 Volksgruppen zählenden, durch ethnische Zugehörigkeiten geprägten Staat sicher begrüßenswerter Ansatz. Daneben enthält der Bericht jedoch auch eine ganze Reihe von Vorschlägen, über 70 an der Zahl, für eine umfassende und teils tiefgreifende Änderung der Verfassung.
Besonders die Einführung des Amts eines vom Staatspräsidenten zu ernennenden Premierministers sorgte von Beginn an für scharfe Kritik. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass Staatspräsident Kenyatta nicht für eine dritte Amtszeit kandidieren und sich demzufolge in diesem Jahr nicht mehr zur Wahl stellen kann. Schnell stand die Vermutung im Raum, der neu geschaffene Premierministerposten sei für den scheidenden Staatspräsidenten bestimmt, zumal sein einstiger politischer Widersacher und Mitbegründer der Building Bridges Initiative, Raila Odinga, der nun von ihm öffentlich unterstützte Präsidentschaftskandidat ist. Auch die Posten zweier Vize-Premierminister sollten in der Verfassung festgeschrieben werden sowie je ein Stellvertreterposten für jedes Kabinettsmitglied; hinzu sollten 70 neue Wahlkreise kommen, was eine erhebliche Vergrößerung der 349 Mitglieder zählenden Nationalversammlung mit ihren hochdotierten Sitzen zur Folge gehabt hätte. Die Schaffung einer Vielzahl neuer Posten in einem ohnehin hochverschuldeten Staatswesen warf Fragen in der Öffentlichkeit auf. Vorwürfe wurden laut, es gehe darum, politische Günstlinge zu belohnen.
Ebenfalls kritisch bewertet wurde die Schaffung des Amtes eines vom Präsidenten zu ernennenden juristischen Ombudsmanns, der Beschwerden gegen Vertreter der Justiz entgegennehmen sollte, auf deren Grundlage er eigene Untersuchungen hätte vornehmen können. Nicht zu Unrecht wurden Befürchtungen laut, der Ombudsmann könne zum Einfallstor für massive Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit werden. Die vielkritisierten Reformvorschläge mündeten in den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der kenianischen Verfassung, der im November 2020 ins Parlament eingebracht wurde. Formal gesehen sollte es sich dabei um einen Volksentscheid handeln, ein entscheidender Punkt, auf den später noch genauer einzugehen sein wird.
Angriff auf die DNA der Verfassung?
Willy Mutunga schiebt sein Glas zur Seite. Er legt seine Stirn in Falten. Viele Kenianer, hält er mir entgegen, würden meine Einschätzung zu dem Urteil wahrscheinlich für zu optimistisch halten, die Dinge wesentlich kritischer sehen. Für viele sei das Urteil des Supreme Court hinter den Erwartungen zurückgeblieben, gleich einer vertanen Chance. Sein Einwurf überrascht mich nicht, denn seit Tagen wird darüber diskutiert, weshalb der Supreme Court in wichtigen Punkten von den vorinstanzlichen Urteilen abgewichen ist. Ein genauerer Blick auf die Urteile offenbart einiges über die kenianische Rechtskultur und über die grundsätzlichen Herausforderungen, mit denen sich die Justiz in der Region konfrontiert sieht.
Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass die Gerichte aller Instanzen ihre Entscheidungen sorgfältig und umfassend abgewogen haben. Die ins Feld geführten juristischen Argumente sind im Wesentlichen plausibel und nachvollziehbar. Der Vorwurf, der von Anfang an im Raum stand, die Urteile seien politisch motiviert, erscheint vor diesem Hintergrund nicht gerechtfertigt. Die neue Präsidentin des Supreme Court, Martha Koome, seit Mitte 2021 im Amt und erste weibliche Chief Justice in der Geschichte Kenias, hat ihre Aufgabe ernst genommen. Ein jeder der sieben Richter des Obersten Gerichtshofes musste seine eigene Urteilsbegründung schreiben. Das erhöht die Transparenz. Ob sich Gleiches über die Rechtssicherheit sagen lässt, soll dahingestellt bleiben. Das gesamte Urteil umfasst am Ende rund 1.000 Seiten.
