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Antonin Burat, Le Pictorium, dpa, picture alliance

Auslandsinformationen

„Viele Wähler sehen in den politischen Rändern die letzte Chance auf Veränderung“

von Dr. Sören Soika, Fabian Wagener

Ein Gespräch mit den Frankreich-Expertinnen Anja Czymmeck und Nele Wissmann

Die Frankreich-Expertinnen Anja Czymmeck und Nele Wissmann sprechen im Interview mit den Auslandsinformationen über das Erstarken der Populisten, die Lage der traditionellen Parteien und die wenig ausgeprägte Kompromisskultur im Land.

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Auslandsinformationen (Ai): Wer Texte über die politische Lage in Frankreich liest, dem begegnet häufig der Begriff der Polarisierung. Starke Ränder, schwache Mitte – lässt sich Frankreich so beschreiben, auch im Vergleich zu Deutschland?

Anja Czymmeck: Zunächst muss man sagen: Eine gewisse Polarisierung ist in Frankreich zentraler Bestandteil des politischen Systems. Die fünfte Republik ist mit ihrem Mehrheitswahlrecht einfach so aufgebaut. Lange Zeit gab es zwei große Blöcke, das rechte und das linke Lager, die jeweils die Wahlen zwischen sich entschieden haben. Das hat sich geändert. In der Nationalversammlung gibt es nun drei ähnlich starke Blöcke, von denen keiner die absolute Mehrheit hat. Wir haben bei der jüngsten Regierungsfindung gesehen, dass das die Sache ziemlich kompliziert macht – auch weil es in Frankreich keine mit Deutschland vergleichbare Koalitions- und Kompromisskultur gibt. Es wird traditionell stark in politischen Polen gedacht.

Grundsätzlich kann man konstatieren, dass die Spaltung in Frankreich in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Es gibt eine große Unzufriedenheit mit der Politik, was die Bereitschaft stärkt, extreme Kräfte zu wählen. Die traditionellen Parteien, genannt werden können hier die Parti Socialiste und die Républicains, werden zunehmend verdrängt, die Ränder wachsen.

Ai: Sie haben die jüngste Regierungsbildung angesprochen. Hintergrund war das Ergebnis der Parlamentswahl, die Präsident Emmanuel Macron nach dem Europawahl-Sieg des häufig als rechtsextrem bezeichneten Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen überraschend ausgerufen hatte. Keines der Wahlbündnisse konnte eine absolute Mehrheit erringen, die Gespräche zur Regierungsbildung gestalteten sich entsprechend kompliziert. Macron ernannte schließlich den ehemaligen EU-Kommissar Michel Barnier als Premierminister, einen Politiker der Mitte-rechts-Partei Les Républicains, die bei den Wahlen ein Ergebnis von rund fünf Prozent erzielt hatte. Ist diese Lösung geeignet, politische Gräben zuzuschütten?

Czymmeck: Barnier ist ein renommierter Politiker, der einen konservativen Kurs vertritt. Macrons Entscheidung für ihn war eine pragmatische. Er wollte vermeiden, jemanden mit der Regierungsbildung zu beauftragen, der umgehend durch ein Misstrauensvotum im Parlament gestürzt worden wäre – deshalb lehnte er den Vorschlag des linken Bündnisses ab, die Spitzenbeamtin aus der Pariser Verwaltung Lucie Castets zu ernennen.

Die Gräben zuschütten wird diese Entscheidung allerdings nicht. Der linke Block fühlt sich übergangen. Dabei haben die linken Kräfte vorher mit Blick auf einen möglichen Kompromisskandidaten keinerlei Flexibilität gezeigt. Sie beharrten, obwohl sie keine ausreichende Mehrheit hatten, auf ihrer Kandidatin.

Für Barnier wird nun der Haushalt das zentrale Thema sein. Er muss einen Haushalt einbringen, der im Parlament eine Mehrheit bekommt. Dafür wird er vermutlich den Rassemblement National brauchen, der dadurch eine neue Machtstellung bekommt. Die Frage ist, wie lange diese Konstellation hält. Sollte Barnier seine Sache gut machen, könnte es sein, dass er dem RN irgendwann zu populär wird.

