Ausgabe: 3/2024
Liebe Leserinnen und Leser,
die „Mitte“, sie hat in diesem Jahr, gerade auch aus einer internationalen Perspektive, Hochkonjunktur – wenn nicht in Form guter Wahlergebnisse, dann jedenfalls in Form gesteigerter Aufmerksamkeit, die sich in der Regel aus der Sorge um ihre vermeintliche oder tatsächliche Erosion in vielen Demokratien weltweit speist.
Was aber ist gemeint, wenn von „politischer Mitte“ gesprochen wird? Wie kann man sie bestimmen? Wer sind ihre Gegner? Und was ist zu ihrer Stärkung zu tun? Erschöpfende Antworten hierauf kann auch diese Ausgabe der Auslandsinformationen nicht liefern. Was sie aber bietet, sind fundierte Fallstudien auch aus regionalen Kontexten, die in der hiesigen Presse weniger oft beleuchtet werden.
Ein einheitliches Bild, was „die Mitte“ ausmacht, ergibt sich aus diesen Studien nicht, und das kann kaum überraschen. In Indien gelten andere Maßstäbe für eine „mittige Politik“ als etwa in Chile, wie die Artikel von Lewe Paul und Ashutosh Nagda beziehungsweise Olaf Jacob in dieser Ausgabe zeigen. Hinzu kommt: Auch innerhalb eines bestimmten Landes können sich die Vorstellungen davon, was extrem rechts, was extrem links und was mittig ist, im Laufe der Zeit erheblich verschieben.
Dennoch lassen sich für das politische Hier und Jetzt Gemeinsamkeiten herausarbeiten, die Mitte-Parteien von den Kräften an den Rändern des politischen Spektrums – jedenfalls in der Tendenz – unterscheiden. So ist die Mitte eher um Integration bemüht, die Ränder neigen zur Spaltung und befeuern diese oft bewusst. Parteien der Mitte und deren Personal mögen klare eigene Positionen haben, wissen aber auch, dass in pluralen Gesellschaften Kompromisse nötig sind und zum normalen demokratischen „Geschäft“ gehören. Extreme politische Kräfte dagegen betrachten Kompromisse häufig als Verrat. Sie überzeichnen gesellschaftliche Konfliktlinien, identifizieren Feindgruppen – „die Elite“, Ausländer, Minderheiten aller Art. Sie fordern, den vermeintlich homogenen Willen des „wahren Volkes“ radikal durchzusetzen.
Kaum eine Partei fordert heute die Abschaffung der Demokratie. Parteien weitab der Mitte aber haben in ihrer Programmatik und – sind sie einmal an der Regierung – auch in der Praxis oft ein mindestens gespaltenes Verhältnis zur freiheitlichen, verfassungsstaatlichen Demokratie, die nicht zuletzt Minderheiten und die politische Opposition vor der „Tyrannei der Mehrheit“ schützt.
Gerade mit Blick auf die Frage, aus welcher Richtung die Bedrohung für die demokratische Mitte kommt, ist der Blick über den europäischen Tellerrand erkenntnisreich. Es ist richtig: In vielen europäischen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland selbst, stellen der Rechtspopulismus und -extremismus derzeit die größere Herausforderung für die liberale Demokratie dar. Richtig ist aber auch: In einer Region wie Lateinamerika kamen die meisten „erfolgreichen“ Angriffe auf die Demokratie im vergangenen Vierteljahrhundert von links.
Sebastian Grundberger stellt in seinem Artikel heraus, wie sich linke und linksradikale Akteure in einer ganzen „rosa Galaxie“ organisiert haben, die systematisch „ihre“ Halb- und Vollautokraten in Lateinamerika gegen internationale Kritik deckt, der demokratischen Linken immer mehr das Wasser abgräbt und sich weltpolitisch als Verbündete aller Länder versteht, die die Machtstellung westlicher Staaten und den Einfluss liberaler Werte zurückdrängen wollen. Tatsächlich eint viele, wenn auch ausdrücklich nicht alle, Parteien vom linken und rechten Rand in Lateinamerika wie Europa eine Nähe zu revisionistisch-autoritären Staaten wie Russland und China.
Auch mit Blick auf die Frage, was die demokratische Mitte in einem Land stärkt und was sie schwächt, gibt es keine einfachen Antworten. Als ein Übel in vielen Demokratien wird beispielsweise seit Jahren eine um sich greifende Polarisierung angeführt. Tatsächlich gibt es Staaten wie Georgien, in denen – wie von Stephan Malerius in seinem Beitrag analysiert – die Polarisierung zwischen den politischen Lagern ein Maß erreicht hat, das eine konstruktive Debatte um die tatsächlichen Probleme des Landes verhindert und zu enormer Unzufriedenheit in der Bevölkerung führt. Andererseits ist es wichtig, dass Parteien diesseits der politischen Ränder untereinander hinreichend unterscheidbar bleiben, wie Ludger Gruber und Martin Friedek in ihrem Beitrag mit Blick auf Spanien hervorheben.
Wenn über das Erstarken der politischen Ränder gesprochen wird, wird oft über die Rolle neuer Medien geklagt, die extreme Meinungen begünstigten, den Diskurs verrohen ließen und populistischen Parteien Auftrieb gäben. Obwohl das zutreffen mag, darf diese Feststellung den Blick auf eines nicht verstellen: Der Aufstieg populistischer Parteien ist kein reiner „Diskurseffekt“, sondern oftmals auch Folge eines „Performance-Defizits“ der Parteien der Mitte. Es gibt reale Probleme, die viele Bürger beschäftigen und auf die besagte Parteien in der jüngeren Vergangenheit keine überzeugenden Antworten geliefert haben. So sprechen Anja Czymmeck und Nele Wissmann mit Blick auf Frankreich von einem Klima des Pessimismus und von einem besorgniserregenden Verlust an Vertrauen in die etablierten politischen Kräfte. Noch ausgeprägter ist dies in Argentinien, wie Jana Lajsic in ihrem Text über den Aufstieg des „Anti-System-Kandidaten“ Javier Milei verdeutlicht. Die Beobachtung dürfte sich – in manchen Fällen abgeschwächt – auf eine Reihe weiterer Demokratien übertragen lassen.
Vor den Gefahren zu warnen, die von Populisten und Extremisten rechts wie links ausgehen, ist zwar nicht falsch. An der Breitenwirkung solcher Warnungen sind aber nach allem, was wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, Zweifel angebracht. Noch wichtiger ist es deshalb, dass Parteien der Mitte praktikable Vorschläge hinsichtlich der Themen entwickeln, die die Bürger als relevant wahrnehmen. Politikwissenschaftlich würde man sagen: Sie sollten ihre Output-Legitimität stärken, statt nur auf ihrer höheren Input-Legitimität zu beharren. Umgangssprachlich würde man sagen: Sie sollten liefern, statt mehr Energie darauf zu verwenden, sich als die besseren Demokraten zu präsentieren, selbst wenn sie es tatsächlich sind. Dass sie dabei nicht dieselben simplen „Lösungen“ wie ihre populistischen Gegner anbieten können und sollen, versteht sich von selbst. Das Mindeste aber, was die Bürger erwarten können, ist, dass Parteien aus der Mitte des Spektrums Probleme nicht deshalb verdrängen, weil sie in ihrer politischen Idealvorstellung nicht vorgesehen sind.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
Ihr
Dr. Gerhard Wahlers ist Herausgeber der Auslandsinformationen (Ai), stellvertretender Generalsekretär und Leiter der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung (gerhard.wahlers@kas.de).