Der Hauptkritikpunkt gegen das Urteil liegt darin, dass sich das Gericht gewunden habe, klar Stellung zu beziehen und einen wesentlichen Punkt verworfen habe: die Anwendbarkeit der sogenannten Basic Structure Doktrin. Grundlage ist die Theorie vom sogenannten unantastbaren Wesensgehalt der Verfassung, zu Zeiten der Weimarer Republik begründet durch den französischen Rechtswissenschaftler Maurice Hauriou sowie durch den deutschen Verfassungsrechtler Carl Schmitt. Hiernach sind Verfassungsänderungen, welche in den Wesenskern der Verfassung eingreifen, verfassungswidrig. Für solch tiefgreifende Änderungen bedarf es vielmehr des Rückgriffs auf die verfassungsgebende Gewalt, also das Volk selbst oder eine verfassungsgebende Versammlung, was quasi der Annahme einer neuen Verfassung gleichkäme.
Die Anwendbarkeit der Basic Structure Doktrin war eines der wichtigsten Argumente der Kläger – insgesamt fünf Privatpersonen, die im Rahmen einer Public Interest Litigation, einer Klage im öffentlichen Interesse, die Verfassungswidrigkeit des BBI-Gesetzes vor dem High Court angemeldet haben. Die Klage ist im weiteren Sinne vergleichbar mit einer abstrakten Normenkontrolle nach deutschem Verfassungsrecht und wäre, da durch Bürger initiiert, so in Deutschland nicht möglich gewesen. Auch in Kenia sei eine solche Klage mangels persönlicher Betroffenheit früher ausgeschlossen gewesen, erklärt mir Willy Mutunga. Erst die neue Verfassung von 2010 habe diese erweiterte Klagemöglichkeit geschaffen – ein Beweis dafür, dass der Verfassungsgeber die Belange und Rechte der Bürger stärker in den Mittelpunkt rücken wollte.
Der High Court wie auch das Berufungsgericht, der Court of Appeal, bestätigen die Auffassung der Anwendbarkeit der Basic Structure Doktrin in Kenia und berufen sich dabei unter anderem auf ein Urteil des indischen Supreme Court von 1973, in dem die Anwendbarkeit der Doktrin erstmals von einem Obersten Gericht festgestellt wurde. Der High Court argumentiert, dass die kenianische Verfassung von 2010 zwar keine expliziten Ewigkeitsklauseln wie beispielsweise Artikel 79, Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes enthalte; dennoch ergebe sich aus der Basic Structure Doktrin die implizite Unabänderbarkeit gerade solcher Normen, die die unverwechselbare DNA der Verfassung begründeten. Die beabsichtigten Reformen wurden teils als solche schwerwiegenden Eingriffe in die Grundstrukturen der Verfassung, beispielsweise in den Grundsatz der Gewaltenteilung, gewertet. Notwendig für die Durchführung einer derart grundlegenden Verfassungsreform wäre nach Auffassung des High Court eine Autorisierung durch die verfassungsgebende Gewalt gewesen, in diesem Falle durch die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung mit anschließender Volksabstimmung, auf der Grundlage einer breiten Bürgerbeteiligung.
Willy Mutunga hat am eigenen Leib miterlebt, was es bedeutet, wenn die politische Elite eine Verfassung so lange aushöhlt, bis sie nicht wiederzuerkennen, sie gleichsam in ihre Einzelteile zerfallen ist. Er erzählt davon, wie die Unabhängigkeitsverfassung Kenias von 1963 durch unzählige Reformen ihrer rechtsstaatlichen Strukturen beraubt worden sei, bis sich das Land zu Beginn der 1980er-Jahre faktisch in einen autokratischen Einparteien-Staat verwandelt hatte; in Kenia spricht man von einer „Hyper-Amendment“-Kultur. Andere Länder in der Region, wie Uganda und Tansania, haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Mutunga war ab Anfang der 1990er-Jahre, nach Wiedereinführung der Mehrparteiendemokratie, selbst involviert in die seinerzeit maßgeblich durch eine starke Bürgerbewegung gegen das Moi-Regime angestoßenen Prozesse zur Erarbeitung einer neuen Verfassung. Bis zur Annahme der Verfassung 2010 sollte es noch einige Jahre dauern. Willy Mutunga erklärt, dass der High Court die Verfassung richtigerweise in ihrem historischen Kontext interpretiert habe. Die Kenianer hätten sich aus den schmerzlichen Erfahrungen der vorhergehenden Jahrzehnte eine vorbildliche Verfassung gegeben, die ein stabiles demokratisches System sowie den Schutz der Menschenrechte garantiere. Der High Court hat entsprechend im Wege einer historischen Interpretation festgestellt, dass es die Absicht der Kenianer gewesen sei, sich eine Verfassung zu geben, deren Wesenskern geschützt und unabänderlich sei.