Ai: Sie haben die linken Kräfte erwähnt: Bei den Wahlen im Sommer traten diese ja gemeinsam in dem Bündnis „Neue Volksfront“ an, das am Ende knapp vorn lag. In Teilen der deutschen Öffentlichkeit wurde dieses Ergebnis mit großer Erleichterung aufgenommen, obwohl dem Bündnis ja auch Akteure wie Jean-Luc Mélenchon und seine Partei La France Insoumise angehören, die oft dem linksextremen Spektrum zugeordnet werden. Wie würden Sie das Bündnis bewerten?

Czymmeck: Zunächst muss man sagen, dass es eine ziemliche Überraschung war, dass dieses Bündnis vor den Parlamentswahlen zustande kam. Zuvor war die Bildung einer solchen Allianz noch gescheitert, weil die gemäßigten Kräfte nicht mit den Linkspopulisten um Mélenchon übereinkamen, die in der Nationalversammlung sehr radikal auftraten. Es ist schon ein sehr ungewöhnlicher Zusammenschluss. Die Sozialisten etwa sind pro-europäisch und eine traditionell staatstragende Partei. Sie sind jetzt in einem Bündnis mit Linkspopulisten, bei denen man das Gefühl hat, dass sie einfach gegen alles sind. Sie schießen gegen die Rentenreform, die nur unter großer Mühe zustande gekommen ist. Was den Haushalt anbelangt, haben sie teilweise wirklich verrückte Ideen, wo sie überall Geld reinstecken wollen. Da fragt man sich schon, wie das alles finanziert werden soll.

Besonders gravierend sind sicher die unterschiedlichen Auffassungen zwischen den einzelnen Bündnispartnern im Feld der Außenpolitik. Die Linkspopulisten etwa vertreten mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukraine, auf die Europäische Union, aber auch auf Israel und den Krieg in Nahost Positionen, die schwierig sind: Im Rahmen des russischen Angriffskriegs hat sich die Partei La France Insoumise gegen eine entschiedene Unterstützung der Ukraine positioniert und geriert sich als „Friedenspartei“. Die Partei treibt bewusst das Bild einer EU als bürokratisches, undemokratisches Gebilde voran. Wirtschaftspolitisch wird eine Abschaffung des EU-Stabilitätspaktes gefordert, auch Freihandelsabkommen sind eine rote Linie für die Partei. Im Nahostkonflikt gibt sie sich sehr israelkritisch und Abgeordnete fallen immer wieder durch antisemitische Äußerungen auf. Was die Europäische Union oder den Krieg in der Ukraine angeht, gibt es da übrigens durchaus inhaltliche Überschneidungen mit dem rechten Rand. Auch die Rechtspopulisten sind ausgeprägt EU- und NATO-skeptisch. Was beiden Extremen außerdem gemein ist, ist ein skeptischer Blick auf Deutschland. Beide Parteien sind für die deutsch-französischen Beziehungen sehr schwierig, da sie bewusst ein Feindbild Deutschland aufbauen.

Ai: Dass bei den Parlamentswahlen das Linksbündnis am Ende zumindest eine relative Mehrheit erringen konnte, lag nicht zuletzt daran, dass sich in vielen Wahlkreisen nach dem ersten Wahlgang die übrigen Parteien gegen die RN-Kandidaten zusammenschlossen, die den zweiten Wahlgang erreicht hatten. Von einer „republikanischen Front“ war in diesem Zusammenhang die Rede. Wie wurde denn in der rechten Mitte dieses Verfahren diskutiert, das ja in manchen Fällen auf die Unterstützung weit links stehender Kandidaten hinauslaufen konnte? Und ist dieses Verfahren eine nachhaltige Antwort auf das Erstarken der extremen Rechten?