Oberstes Gericht setzt andere Akzente
Ich lehne mich zurück und lasse meinen Blick für einen Moment durch den kleinen Restaurantgarten schweifen. Wenn ich eines verstanden habe in meinen erst eineinhalb Jahren in Kenia, dann, dass die Kenianer unendlich stolz auf ihre Verfassung sind, geboren aus einem jahrzehntelangen mutigen Kampf für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und bürgerliche Teilhabe, eine Verfassung, die zusammen mit der südafrikanischen Verfassung zu den progressivsten in ganz Subsahara-Afrika zählt.
Einzigartig ist die kenianische Verfassung vor allem aufgrund ihres Entstehungsprozesses, der eine breite und äußerst ernsthaft betriebene Bürgerbeteiligung beinhaltete. Die im Jahr 2000 eingesetzte Constitution of Kenya Review Commission führte zahllose Bürgerkonsultationen im ganzen Land durch und ging in ihrem Abschlussbericht, dessen Ergebnisse in die 2010 per Referendum angenommene Verfassung einflossen, ausführlich auf die zu jedem einzelnen Themenbereich von den Bürgern geäußerten Wünsche und Befürchtungen ein. Aufgrund dieses in seiner Inklusivität bemerkenswerten Prozesses genießt die Verfassung eine hohe Identifikationskraft und Verwurzelung in der kenianischen Bevölkerung. Es seien genau diese Errungenschaften einer auf dem Willen der Bürger gründenden Verfassung, um deren Verteidigung es im Prozess um die Building Bridges Initiative gehe, erklärt mir Willy Mutunga.
Ich frage ihn, ob die Basic Structure Doktrin für ihn ein eher ausländisches und damit „un-afrikanisches“ Rechtskonzept sei, was er sogleich verneint, und sich spontan eine schöne Übersetzung ins Kiswahili überlegt: Nguzo, die Säule. Er muss lachen, als ich ihm mein Notizbuch zuschiebe und ihn bitte, das Wort für mich aufzuschreiben.
Der Supreme Court hat die Basic Structure Doktrin im Gegensatz zu den vorinstanzlichen Gerichten für unanwendbar erklärt und ist damit einer Auslegung gefolgt, die sich streng am Wortlaut der Verfassung orientiert. Das Oberste Gericht stützt sich im Wesentlichen darauf, dass die in der Verfassung enthaltenen Artikel zur Verfassungsänderung hinreichend Schutz vor missbräuchlichen Eingriffen in die Grundfesten der Verfassung böten. Die möglichen Verfahren zur Verfassungsänderung sind hiernach ein parlamentarisches Gesetz oder ein Volksbegehren, jeweils verbunden mit der Pflicht zur Abhaltung eines Referendums, sofern die beabsichtigten Änderungen in bestimmte explizit aufgeführte Grundprinzipien der Verfassung eingreifen, zu denen beispielsweise das Volk als Souverän, der Menschenrechtskatalog oder die Unabhängigkeit der Justiz zählen. Man würde den Bürger als Verfassungsgeber übergehen, wollte man dem nun ein externes ausländisches Rechtskonzept hinzufügen. Eine Parallele zu dem erwähnten Urteil des indischen Supreme Court im Fall Kesavananda lehnt das kenianische Oberste Gericht ab, da die indische Verfassung keine der kenianischen Verfassung vergleichbaren explizit engen Schranken im Hinblick auf Verfassungsänderungen setze.
Das Urteil nimmt eine sorgfältige Analyse zahlreicher ausländischer Gerichtsurteile und Rechtsmeinungen vor, es fallen Namen auch deutscher Rechtswissenschaftler wie Dieter Grimm, Ernst-Wolfgang Böckenförde oder Dieter Conrad. Die Argumentation ist ausgewogen und juristisch plausibel. Auf die Frage, ob dem verfassungsändernden Gesetz materiell-rechtlich etwas entgegenzusetzen wäre, geht das Gericht nicht mehr ein, sondern beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Basic Structure Doktrin mangels einer Rechtslücke in der kenianischen Verfassung keine Anwendung findet.
Der Supreme Court zieht die Reißleine im Endeffekt an anderer Stelle und an einem viel früheren Punkt. Er stellt einen maßgeblichen Verfahrensfehler im Ablauf des gesamten BBI-Prozesses fest. Springender Punkt: Das in Form eines Volksbegehrens angestoßene Verfahren wurde vom Präsidenten selbst initiiert. Ausgangspunkt für BBI waren in der Tat die Berichte einer vom Präsidenten eingesetzten Taskforce sowie eines Steering Committee, aus denen am Ende das verfassungsändernde Gesetz hervorging. Gemäß den Vorgaben der Verfassung wurde die erforderliche eine Million an Unterschriften gesammelt sowie die Zustimmung der Mehrheit der 47 Regionalversammlungen eingeholt. Das Gesetz wurde daraufhin ins Parlament eingebracht und verabschiedet. Mitte 2021 hätte das erforderliche Referendum folgen sollen, was jedoch durch den Gerichtsprozess gestoppt wurde.
Ein vom Präsidenten angestoßenes Volksbegehren erscheint insbesondere absurd vor dem Hintergrund, dass es die verfassungsmäßige Rolle des Präsidenten ist, dem Gesetz nach Durchführung des Referendums seine finale Zustimmung zu erteilen, womit er eine inakzeptable Doppelrolle einnehmen würde. Im Ergebnis sei das BBI-Verfahren damit verfassungswidrig. So weit wie die Gerichte der Vorinstanzen, die in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens gegen den Präsidenten bejahten, ist der Supreme Court jedoch nicht gegangen. Er verwirft diese Feststellung aufgrund der in der Verfassung verbürgten Immunität des Staatspräsidenten.
Ebenfalls für verfassungswidrig erklärt der Supreme Court die Schaffung von 70 neuen Wahlkreisen, jedoch auch dies eher aus einem Verfahrensgrund. Da der Vorschlag erst nachträglich in den Gesetzesentwurf eingefügt wurde, fehle die erforderliche Bürgerbeteiligung. Die vorinstanzlichen Gerichte waren hier expliziter und haben zusätzlich unterstrichen, dass der Zuschnitt der Wahlkreise der in der Verfassung verankerten Independent Electoral and Boundaries Commission vorbehalten sei und nicht über eine Verfassungsreform geändert werden könne.
Abschließend sei noch die von den Vorinstanzen bemängelte unzureichende Bürgerbeteiligung im gesamten Verfahren erwähnt, unter anderem da die BBI-Berichte nur online publiziert wurden und nicht in Kiswahili vorlagen. Der Supreme Court vertritt hierzu die gegenteilige Auffassung und sieht die Verfassungswidrigkeit der Initiative zumindest nicht in mangelnder Bürgerbeteiligung begründet.
Im Ergebnis weicht das Supreme Court Urteil tatsächlich – teils erheblich – von den vorinstanzlichen Urteilen ab. Dennoch ist der Ausgang des Verfahrens als Erfolg zu bewerten. Zwar könnte BBI, da es in erster Linie an Verfahrensfragen gescheitert ist, durchaus wiederbelebt werden, jedoch hat der Supreme Court der momentanen Initiative klar Einhalt geboten und die Exekutive damit in ihre Schranken verwiesen. Der Druck, dem das Oberste Gericht dabei von allen Seiten standzuhalten hatte, lässt sich nur erahnen. In Fachkreisen wird teils von einem pragmatischen, politisch klugen Urteil gesprochen.
Kenianische Justiz widersteht politischem Druck
Wie aufgeheizt die Debatte im Vorfeld war, zeigt ein Passus, den das Gericht unmittelbar vor dem Urteilstenor eingefügt hat. Darin drückt es sein Missfallen über das Verhalten einiger Prozessteilnehmer aus, die das Verfahren über Social Media öffentlich, teils abfällig kommentiert hatten. Auch von Regierungsseite dürfte Druck aufgebaut worden sein. Das Verhältnis zwischen Justiz und Regierung ist in Kenia kein einfaches. Im Anschluss an das erstinstanzliche Urteil des High Court weigerte sich der Staatspräsident, einigen an dem Verfahren beteiligten Richtern ihre Beförderung zu bewilligen. Martha Koomes Vorgänger, David Maraga, unter dem der Supreme Court 2017 die Wahlen annulliert hatte, hatte in der Folge unter einem äußerst rüden Umgangston von Seiten der Exekutive zu leiden. Seitdem gilt das kenianische Justizwesen als unterfinanziert.
Und dennoch behauptet die Judikative in Kenia beharrlich und teils mutig ihren Stand, was durch die BBI-Urteile aller Instanzen einmal mehr bewiesen sein dürfte. Einige Gerichte in der Region tun es den kenianischen gleich, denkt man beispielsweise an die Annullierung der Präsidentschaftswahlen durch das Oberste Gericht in Malawi im Jahr 2019 oder an die Entscheidung des High Court von Zimbabwe aus dem Jahr 2021, der die willkürliche Verlängerung der Amtszeit des amtierenden Chief Justice durch den Staatspräsidenten für verfassungswidrig erklärt hatte. Man kann nur hoffen, dass sich hieraus eine Tendenz für die Zukunft entwickelt und weiter verfestigt, trotz aller Widrigkeiten, mit denen die Justiz in Subsahara-Afrika vielfach zu kämpfen hat.