Czymmeck: Die republikanische Front hat seit dem großen Aufwind, den der Rassemblement National – früher Front National – in Frankreich erfährt, verhindert, dass Rechtspopulisten an die Macht kommen. Inzwischen bröckelt diese Front aber deutlich. Während die Linkspopulisten für sich beanspruchen, Teil dieser Brandmauer zu sein, ist es für das bürgerlich-konservative Lager nicht vertretbar, für eine Partei wie La France Insoumise in einem zweiten Wahlgang Wahlempfehlungen auszusprechen. Für französische Wählerinnen und Wähler ergeben sich zum Teil sehr komplexe Situationen, wenn man gegen die Rechtspopulisten stimmen will, der Kandidat der Neuen Volksfront dann jedoch ein Vertreter der Mélenchon-Partei ist. Die Neuwahlen in diesem Sommer haben klar gezeigt, dass eine Wahlrechtsform in Frankreich voraussichtlich unabdingbar sein wird, wenn man die Wählerinnen und Wähler nicht komplett vor den Kopf stoßen will. Staatspräsident Emmanuel Macron hat bereits 2017 die Einführung von Elementen des Verhältniswahlrechts angekündigt. Eine Reform gab es jedoch bis heute nicht – eben weil man Angst hat, dass die Rechtspopulisten dann noch stärker im Parlament vertreten sind.

Ai: Wie erklären Sie sich den Zulauf für die politischen Kräfte ganz links und ganz rechts?

Czymmeck: Ich hatte es ja schon angedeutet: Meinem Eindruck nach herrscht in Frankreich aktuell eine pessimistische Stimmung vor. Viele Franzosen haben wirtschaftliche Sorgen, sie haben Existenzängste. Ein großes Thema im Wahlkampf war beispielsweise die Kaufkraft. Auch die Migrationsfrage ist bedeutsam, obwohl Frankreich nicht so stark von irregulärer Zuwanderung betroffen ist wie Deutschland. Das sind Themen, die die Franzosen in die Arme der extremen Parteien treiben. Dazu kommt, dass sich gerade im ländlichen Raum viele Menschen abgehängt und nicht verstanden fühlen. Die Politik wird als arrogant und abgehoben wahrgenommen. Diese Stimmungen nutzen nicht zuletzt die Rechtspopulisten aus. Die Europawahl etwa haben sie stilisiert zu einem Plebiszit über sieben Jahre Macron-Regierung – die Unzufriedenheit sollte da abgeladen werden.

Nele Wissmann: Macron ist diese Unzufriedenheit der Franzosen durchaus bewusst. Es gab ja schon vor einigen Jahren Unruhen und die Gelbwestenbewegung. Macron versuchte, da gegenzusteuern, mit neuen basisdemokratischen Instrumenten wie Bürgerräten oder Konsultationen zu Themen wie dem Klimawandel. Man hat allerdings nicht das Gefühl, dass das wirklich zielführend war, auch weil Macron sehr viele Vorschläge der Bürger einfach gestrichen hat.

Ich habe den Eindruck, dass viele Wähler in den politischen Rändern so etwas wie die letzte Chance auf Veränderung sehen. Auch Macron hat einen Anteil an der Situation. Er hat die politische Landschaft mit seiner Sammelbewegung so zerrüttet, dass wir aktuell kaum noch moderate Gegenangebote haben. Er hat auch ganz bewusst das Bild eines Duells zwischen ihm und Le Pen aufgebaut. Dann heißt es: Entweder meine Bewegung oder die Rechtspopulisten. Deswegen haben die anderen Parteien auch nur sehr wenig Platz und die Bürger haben das Gefühl, dass dies das einzige Angebot ist, was es gibt.

Ai: Schauen wir weg von den politischen Rändern. In Deutschland ist die sogenannte politische Mitte ja ein beliebter Ort, den Parteien gerne für sich reklamieren. Wie ist das in Frankreich? Welche Rolle spielt der Begriff „Mitte“ im politischen Diskurs?

Wissmann: In Frankreich waren es lange Zeit die Sozialisten sowie die Républicains beziehungsweise deren Vorgängerpartei UMP, die als Regierungsparteien die linke und rechte Mitte repräsentierten. Das Zentrum als Ort der politischen Praxis gab und gibt es also – allerdings ist es weniger üblich, sich offensiv darauf zu beziehen. Man kann vielleicht eine Partei nennen, die ihre Identität explizit mit der politischen Mitte verknüpft, die sich als Zentrumspartei sieht. Das ist die Partei MoDem, die allerdings nicht viele Wähler hat. Eine Partei wie Les Républicains sieht sich eher als rechts, die sozialistische Partei eher als links.

Czymmeck: 2017, als Macron mit seiner Bewegung so erfolgreich war und Präsident wurde, haben nicht wenige gedacht, dass er eine Art neue Mittepartei schaffen würde. Seine Bewegung verstand sich ja weder als links noch rechts. Allerdings muss man sagen, dass sich Macron inzwischen doch deutlich nach rechts bewegt hat, wenn man in diesen Kategorien bleiben will. Das hat viele überrascht.

Ai: Sie haben es eben gesagt: Viele Jahre waren es die bürgerlichen Républicains – früher unter anderen Namen – sowie die sozialdemokratisch geprägten Sozialisten, die in Frankreich dominierten und auch die Nachfrage in der Mitte bedienten. Damit scheint es vorbei zu sein. Bei der Präsidentschaftswahl 2022 kamen die Kandidatinnen der beiden Parteien lediglich auf knapp fünf beziehungsweise nicht einmal zwei Prozent der Stimmen. Auch bei den vergangenen Parlamentswahlen war man weit von der alten Stärke entfernt. Warum ist die Lage für die einstmals so prägenden Parteien so schwierig?

Wissmann: Viele Wähler sind enttäuscht und suchen polarisierende Parteien. Dazu kommt, dass es den Rechtspopulisten um Le Pen gelungen ist, Themen wie Migration und Sicherheit nahezu komplett zu besetzen. Das ist gerade für die Républicains ein riesiges Problem. Die Sozialisten wiederum geraten durch den Populismus von links unter Druck.

Ganz generell muss man natürlich sehen, dass das Parteiensystem in Frankreich deutlich volatiler ist als etwa das in Deutschland. Auch die Républicains bestehen in der jetzigen Form ja noch nicht so lange und die Vorgängerpartei war auch eine Sammelbewegung aus konservativen, christdemokratischen und liberalen Strömungen. Aktuell herrscht gerade im bürgerlich-konservativen Lager wieder viel Bewegung, aus der auch ganz neue Verbindungen hervorgehen könnten.

Ai: Können die traditionellen Parteien denn etwas tun, um ihre Lage zu verbessern?

Wissmann: Zunächst: Es ist natürlich richtig, dass eine Partei wie die Républicains auf nationaler Ebene tatsächlich große Verluste hat hinnehmen müssen. Interessant ist aber, dass es auf kommunaler und regionaler Ebene anders aussieht. Da sind die Républicains durchaus erfolgreich. Daran zeigt sich, dass eine regionale Verankerung nach wie vor wichtig ist und von Wählern geschätzt wird. Viele wollen vor Ort dann doch lieber feste Strukturen statt Parteien, die eher wie ein Start-up agieren. Darauf muss eine Partei wie die Républicains setzen.

Czymmeck: Natürlich ist die Lage für die traditionellen Parteien schwierig. Im Parlament stellt inzwischen der Rassemblement National von Le Pen als stärkste Einzelpartei die meisten Abgeordneten. Aber wie wir bereits diskutiert haben, hat das seine Gründe. Wenn es der neuen Regierung um Michel Barnier gelingt, vernünftige Politik zu machen und dem Land Stabilität zu geben, kann daraus etwas erwachsen.

Ai: Es waren absehbar die letzten Wahlen mit Emmanuel Macron als Präsident. Was aus seiner politischen Bewegung ohne ihn wird, ist kaum abzusehen. Kann man heute überhaupt seriös abschätzen, wo Frankreich in fünf Jahren politisch stehen wird?

Czymmeck: Dafür bräuchte man eine Glaskugel. Das Parteiensystem ist stark in Bewegung. Anders als in Deutschland ist es in Frankreich auch so, dass die Zugehörigkeit eines Politikers zu einer Partei deutlich loser ist. Parteienwechsel sind viel häufiger. Das erschwert Vorhersagen. Es wird erstmal interessant zu beobachten sein, wer sich an der Spitze von Macrons Partei Renaissance durchsetzen wird. Insgesamt schreckt schon auf, wie gespalten die politische Landschaft ist.

 

Die Fragen stellten Sören Soika und Fabian Wagener.

 


 

Anja Czymmeck ist Leiterin des Auslandsbüros Frankreich der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Nele Wissmann ist Beauftragte für Analyse, Bilaterale und Europäische Angelegenheiten im Auslandsbüro Frankreich der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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