Das Restaurant hat sich geleert, wir sind die letzten Gäste. Nach all den Daten, Fakten, Hintergründen möchte ich wissen: Was ist Willy Mutungas abschließende Einschätzung zu dem Urteil, was bedeutet es für die Zukunft, liege ich richtig mit meiner eigenen Wertung? Für einen Moment schweigen wir. Er sieht nachdenklich aus, als ob er einen komplexen Gedanken sortieren müsste. Wir sollten das Urteil am Ende als das sehen, was es ist, meint er schließlich, und er sagt es mit Nachdruck: ein Beweis richterlicher Unabhängigkeit und Verfassungstreue, erbracht unter widrigen Umständen, und gleichzeitig ein herausragender Sieg für die Bürger dieses Landes. Wir sollten das Urteil feiern, und nicht wie wir Kenianer es gerne tun, die Dinge allzu kritisch sehen. Ich muss schmunzeln, die Kenianer scheinen uns Deutschen nicht unähnlich zu sein.
Er spricht von einem Prozess, der in kleinen Schritten verlaufe, der Geduld und Augenmaß erfordere und in dem die Justiz immer mehr an Statur gewinne. Das Urteil werde auf die Region ausstrahlen, es könne gleichermaßen eine Inspiration und Ermutigung für Gerichte in anderen Ländern sein. Das Ausmaß dessen, was geschehen sei, sei jedenfalls noch gar nicht richtig zu erfassen. Bei aller Kritik werde das Urteil ein wichtiges Zeichen setzen, die Regierung sich ihr Handeln künftig wohl genauer überlegen müssen. Zweifellos sei das Vertrauen der Bürger in die Justiz gestärkt worden. Der Weg zum Ziel, fügt er hinzu, sei jedoch noch ein langer, streckenweise wohl auch ein steiniger, sicherlich aber ein hoffnungsvoller.
Auf dem Rückweg in die Konrad-Adenauer-Stiftung komme ich mit dem Taxifahrer ins Gespräch, ein aufgeweckter, politisch interessierter Mann. Ich frage ihn, was er von dem Ausgang des Gerichtsverfahrens hält, was es für ihn persönlich bedeutet. Zunächst weicht er mir aus. Es kommt darauf an, meint er, welchem politischen Lager man angehört. Er merkt, dass seine Antwort mich nicht zufriedenstellt. Er zögert einen Augenblick, dann lacht er. Es ist am Ende gut ausgegangen, für uns, für die Bürger, meint er. Wäre es anders gekommen, es wäre eine große Enttäuschung gewesen.
In der Straßenmitte laufen Bauarbeiter in gelben Warnwesten zwischen riesenhaften Metallstreben hin und her. Die von Chinesen gebaute neue Verkehrstrasse zum Flughafen ist fast fertig. Sie soll den Verkehrskollaps in der Stadt verhindern. Die Gebühren für die Nutzung werden hoch sein, unerschwinglich für den durchschnittlichen Kenianer. Auf der roten Erde am Straßenrand stehen kleine Kioske, vor denen sich lange Schlangen bilden, bunt bemalte Kleinbusse spucken Menschen im Minutentakt ins Getümmel aus, ein kleiner Junge steht verloren mit in Zeitungspapier gewickelten Blumenbüscheln am Straßenrand.
Unweigerlich muss ich an unsere Diskussion zurückdenken, an den Sieg für die Bürger, an den langen Weg. Wenn Bürgerbeteiligung im weiteren Sinne irgendwo stattgefunden hat, dann wahrscheinlich hier, auf den Straßen, und wo sonst noch Menschen zusammenkommen. Und wenn diese Initiative etwas Gutes hatte, dann, dass sie eine kritische politische Diskussion auf allen Ebenen entfacht hat, dass ein Bewusstsein für etwas entstanden ist, das man sich als mündiger Bürger nicht mehr nehmen lassen möchte, ein Prozess, der vielleicht unumkehrbar ist, ein Aufbruch für Kenia, womöglich für die Region.
Eine gekürzte Version dieses Beitrags erschien unter dem Titel „Gute Nachrichten aus Afrika: Kenias Justiz behauptet sich“ zunächst am 11. Mai 2022 in der Rubrik „Einspruch Exklusiv“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Dr. Stefanie Rothenberger leitet das Rechtsstaatsprogramm der Konrad-Adenauer-Stiftung für das anglophone Subsahara-Afrika mit Sitz in Nairobi.
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